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Söhne von Sām
ОглавлениеSpätestens seit den ersten schriftlichen Zeugnissen bedienten sich nahezu alle Völker in Arabien und im Fruchtbaren Halbmond, ob sie nun sesshaft waren oder nomadisch, verwandter Sprachen, die alle zu einer Sprachfamilie gehören, die von deutschen Philologen im 18. Jahrhundert als die „semitische“ Sprachfamilie bezeichnet wurde. Der Name stammt von Sem, Sohn des Noah, der auf Arabisch „Sām“ heißt und den die traditionellen Genealogen als Ahnen der Araber, Hebräer und anderer locker verwandter Gruppierungen beanspruchen. Spätere Philologen spielten das Proto-Spiel und konstruierten einen Stammbaum für semitische Sprachen, in der jede Sprache auf eine hypothetische Urfassung – protoarabisch, protohebräisch usw. – und anschließend auf einen gemeinsamen Wurzelstock – proto- oder ursemitisch – zurückgeführt wird. Außerdem lässt sich, auf Grundlage von Schätzungen der Geschwindigkeit, in der Sprachwandel sich heute vollzieht, und Projektionen in die Vergangenheit, grob berechnen, wie alt Sprachen sind. Mit anderen Worten: Man kann gewissermaßen die Jahresringe des linguistischen Baumes zählen. Für den Ursprung des Protosemitischen, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit in der Levante liegt, wurden verschiedene Daten vorgeschlagen. Noch wahrscheinlicher ist, dass das Arabische einige Eigenschaften bewahrt hat, die älter sind als die der anderen semitischen Sprachen, und dass einige dieser Eigenschaften sich schon sehr früh von der semitischen Wurzel getrennt haben könnten, womöglich schon um 5000 bis 4000 v. Chr. Andererseits ist diese semitische Wurzel vielleicht nicht der Wurzelstock, sondern gehört wiederum einer größeren, afroasiatischen Familie an …89 Sie merken schon, wohin das führt.
Das ist alles Gehirnjogging, Codeknacken, Zahlenkombinatorik und Wahrscheinlichkeitsstatistik. Doch da wir uns mit traditionellen Nomaden beschäftigen, die aufgrund ihrer Lebensart fast keine archäologischen Spuren hinterließen, besteht das arabische Äquivalent zu Troja oder Knossos eben aus dem großen Aushubhügel der Sprache. Ab und an gibt er erfreuliche Fundstücke frei, vor allem, wenn diese als Belege für eine Kontinuität der Gegenwart zur Vorzeit hindeuten. Der Arabist und Linguist Jonathan Owens nennt zum Beispiel zwei auffallend ähnliche Verbparadigmen, die er mit den Etiketten „irakisches“ und „nigerianisches Arabisch“ versieht, wobei das „Irakische“ in Wirklichkeit Akkadisch aus dem Jahr 2500 v. Chr. ist, während die nigerianische Variante aus dem Jahr 2005 unserer Zeitrechnung stammt:90 ein Beleg für geografische Kontinuität über 4500 Kilometer und zeitliche Kontinuität über 4500 Jahre. Andere interessante Beweisschnipsel verleihen der Kontinuität an den Stellen, wo der Baum fremdbestäubt wurde, Komplexität. Im Arabischen umfassen sie sehr frühe Lehnwörter, wie die Namen der beiden Waffen, die immer um die Vorherrschaft buhlen, jenes Urwerkzeug der Zivilisation und dessen Gegenstück, griechisch kalamos → arabisch qalam, „Rohr, Schreibrohr“, und (wahrscheinlich) griechisch xiphos → arabisch saif, „Schwert“.91 Und was ist mit dem lateinischen Wort taurus → arabisch thaur, „Stier“, und dem griechischen oinos, „Wein“ → arabisch wain, „schwarze Trauben“ und südarabisch wyn, „Weinberg“? Oder sollten die Pfeile in einigen Fällen in die andere Richtung zeigen? Oder in beide Richtungen? Die Fragen sind keine rhetorischen, da wir tatsächlich kaum eine sichere Antwort darauf haben. Deutlich ist, dass es nicht nur schon sehr früh Entlehnungen, sondern vielleicht auch ein präsemitisches „mediterranes Substrat“ gegeben hat:92 sprachliche Gemeinsamkeiten, die der Grenzziehung zwischen „Semitisch“ und „Indogermanisch“ zeitlich vorausgehen und derselben Sprachfamilie angehören.
Die Ursprünge des Arabischen selbst liegen in einem „Dialektbündel“ des semitischen Sprachastes, der als Nordarabisch bezeichnet wird.93 Die Sprachen der Graffiti, Safaitisch, Thamudisch und andere, formen ein anderes Bündel von inzwischen abgestorbenen Zweigen, die von demselben nordarabischen Ast abstammen. Die Sprecher aller dieser nordarabischen Sprachen konnten einander wahrscheinlich problemlos verstehen. Auf der anderen Seite (oder auf dem anderen Ast) umfasste Südarabisch die Sprachen der sesshaften Völker im Süden und Westen der Halbinsel – Saba, Himyar usw. –, die für die Sprecher der nordarabischen Sprachen unverständlich waren. Der größte Teil des südarabischen Astes verdorrte und starb mit der schleichenden Arabisierung ab, die geraume Zeit vor dem Aufkommen des Islam stattfand. In abgelegenen Ecken tauchten jedoch ein paar neue südarabische Sprachen auf – das „Gälisch“ Arabiens, das heutzutage von einigen Zehntausenden im Jemen und im Oman gesprochen wird. Wenn ich ihnen zuhöre, beispielweise den Bergbewohnern auf der Insel Sokotra vor dem Horn von Afrika, stelle ich als Sprecher des Arabischen verwirrt die Ohren auf – ich müsste sie doch verstehen? Aber ich schnappe nur hin und wieder den Kern eines verwandten Wortes auf.
Wie die verschiedenen Zweige am selben Ast einzuordnen sind, ist nicht ganz sicher. Allgemein sagt man, dass sich das Arabische durch den bestimmten Artikel „al-“ auszeichnet.94 Safaitisch und die Schwestersprachen verwenden dagegen den bestimmten Artikel „h-“ oder „hn-“. Eine der frühesten Erscheinungen des „al-“ finden wir im 5. Jahrhundert v. Chr. bei Herodot, der schreibt, dass „Alilat“ – al-Ilāt, sonst al-Lāt oder einfach Lāt geschrieben, die uns schon im oben erwähnten Graffito des trauernden S1lm begegnete95 – die Gottheit der Araber ist.96 Man vergleiche das männliche Gegenstück, Alilāh, al-Ilāh oder Allah, den Gott. Sprachen nach ihren bestimmten Artikeln zu klassifizieren ist jedoch, als würde man Schraubenzieher nicht nach der Form der Klinge, sondern nach der des Griffes gruppieren. Im heutigen Jemen benutzen beispielsweise viele Sprecher des Arabischen „am-“ als bestimmten Artikel. Auch vom Propheten Mohammed, der als der vollendetste Sprecher des Arabischen gilt, ist bekannt, dass er zu „am-“ wechselte, wenn er mit Leuten sprach, die diese Form des bestimmten Artikels gebrauchten.97
Wie heikel die Probleme der Klassifizierung selbst innerhalb der größeren semitischen Familie sind, zeigt sich an einem der ersten angeblich genuin arabischen Texte, einer Grabinschrift aus Hegra/Madāʾin Sālih aus dem Jahr 267 n. Chr., die jeden, der versucht, die Grabstätte zu schänden oder wiederzuverwenden, mit Flüchen überhäuft. Früher wurde die Sprache dieser Inschrift als Nabatäisch eingestuft, inzwischen wird sie als Arabisch mit nabatäischen Einflüssen klassifiziert.98 Und um zu illustrieren, wie hybrid sprachliche Praxis sein kann: Was heute als die älteste arabische Inschrift betrachtet wird – ein Gebet von drei Zeilen zum Dank für die Genesung von einer eiternden Wunde aus dem 1. Jahrhundert n. Chr., das in En Avdat in der Negev-Wüste gefunden wurde –, ist in einem aramäischen Text eingebettet.99
Kurzum, wir müssen eingestehen, dass so etwas wie die eine arabische Sprache im Singular nicht existierte. Es gab und gibt stattdessen viele arabische Sprachen. „Arabisch“ war nie ein säuberlich am Spalier gezogener Zweig des Semitischen oder eine homogene Sammlung von Trieben, sondern ein verholzter und mehrfach wieder eingepflanzter Ableger, der einige sehr alte und sehr merkwürdige Merkmale aufweist.100 Genau diese Vielfalt des „Dialektbündels“, das Arabisch wurde, spiegelt die Bedeutung von ʿarab als bunte Truppe, als genetisches und linguistisches Sammelsurium wider, das seit frühester Zeit immer neue Mitglieder aufgenommen hat. Das wiederum liefert uns stichhaltige Hinweise in Bezug auf die früheste Epoche der arabischen Geschichte. Die alte „Wellentheorie“ von der Auswanderung von der Halbinsel erzählt nur einen Teil der Geschichte: Nicht nur ist deutlich geworden, dass Wellen von Menschen weiterhin hineinströmten – ein konstanter menschlicher Sog aus dem Fruchtbaren Halbmond –, sondern auch, dass dieses oben angedeutete grobe Zeitfenster von 5000 bis 4000 v. Chr., als die ältesten Merkmale ihrer Sprache sich vom protosemitischen Wurzelstock abzweigten, einen Hinweis auf die Anfänge der Wellenbewegungen und das wahre Alter unserer ersten ʿarab geben könnte.
Handfeste Beweise liegen nicht vor. Doch Belege für diese sprachliche und genetische Vielfalt ebenso wie für den sesshaften Ursprung der Araber und ihrer Sprachen im Fruchtbaren Halbmond haben sich wohl im arabischen mythischen Gedächtnis bewahrt. Eine Geschichte erzählt zum Beispiel, wie nach dem Debakel in Babel und der Sprachverwirrung zehn Sprecher des Arabischen aus Mesopotamien ausschwärmten. Jeder von ihnen machte sich mit seiner Familie und Anhängern auf den Weg zu einem anderen Teil der Halbinsel und sprach dabei ein Gedicht über sich selbst. „Sie alle … waren badw und breiteten sich über das Land aus.“101 Dieser und andere Berichte erscheinen irreal wie Träume; doch wie Träume können sie aus langzeitgelagerten Erinnerungen hervorgehen und einen handfesten Hintergrund haben.