Читать книгу Stille Nacht, höllische Nacht - Thomas R. Behrendt - Страница 23
Оглавление00:18 h
„Ich geh' noch mit dem Hund Gassi!“ Der Rentner Siegmund Wronka stand schon im Treppenhaus und befestigte die Leine an Bertis Halsband.
„Sigi, hast du deinen Hut aufgesetzt?“ Seine Frau Ilse kam an die Tür, sah und nickte dann zufrieden. „Du weißt ja, es ist kalt draußen.“ Sie streichelte den Hund. „Stimmt's, Berti?“ Der Foxterrier wedelte mit dem Schwanz.
„Ja, natürlich. Spätestens in zwanzig Minuten sind wir wieder da.“ Wronka zog an der Leine und gab Berti damit ein Zeichen zum Aufbruch.
Als der Hund die weiße Pracht vor dem Haus sah, sprang er vor Freude in die Luft. Berti liebte Schnee und tollte für sein Leben gern darin herum.
„Na, das macht dir wohl Spaß, Kleiner?“ Sein Herrchen freute sich mit.
Berti stieß ein lautes Gebell aus und verfiel in ein strammes Lauftempo. Siegmund Wronka hatte Mühe ihm zu folgen. „Nicht so schnell, Berti!“ Der Rentner versuchte seinen Hund zu bremsen. „Ein alter Mann ist doch kein D-Zug!“
Aber Berti war so leicht nicht zu stoppen. Er kannte den Weg auswendig. Jeden Abend drehten die beiden gemeinsam ihre Runde. Jedes Haus, jeden Baum, jeden Laternenpfahl betrachtete Berti als sein persönliches Eigentum. Und wehe, ein Artgenosse kam ihm in die Quere! Dann konnte der Foxterrier zum Bullterrier werden.
Von der Kirchgasse führte ihre allabendliche Route über die Lindenallee zum Bahnhofsplatz, dann marschierten sie ein Stück an den Gleisen entlang. In Höhe der Gerichtsstraße bogen sie links ab und folgten ihr bis zur Turmstraße, die am Ende wieder in die Kirchgasse überging. Normalerweise war die Strecke in fünfzehn bis zwanzig Minuten bequem zu bewältigen. Doch bei diesen Wetterverhältnissen würden sie länger brauchen. Deshalb liebäugelte Siegmund Wronka mit einer Abkürzung. Anstatt die Lindenallee bis zum Bahnhof zu laufen, wollte er auf halbem Weg in die Richard-Wagner-Straße einbiegen. Die Rechnung allerdings hatte er ohne seinen Hund gemacht. Berti bestand auf seiner Route. Er jaulte, winselte und zerrte an der Leine, bis sein Herrchen endlich nachgab.
„Also schön, Berti. Gehen wir eben die große Runde. Mutti wird sich zwar wundern, wo wir so lange bleiben, aber das macht ja nichts.“
Der Foxterrier hüpfte wieder vor Freude in die Luft und dann in großen Sätzen auf eine Linde zu. Er beschnupperte sie, hob kurz das Bein, schüttelte die frisch gefallenen Schneeflocken aus seinem Fell, bevor er zur nächsten Linde hechelte. Dieses Ritual vollzog er an jedem Baum bis hinauf zum Bahnhofsplatz.
Als sie näher kamen, erkannte Wronka ein Polizeiauto mit blinkendem Blaulicht. Es parkte vor dem Bahnhofsgebäude. Zwei Beamte liefen davor auf und ab. Einer von ihnen sprach in ein Walkie-Talkie, der andere führte einen großen Schäferhund an der Leine.
Plötzlich brach Berti in ein wütendes Gekläff aus. Was hatte dieser fremde Köter in seinem Revier verloren?! Ohne die geringsten Anzeichen von Furcht machte er einen großen Satz auf den Schäferhund zu.
„Hier geblieben!“, fuhr sein Herrchen ihn an. Wronka war besorgt um seinen kleinen Liebling und fasste die Leine fester. Berti kämpfte und zerrte. Nur der große Polizeihund blieb cool und ließ sich nicht provozieren. Im Gegenteil. Er würdigte Berti keines Blickes.
„Komm', Hadrian“, sagte sein Hundeführer. „Wir machen jetzt Feierabend.“
Siegmund Wronka nahm Berti vorsichtshalber auf den Arm und ging auf die beiden Polizisten zu. „Guten Abend, die Herren, und fröhliche Weihnachten.“
Der Hundeführer nickte ihm freundlich zu. Sein Kollege hantierte weiter mit dem Funkgerät herum.
„Na, so spät noch im Einsatz?“, fragte der Rentner. „War wohl kein ruhiger Heiligabend für Sie?“
„Nicht direkt“, antwortete der Hundeführer und befahl Hadrian: „Sitz!“
„Wieder mal auf Verbrecherjagd, was?“, sagte Wronka und lachte. Dann fügte er in verschwörerischem Ton hinzu: „Es geht mich ja nichts an, aber was genau suchen Sie denn?“ Er deutete auf Hadrian. „Sie und dieser Prachtkerl hier.“
Der Hundeführer war einem Plausch offenbar nicht abgeneigt: „Wir fahnden nach diesem Taximörder.“
„Taximörder?“, fragte Wronka erstaunt. „Davon hab' ich noch gar nichts gehört. Hier bei uns in Biedenstadt?“
„Ja. Heute am frühen Abend ist es passiert. Da unten in der Lindenallee.“ Er deutete in die angegebene Richtung. „Gar nicht weit von hier.“
„Und haben Sie ihn schon erwischt?“
„Nein. Angeblich soll der Täter zum Bahnhof geflüchtet sein. Fast zwei Stunden haben Hadrian und ich das ganze Gelände abgesucht, aber der Kerl ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Wir haben den ganzen Abend vor dem Fernseher gesessen, meine Ilse und ich, und gar nichts davon mitbekommen. Stimmt's, Berti?“ Er strich seinem Hund zärtlich über den Kopf. Aber Berti sträubte sich und funkelte seinen Nebenbuhler immer noch mit bösen Augen an.
„Wir packen jetzt ein“, sagte der Polizeibeamte. „Es hat keinen Sinn mehr. Selbst wenn der Täter wirklich hier war – was ich persönlich bezweifle – dann sind seine Spuren vom Neuschnee längst überdeckt. Bei diesem Wetter ist sogar unsere Supernase überfordert.“
Der Schäferhund gab einen resignierten Laut von sich und erhielt jetzt auch seine Streicheleinheit. Der eifersüchtige Berti strampelte mit den Beinen.
„Na, dann wollen wir mal weiter“, sagte Wronka. „Ich wünsche Ihnen noch viel Erfolg.“
„Danke.“ Der Hundefüher gab Hadrian einen Klaps auf den Po und öffnete die Heckklappe des Polizeiautos. „Auf geht’s, Alter, 'rein mit dir.“
Siegmund Wronka setzte Berti wieder ab und ließ ihn von der Leine. Dann folgte er dem schmalen Fußweg neben den Bahngleisen Richtung Norden. Berti hatte den bösen Schäferhund längst vergessen und war nun ganz in seinem Element. Ohne auf das fortgeschrittene Alter seines Herrchens Rücksicht zu nehmen, rannte er voraus, immer weiter, bis die Dunkelheit ihn verschluckt hatte.
Zunächst machte sich Wronka überhaupt keine Gedanken. Berti kannte ja den Weg. Spätestens in Höhe der Gerichtsstraße würde der Foxterrier auf ihn warten. Deshalb sah er keinen Grund zur Eile. Trotz der klirrenden Kälte spazierte er gemächlichen Schrittes den verschneiten Weg entlang und genoss die herrliche Stille, die ihn umgab.
Der Schnee schluckte jedes Geräusch. Normalerweise sind auch am späten Abend die verschiedensten Lärmquellen zu hören, ging es dem Rentner durch den Kopf. Das Hupen von Autos, das Pfeifen von Lokomotiven, das Dröhnen von Stereoanlagen und das Bellen von Hunden.
Apropos Hunde, dachte er. Berti könnte sich langsam wieder mal blicken lassen.
Doch als er die Stelle erreicht hatte, wo sie in die Gerichtsstraße abbiegen mussten, war Berti immer noch spurlos verschwunden. Sein Herrchen steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus. Dann rief er laut den Namen des Hundes.
Als Berti auch nach mehrmaligem Pfeifen und Rufen nicht auftauchte, begann Siegmund Wronka sich Sorgen zu machen. Ihm wird doch nichts passiert sein?, dachte er und überlegte, was er nun noch unternehmen könnte. Da hörte er plötzlich ein heftiges Schnaufen. Es drang aus einem Gestrüpp etwa zwanzig Meter entfernt. Er ging langsam darauf zu und rief noch einmal: „Berti, kleiner Racker, wo steckst du denn?“
Der Foxterrier antwortete mit einem beunruhigenden Gejaule.
„Komm' jetzt, Berti. Bei Fuß!“
Berti machte ein paar Sätze durch den hohen Schnee auf ihn zu. Da erkannte der Rentner, dass sein Hund etwas im Maul hatte und hinter sich her schleifte. Etwas Großes, bei der Dunkelheit und Entfernung zunächst noch Undefinierbares. Siegmund Wronka machte jetzt auch ein paar Schritte auf Berti zu. „Was hast du denn da?“ Er beugte sich zu dem Vierbeiner hinab. „Aus!“
Berti ließ das große Etwas fallen und schaute mit wedelndem Schwanz zu seinem Herrchen hoch.
„Eine Trainingsjacke“, stellte Wronka verwundert fest. „Wo hast du die denn her?“ Sie gehört sicher einem von diesen Tschoggern, dachte er, hob die Jacke auf und nahm sie genauer in Augenschein. „Oh, mein Gott!“, stieß er plötzlich hervor. „Das Ding ist ja voller Blut!“ Angeekelt ließ er die Sportjacke zu Boden fallen. „Los, Berti, zeig' mir, wo du sie her hast.“
Der Hund verstand sofort und sprang wieder auf das Gestrüpp zu. Siegmund Wronka folgte ihm, so schnell er konnte.
Es war ein beinahe undurchdringliches Dickicht aus dornigem Geäst. Die Zweige zerkratzten dem Rentner das Gesicht, als er sich immer tiefer hinein kämpfte. Er stolperte mehrmals und fluchte ebenso oft, bis er endlich am Ziel war. Berti begann wieder mit seinem beunruhigenden Gejaule und ging dann zu einem jämmerlichen Gewinsel über.
Siegmund Wronka konnte in der Finsternis, die ihn umgab, so gut wie nichts erkennen. Er nahm seine Brille ab und wischte sie mit dem Taschentuch trocken. Das half allerdings auch nicht viel. Erst als sich seine Augen nach einer Weile an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wurde ihm klar, was er da entdeckt hatte. „Oh, mein Gott!“, stieß Wronka wieder hervor. „Da liegt ja ein Mann! Und er ist voller Blut.“ Der Rentner stieß den Körper des Mannes mit dem Fuß an, aber er bewegte sich nicht. Dann ging er in die Knie und begann zu rütteln. Immer noch nichts. Ein gewaltiger Schreck fuhr ihm in die Glieder. Sein Herz pochte laut und immer schneller. Das Blut in seinen Schläfen pulsierte wild. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und rang mühsam um Fassung. Die ängstlichen Hundeaugen, die zu ihm aufblickten, waren dabei keine große Hilfe. „Was sollen wir jetzt tun, Berti?“, stammelte er. „Der Mann ist tot.“
Der Foxterrier jaulte wieder kurz auf.
„Ein toter Mann in Unterwäsche...“