Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 7

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20:14 h

„Das wird für Sie alle Konsequenzen haben“, fauchte der Chefarzt. Sein Kopf war knallrot wie der Porsche von Dr. Braun. Nicht nur von dem schweren Bordeaux, von dem er reichlich intus hatte; Prof. August Dombach war außer sich vor Zorn. So ein Skandal – und das am Weihnachtsabend! Die gebratene Gans war noch nicht ganz verzehrt, da wurde er wegen eines angeblichen Notfalls ins Krankenhaus zitiert. Schöner Notfall!, dachte er. Eine unerhörte Schlamperei ist das, was sich seine Mitarbeiter da geleistet haben. Von nichtsnutzigen Idioten bin ich umgeben. Was haben die eigentlich den ganzen Nachmittag getrieben? Jedenfalls nicht nach ihren Patienten geschaut, wie es ihre Aufgabe gewesen wäre. Diesen Schlendrian werde ich nicht länger dulden. Von jetzt an, beschloss der Chefarzt, werde ich andere Saiten aufziehen. „Wie konnte das überhaupt passieren?“, herrschte er Oberschwester Gertrud an.

Schwester Ellen blickte ängstlich zu ihr hinüber und hielt den Atem an. Jetzt ist alles aus, dachte sie und war erneut den Tränen nahe.

„Ich hab' keine Ahnung, Herr Professor“, sagte die Angesprochene. „Der Patient muss es irgendwie geschafft haben seine Fixierung zu lösen.“

Schwester Ellen erstarrte mit offenem Mund. Die Oberschwester hatte sie also nicht verraten. Aber so war sie eben. Auf ihre Station ließ Schwester Gertrud nichts kommen. Ellen schenkte ihr ein verstohlenes Lächeln.

Auch Dr. Alexander Braun sperrte den Mund weit auf und wollte schon protestieren. Da warf ihm Schwester Gertrud einen warnenden Blick zu: Halt' die Klappe, wollte sie damit sagen, oder ich bring' dich eigenhändig um. Da klappte der Assistenzarzt seinen Mund wieder zu.

„Irgendwie geschafft, irgendwie geschafft!“, äffte Prof. Dombach die Oberschwester nach. Er konnte sich mit dieser Erklärung nicht so leicht zufriedengeben. „Das wäre ja das erste Mal. Haben wir es hier mit einem Entfesselungskünstler zu tun?“, höhnte er. „So einer Art Houdini oder was? Wohl kaum. Sonst wäre Herr Karabük mit dieser Nummer im Zirkus aufgetreten.“ Der Professor stieß ein humorloses Lachen aus.

Schwester Gertrud zuckte die Achseln.

„Also wirklich, Herrschaften.“ Dombach schüttelte beinahe resigniert den Kopf. „Hat denn keiner von Ihnen etwas bemerkt?“

Die Schwestern und Pfleger Manfred schüttelten energisch die Köpfe. Der junge Assistenzarzt schaute nur betreten zu Boden.

„Dr. Braun, Sie hatten doch die Aufsicht“, sagte der Boss.

Alex nickte stumm und fühlte erneut den warnenden Blick von Schwester Gertrud auf sich ruhen. Er suchte verzweifelt einen Ausweg aus dieser Zwickmühle. Einerseits wollte er um jeden Preis verhindern, dass die Sache am Ende an ihm hängen bliebe. Andererseits konnte er die Mauer der Solidarität mit Schwester Ellen nicht durchbrechen ohne sich das gesamte Pflegepersonal zum Feind zu machen. „Gegen fünf Uhr war ich sogar noch in Herrn Karabüks Zimmer“, log er deshalb. „Er hatte nach dem Abendessen über Schmerzen in der Magengegend geklagt.“

„Und?“, drängte der Professor.

„Ich hab' ihm ein Metifex gegeben.“

„Davon rede ich nicht“, raunzte Dombach. „Ich meine natürlich: Was war mit der Fixierung?“

„Also, zu diesem Zeitpunkt schien noch alles in Ordnung zu sein. Die Handgelenke steckten in den Schlaufen, wie es sich gehört.“

„Wie es sich gehört. So so. Und warum ist Herr Karabük danach spurlos verschwunden?“

„Dafür hab' ich leider keine Erklärung, Herr Professor.“

„Keiner von uns“, schob Schwester Gertrud nach.

„Hatte er so spät noch Besuch?“

„Nein, die Besuchszeit war schon vorbei.“

„Und wir haben überall nach ihm gesucht“, meldete sich jetzt Schwester Ursula zu Wort.

„Die ganze Klinik auf den Kopf gestellt“, bestätigte Schwester Eva.

„In jeden Winkel geschaut“, sagte Manfred.

„Sogar in die Wäschekörbe.“ Auch die blonde Ellen hatte endlich ihre Sprache wiedergefunden. „Ich hab' mal einen Film gesehen“, plapperte sie nun munter drauflos, „da haben sie einen Patienten mit der schmutzigen Wäsche aus der Geschlossenen Abteilung geschmuggelt...“

„Ja, ja, schon gut.“ Die Oberschwester gab ihr ein Zeichen, dass sie den Mund halten sollte. „Im Foyer ist mir zwar ein Mann begegnet, der auf den ersten Blick aussah wie Ahmed Karabük, aber eben nur auf den ersten Blick.“

„Wo kann er wohl hin sein?“, wollte Dombach wissen.

„Nach Hause, zu seiner Familie wahrscheinlich“, meinte Manfred.

„Hat er denn eine?“

„Ja, eine Frau und einen kleinen Sohn, soviel ich weiß“, sagte Schwester Ellen. „Die kamen ein paar Mal zu Besuch. Richtig süß war der Kleine.“

„Na, dann los, los! Finden Sie die Adresse heraus und erkundigen Sie sich, ob Herr Karabük dort ist.“ Prof. Dombach schüttelte wieder den Kopf. Musste er denn alles selber machen? Darauf hätten sie doch wirklich von alleine kommen können.

„Tut mir Leid. Fehlanzeige“, sagte Schwester Gertrud, als sie drei Minuten später vom Telefonieren zurückkam. „Bei seiner Frau ist er nicht. Sagt sie jedenfalls. Ich hatte aber nicht das Gefühl, dass sie lügt. Sie wirkte auf mich total überrascht.“

„Mhmm“, machte der Chefarzt. „Haben Sie sonst noch eine Ahnung, wo er sein könnte?“

Die Oberschwester legte die Stirn in Falten. „Ich fürchte, nein.“

„Vielleicht sollten wir jetzt endlich die Polizei verständigen“, meinte Manfred Gerling und wurde dabei von Schwester Ursula durch heftiges Nicken unterstützt.

Dombach aber zögerte und wandte sich an seinen Assistenten: „Wie gefährlich ist der Patient?“

„Ich weiß nicht recht. Er könnte wieder einen Suizidversuch wagen...“

„Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit?“

„Tja...“

„Sehr hoch oder nicht sehr hoch? Sie haben den Mann doch behandelt, Dr. Braun.“

„Nicht allzu hoch, glaube ich“, sagte Alex, um etwas zu sagen, aber ohne echte Überzeugung. In Wahrheit nämlich war Ahmed Karabük für ihn ein ungelöstes Rätsel. Alex hatte erlebt, wie der Selbstmörder vor einer Woche eingeliefert worden war. Der junge Türke hatte ein ganzes Röhrchen Schlaftabletten geschluckt und sich zusätzlich mit einer Rasierklinge die Pulsadern aufgeschlitzt. Sie mussten ihm den Magen auspumpen und die Wunden bandagieren. Zum Glück hatte Karabük nicht allzu viel Blut verloren. In den ersten Tagen danach war er Alex sehr ruhig, ja geradezu apathisch, erschienen. Vom dritten Tag an hatte er seltsame Dinge vor sich hin gemurmelt: wirres Zeug von Kameras, die ihn ständig überwachten, von Männern in Trenchcoats, die ihn verfolgten und beobachteten. Als Alex ihn gefragt hatte, wer die Männer seien und was sie von ihm wollten, war Karabük völlig ausgeflippt, hatte ihn an der Gurgel gepackt und zu würgen versucht. Deshalb hatte Alex angeordnet, dass der Patient starke Beruhigungsmittel erhält und an sein Bett gefesselt wird. Mit Erfolg, denn von nun an war Karabük nicht mehr aufgefallen, hatte sich scheinbar in sein Schicksal ergeben.

„Herr Karabük war in den letzten Tagen schon wieder richtig gut drauf“, steuerte Schwester Ellen bei. „Er hat sogar versucht mit mir zu flirten.“

Prof. Dombach schenkte ihr keine Beachtung. „Richtet sich denn seine Aggressivität nur gegen die eigene Person oder auch gegen Dritte?“, wollte er von seinem Assistenzarzt wissen.

„Ich denke nicht“, log Alex weiter. „Das wäre bei einem Suizid-Patienten sehr ungewöhnlich, Herr Professor.“

„Belehren Sie mich nicht. Das weiß ich selbst.“ Dombach überlegte eine kurze Weile. Dann fuhr er fort: „Also, wenn ich Sie richtig verstehe, stellt der Entflohene momentan weder für sich selbst noch für seine Umwelt eine ernsthafte Gefahr dar.“

Der junge Doktor deutete ein zustimmendes Nicken an.

„Wozu dann die Polizei hinzuziehen?“, fragte sein Chef. Er wollte um jeden Preis einen öffentlichen Skandal vermeiden. Zu oft hatte die Psychiatrische Klinik Biedenstadt in den letzten Jahren für negative Schlagzeilen gesorgt. Gleich drei Mal waren Patienten aus der Geschlossenen Abteilung geflohen. Dombachs Kollege, Prof. Collani, hatte deshalb seinen Hut nehmen müssen. Auch der Gesundheitsminister war Ziel öffentlicher Attacken geworden. Die Presse hatte sogar seinen Rücktritt gefordert. Eine weitere Panne – und sei sie noch so unbedeutend – würde das Fass zum Überlaufen bringen. Darüber machte sich Prof. Dombach keine Illusionen. Egal, ob sie wieder drüben in der Geschlossenen oder hier in der Offenen Abteilung passierte. Das war doch den Zeitungsfritzen egal! Er allein konnte das Schlimmste noch verhindern, indem er das jüngste Missgeschick vor diesen Hyänen verheimlichte. Ja, das war die einzige Chance, um die Klinik aus den Schlagzeilen herauszuhalten. Das war seine einzige Chance. Und deshalb musste er zunächst einmal auf Zeit spielen. „Am besten warten wir bis morgen“, sagte er in die erstaunte Runde. „Vielleicht kommt dieser Karabük ja von alleine wieder zurück.“

Stille Nacht, höllische Nacht

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