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24.12.2001

16:55 h

„Überraschung!“

Martin Wittkowsky knipste das Nachttischlämpchen an und drehte sich langsam um. Eine Sekunde blieb er starr vor Staunen. Dann brach er in schallendes Gelächter aus. Vor der offenen Badezimmertür stand eine wundersame Gestalt. Sie war in einen wallenden roten Mantel gehüllt, der ihr bis zu den Knien reichte. Auf dem Kopf trug sie eine ebenso rote Zipfelmütze, unter der blonde Locken hervorlugten.

„Fröhliche Weihnachten“, sagte Manuela und riss den roten Mantel weit auf. Sie hatte nichts drunter.

„Hey“, lachte Martin weiter, „da muss ich ja vor Scham erröten.“ Er streckte seine Arme nach ihr aus und zog sie zu sich herab. „Komm' her, du Weihnachtsmann.“

Manuela leistete nur kurz Widerstand, dann ließ sie sich bereitwillig aufs Bett sinken.

„Fröhliche Weihnachten“, sagte jetzt auch Martin und rückte näher an sie heran, bis er mit der Zunge ihr rechtes Ohr erreichen konnte. Er begann zärtlich daran zu lecken.

„Ich hab' noch eine weitere Überraschung für dich“, flüsterte Manuela geheimnisvoll.

„Ich hab' auch eine Überraschung für dich.“

„Echt? Was ist es denn?“ Ihre Neugier war geweckt.

„Du zuerst.“

„Nein, du.“ Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, versetzte sie ihrem Freund einen sanften Stoß in die Rippen.

„Nur wenn du den ganzen Abend bei mir bleibst.“

Manuela richtete sich jetzt abrupt auf und schüttelte verständnislos den Kopf. „Aber du weißt doch, dass das nicht geht. Das kann ich meinen Eltern nicht antun am Heiligen Abend. Unmöglich. Außerdem kommen meine Schwester und mein Schwager mit dem Kleinen. Ich hab' ihn bestimmt ein halbes Jahr nicht gesehen. Und er ist doch mein Patenkind.“

„Ich weiß, aber...“

„Wie oft haben wir das Thema schon durchdiskutiert?“, fragte Manuela. „Anscheinend willst du mich nicht verstehen.

„Deinen Eltern kannst du es nicht antun“, sagte Martin, ohne auf ihre Frage einzugehen, „aber mir schon? Seinen Freund kann man am Heiligen Abend ruhig sitzenlassen – oder was?“

„Jetzt bist du wirklich unfair. Du kannst ja mitkommen. Das hab' ich dir immer wieder angeboten.“

„Mitkommen?“ Martin schaute sie an, als hätte sie ihm einen unsittlichen Antrag gemacht. „Du weißt genau, dass ich dazu keinen Bock hab'.“

„Wieso nicht?“

„Das ganze weihnachtliche Getue – nein danke. Ich würde mich total unwohl fühlen in eurem trauten Familienkreis. Wie ein Fremdkörper. Wie das fünfte Rad am Wagen.“

„Quatsch! Meine Eltern mögen dich doch.“

„Dann haben sie eine merkwürdige Art es zu zeigen. Vor allem dein Vater.“

„Nur weil du immer gleich mit Politik anfängst.“

„Man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen.“

„Aber nicht auf so provozierende Art.“

„Dein Vater ist einfach vollkommen intolerant.“

„Du kennst ihn eben nicht richtig.“

„Gut genug.“

„Nur weil er mal eine Bemerkung über deine lange Mähne gemacht hat.“

„Nicht nur.“

„Und weil er deine Verschwörungstheorien ablehnt.“

„Er nimmt mich eben nicht ernst.“

„Hhm.“ Manuela hatte die Diskussion jetzt satt. Sie war überzeugt, dass Martin ihrem Vater Unrecht tat. „Wie du willst“, sagte sie deshalb nur, „dann bleib' eben hier.“ Und nach einem kurzen Moment beiderseitigen Schweigens: „Außerdem bin ich ja nur für ein paar Stunden weg. Spätestens um zehn komme ich wieder heim.“

„Aber keine Minute später!“

Vergeblich suchte Manuela in Martins Augen den weichen Kinderblick, den sie so sehr liebte. Doch sein Blick blieb hart. Und sie konnte seinen Ärger sogar ein bisschen verstehen. Wie gerne wäre sie geblieben, aber Weihnachten gehörte nun mal der Familie. Das war schon immer so. An Heiligabend versammelten sich die Herders unterm festlich geschmückten Weihnachtsbaum, sangen Weihnachtslieder, packten Weihnachtsgeschenke aus und machten sich anschließend über den Weihnachtsbraten her. Das würde auch so bleiben, bis Manuela irgendwann mal eine eigene Familie hätte. Vielleicht schon im nächsten Jahr, überlegte sie. Denn sie war schwanger. Sie wusste es erst seit ein paar Tagen. Sie hatte den Test gemacht, und er war positiv ausgefallen.

Martin wusste es noch nicht. Eigentlich hatte sie es ihm heute sagen wollen. Doch sie hatte Bedenken. Bedenken, dass er sich über das Baby nicht so freuen würde wie sie. Denn für seine fast fünfundzwanzig Jahre war ihr Freund noch ziemlich unreif. Ein Kindskopf. Ein liebenswerter zwar, aber eben ein Kindskopf. Irgendwie konnte sie sich Martin als verantwortungsvollen, treusorgenden Vater nicht so recht vorstellen. Er studierte Geografie im neunten Semester. Es war ein Fernstudium. Kein Ende absehbar. Ansonsten jobbte er so herum, um sich finanziell über Wasser zu halten

Und er hatte zu viele andere Dinge im Kopf. Vor allem seine Motorräder. Drei Stück standen unten in der Garage. Nur eines fahrbereit, die beiden anderen mehr oder weniger Schrotthaufen. Doch er setzte alles daran, sie zum Laufen zu bringen. Er verbrachte seine ganze Freizeit damit. Stunden. Tage. Wochen. Meistens hatte er ölverschmierte Hände, immer hatte er schwarze Ränder unter den Fingernägeln. Und ihre kleine Wohnung war voll mit Modellen. Sämtliche Regale. Sein Schreibtisch. Sogar auf dem Fußboden standen Miniatur-Motorräder herum. Okay, ein Hobby braucht schließlich jeder, dachte Manuela, aber Martin und seine Motorräder, das kam ihr manchmal schon ein wenig übertrieben vor. Außerdem hatte er noch andere zeitraubende Hobbys: Er spielte Schlagzeug in einer Band und Basketball im Verein. Mindestens einmal die Woche zog er mit seinen Kumpels um die Häuser. Ohne Manuela selbstverständlich. Sie fragte sich, ob in seinem Leben überhaupt Platz war für sie und das Baby. Und es ärgerte sie deshalb umso mehr, dass Martin so wenig Verständnis aufbrachte, wenn sie ausnahmsweise mal ihr eigenes Programm durchziehen wollte. So wie heute Abend.

Jetzt stand sie auf, legte den roten Mantel und die Zipfelmütze ab, dann zog sie langsam ihre Jeans und ihren gestreiften Pullover an.

Martin blieb auf dem Bett liegen. Er war sauer. Mit Weihnachten hatte er zwar nicht viel am Hut, aber allein sein am Heiligen Abend, das wollte er auch nicht. Seine Eltern waren geschieden, und er hatte kaum noch Kontakt zu ihnen. Der Vater war beruflich im Ausland. Die Mutter wohnte bei ihrem neuen Liebhaber, rund fünfhundert Kilometer entfernt. Eine Karte hatte sie ihm zu Weihnachten geschrieben: „Ich hoffe, dir geht’s gut, mein Junge. Melde dich mal wieder!“ Ja, das würde er tun. Irgendwann. Aber nicht heute. So sentimental war er nun auch wieder nicht. Vielleicht im neuen Jahr.

Martin sah Manuela wortlos zu, wie sie sich fertig machte zum Gehen. Er hasste Familienfeste. Und er konnte überhaupt nicht verstehen, warum ihn Manuela heute Abend im Stich ließ. Sie hätten es sich in ihrer gemeinsamen Wohnung gemütlich machen können. Vielleicht zusammen etwas kochen oder eine Pizza bestellen. Und danach – ja, da wäre ihm auch schon was eingefallen. Aber das schien ihr egal zu sein. Familie und Tradition waren ihr eben wichtiger. Und dann natürlich ihr Pflichtbewusstsein. Es gehörte zu Manuelas typischen Eigenschaften. Wurde ihr wahrscheinlich auf der Arbeit eingetrichtert. Bei der Bahn. Trotz Privatisierung hatten sie da eben immer noch die alte Beamtenmentalität. Und Manuela liebte ihren Job. Das hatte sie ihm oft genug erzählt. Am liebsten machte sie den Schalterdienst am Bahnhof. Fahrkarten verkaufen. Mit Menschen zu tun haben. Dabei konnte das alles gar nicht so aufregend sein für jemanden mit Abitur wie sie. Einmal Köln und zurück. Wie bitte, 18 Mark? Für die paar Kilometer? Martin hatte Manuela mehrmals bei der Arbeit besucht. Viele Bahnkunden ließen an ihr den Frust ab, wenn sie sich über den Fahrpreis ärgerten oder über den Zug, der wieder mal Verspätung hatte. Aber Manuela blieb immer freundlich. Und doch bestimmt. So wie jetzt gerade.

Ach, sollte sie doch abhauen! Er würde sich auch ohne sie amüsieren.

„Tschüss dann“, sagte Manuela knapp und kramte in ihren Manteltaschen nach dem Autoschlüssel. „Ich muss jetzt. So gegen halb zehn/zehn bin ich wieder zurück.“

„Meinetwegen. Mach', was du willst.“ Martin wälzte sich im Bett zur Seite, starrte die Wand an und schmollte still vor sich hin.

Manuela zögerte einen Moment und unterdrückte den Wunsch ihm einen Abschiedskuss zu geben. Als keine Reaktion mehr von ihm kam, verließ sie missmutig die Wohnung, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Er ist neidisch, dachte sie, als sie im Treppenhaus stand. Neidisch, weil er selbst keine Familie hat, die er zu Weihnachten besuchen kann. Und er tat ihr sogar ein bisschen Leid. Vielleicht würde er sich doch über eine eigene kleine Familie freuen? Ich muss es ihm sagen. So bald wie möglich. Am besten heute noch.

Draußen schneite es. Dicke Flocken fielen vom Himmel. Die frische Schneedecke in Röhrdorf war schon mindestens zehn Zentimeter hoch. Eine weiße Weihnacht. Die erste seit vielen Jahren. Manuela war noch ein Kind gewesen, als zum letzten Mal an den Feiertagen Schnee gelegen hatte. Ein seltsames Hochgefühl kam in ihr auf. Sie stieg in ihren VW-Polo, startete den Motor und fuhr vorsichtig, ganz vorsichtig, zum Haus ihrer Eltern.

Stille Nacht, höllische Nacht

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