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VON ROH BIS GAR
ОглавлениеZahlreiche Gemüse werden roh verzehrt. Der Biss in eine rohe, frisch aus der Erde gezogene Möhre, eine frische, leuchtend rote Paprikaschote oder in einen Kohlrabi sind Genüsse, die sich meist schon in der Kindheit einprägen. Bei vielen Gemüsearten gibt es kaum Vorbehalte, sie roh zu essen – nur individuelle Grenzen, denn nicht alle mögen Brokkoli, Pastinaken oder Rote Bete im Rohzustand. Beim Rohverzehr fällt sofort eine Eigenschaft auf, die allen Gemüsearten gemein ist: Rohes Gemüse knackt beim Essen im Mund. Rohes Fleisch hingegen ist weich und zart. Schon dieser Vergleich zeigt, dass Gemüse und Fleisch anders aufgebaut sind. Gemüse liegt eine andere Zellstruktur zugrunde. Das bedeutet, dass bei Gemüse andere Zubereitungsprozesse wichtig sind und andere Definitionen für „roh“ gelten als bei Fleisch und Fisch.
Eine Definition des Zustands „roh“ scheint auf den ersten Blick naheliegend: Lebensmittel, die nicht gekocht werden, sind „roh“. Doch ganz so einfach ist es nicht. Im unteren Bereich der Temperaturskala zwischen biologisch verträglichen 0 °C (Frostgrenze) und 40 °C (tropische Temperaturen) verursacht der Faktor Zeit Veränderungen. Jedes Lebensmittel, das sich länger selbst überlassen wird, „verrottet“. Was sich sehr essensfern anhört, ist, sofern der Verrottungsprozess kontrolliert abläuft, hochwillkommen, nämlich in Form fermentierter Lebensmittel wie Joghurt, Sauerkraut oder Kimchi. Sind aber fermentierte Lebensmittel wie Sauerkraut noch „roh“? Einerseits ja, denn es kann unerhitzt genossen werden, andererseits aber hat es aromatisch, geschmacklich und von der Textur her mit dem Ursprungsprodukt Weißkohl nur noch wenig gemeinsam. Eine Definition von „roh“ ist plötzlich komplizierter als lediglich ein Nichterwärmen.
Für den Ethnologen Claude Lévi-Strauss waren diese Überlegungen die Grundlage für die Konstruktion eines „kulinarischen Dreiecks“. Dabei handelt es sich um die Überlagerung der Lebensmittelzustände „roh“, „gekocht“ und „verrottet“ mit dem Übergang von Natur zur Kultur.
Das kulinarische Dreieck nach Claude Lévi-Strauss. Die Natur bietet unveränderte, rohe Lebensmittel. Unter natürlichen Bedingungen verrotten (verfaulen) diese. Kulturelle Handlungen des Menschen stellen aus rohen Lebensmitteln etwas „Gekochtes“ her.
Schematische Darstellung des kulinarischen Dreiecks aus molekularer Sicht. Rohe Zustände werden stets durch intakte molekulare Strukturen, dargestellt durch ein Gitter, beschrieben. Durch etwa Fermentieren werden diese Strukturen chemisch verändert.
Der Ansatz, dass gerade Kochen und damit die Nahrungsaufnahme als kulturelle Handlung verstanden werden kann, liegt nahe. Am Anfang der Menschheitsgeschichte war rohe Nahrung, vor allem Gemüse und Obst, aber auch rohes, „gereiftes“ Fleisch von Aas die einzig verfügbare Nahrung. Erst das Nutzbarmachen des Feuers stellte den Beginn einer neuen Ära des Essens und der Ernährung dar. Fleisch konnte über dem Feuer gegart, gegrillt, ja sogar geräuchert werden. Ein neuer, bis dahin unbekannter Geschmack und unbekannte Röstaromen prägten das Essen. Das Essen bekam neben der schlichten Funktion der Nahrungsaufnahme durch das gemeinsame Sitzen am Feuer eine soziale und kommunikative Komponente. Allein der Mensch vollzieht diesen Akt der gezielten Lebensmittelveränderung. Kochen und die damit verbundene Lebensmittelzubereitung sind Eckpfeiler kultureller Strukturen. Menschen definieren sich damit als „kulturelle“ Wesen.
Das kulinarische Dreieck ist somit der bestechende Versuch, den Übergang von Natur zu Kultur bzw. deren Grenzen und Überschneidungen anhand von kulinarischen Handlungen, nämlich Kochen und Essen, zu veranschaulichen. Dennoch bleiben bei diesem Ansatz Fragen offen, denn die aus kulturwissenschaftlicher Sicht richtigen Beschreibungen reichen nicht aus, um die Kulturhandlung „Kochen“ oder allgemeiner „Lebensmittelzubereitung“ zu klassifizieren. So wird in der Kulturwissenschaft etwa vorgeschlagen, auch das Waschen oder Zubereiten eines rohen Blattsalats bereits als kulturelle Kochhandlung zu betrachten. Dies wäre aber für den reinen Rohköstler bereits ein Widerspruch. Er hat lediglich die Temperatur und Frische im Blick.
Die Unterscheidung zwischen den drei fundamentalen Nahrungszuständen kann letztlich nur zweifelsfrei getroffen werden, wenn molekulare Zustände in Rechnung gestellt werden. Dazu müssen die kulturellen Eckpfeiler mit messbaren naturwissenschaftlichen Gegebenheiten unterlegt werden. Nimmt man die Eckpunkte „roh“, „gar“ und „fermentiert“ als Grenzfälle verschiedener Nahrungsformen an, so lässt sich das kulinarische Dreieck aus physikalischchemischer Sicht wie folgt darstellen ( Abbildung Seite 61):
ROH sind Lebensmittel, die noch intakte, unveränderte Molekularstrukturen aufweisen, also biophysikalische Strukturen, die unmittelbar nach der Ernte (oder bei Tieren direkt nach dem Schlachten) angetroffen werden. Jegliche Transformation der Lebensmittel lässt sich auf eine Veränderung dieser molekularen Struktur zurückführen.
FERMENTIERT sind alle Lebensmittel, deren Veränderung unter Einwirkung von Mikroorganismen vonstatten ging. Lévi-Strauss beschreibt mit „Verrotten“ natürliche Zersetzungsprozesse, wenn Lebensmittel sich selbst überlassen werden. Diese Prozesse sind mit einem Umbau auf mikrobiologischer Ebene verbunden. Mikroorganismen oder Enzyme transformieren dabei Lebensmittel in fermentierte Zustände. Dazu gehört beispielsweise die Milchsäuregärung von Joghurt, Kefir, Käse und Sauerkraut. Bei lang gereiften Käsen schreitet der „Verrottungsprozess“ durch Lagerung weiter fort, da Proteine und Fette teilweise in Bruchstücke zerfallen, die zum reifen Duft und herzhaften Geschmack erst beitragen. Fermentation erfordert damit die Faktoren „Mikrobiologie“ und „Zeit“.
GAR definiert eine durch Temperatur- oder Säureeinwirkung strukturell veränderte Materie. Durch eine ausreichende Erhöhung der Temperatur werden Lebensmittelstrukturen verändert, die natürlich auf molekulare, aber physikalische Veränderungen zurückzuführen sind. Proteine und Kohlenhydrate geraten außer Form, Fette schmelzen, Wasser verdampft.
Zugleich verdeutlicht die Abbildung, dass es einen recht großen Übergangsbereich zwischen den Extremzuständen „roh“ und „gar“ bzw. „fermentiert“ gibt. Gerade bei Gemüse ist dieser Bereich, den man als „PSEUDOROH“ bezeichnen kann, kulinarisch außerordentlich interessant. Warum das so ist, zeigt ein genauerer Blick auf die Struktur von Gemüse.