Читать книгу Arab - Tim Mackintosh-Smith - Страница 29
Kapitel 2 Völker und Stämme: Sabäer, Nabatäer und Nomaden „Wenn man in Zafār ist …“
ОглавлениеIn Yāqūts geografischem Lexikon findet sich unter dem Stichwort Zafār folgende Anekdote über die alte südwestarabische Stadt:
Sie war der Sitz der Könige von Himyar und die Quelle des Sprichworts: „Wenn man in Zafār ist, sollte man wie die Himyaren sprechen.“ Al-Asmaʿī zufolge kam dorthin einst ein arabischer Mann zu einer Audienz eines Himyarenkönigs. Der König, der sich gerade auf einer hohen Dachterrasse seines Palastes befand, sagte zu dem Mann: „Thib!“ [Arabisch für: „Spring!“] Der Mann sprang also hinunter und stürzte sich zu Tode. Da sagte der König: „Arabischt gibt es bei uns nicht. Wenn man in Zafār ist, sollte man wie die Himyaren sprechen.“ Auf Himyarisch heißt „thib“: „Nimm doch bitte Platz.“1
Der Gewährsmann der Geschichte, al-Asmaʿī, war ein geschätzter und im Allgemeinen sehr zuverlässiger Philologe des 8. Jahrhunderts n. Chr.; thib kommt von einem genuin altsüdarabischen Verb, das „sitzen“ bedeutet; dass der König ʿarabiyya als ʿarabiyyat ausspricht (oben mit „Arabischt“ nachempfunden) ist ebenfalls für diese Zeit verbürgt. Dennoch scheint diese Geschichte eher in die Kategorie islamischer Großstadtmythen zu passen.
Ob der Sprung in den Tod nun wirklich stattgefunden hat oder nicht, die Szenerie ist auf jeden Fall stimmig. Zafār, die Stadt auf dem Hügel, ein König, ein Palast mit mehreren Stockwerken – das alles wäre einem arabischen Besucher, der nur steinige Steppen, schlichte Stammesführer und Zelte aus Kamelhaar kennt, sehr fremd gewesen. So weit entfernt von seinem sozialen und sprachlichen Kontext hätte er sich tatsächlich kaum zurechtzufinden vermocht. Die königliche Reaktion passt ebenfalls: Wir sehen förmlich vor uns, wie der Herrscher über die Brüstung schaut und kopfschüttelnd die Pointe ausspricht. Auch wenn der Araber ihn nicht beim (falsch verstandenen) Wort genommen hätte, wäre der Kommentar des Königs von oben herab gekommen, vom weltmännischen Gastgeber zum barbarischen Gast.
Diese herablassende Haltung des zivilisierten Südens gegenüber dem nomadischen Norden findet sich auch in islamischer Zeit wieder: „Wenn ein Tamīmī [Araber] ankommt und behauptet, er sei besser als du“, sagte der Dichter Abū Nuwās, ein Zeitgenosse des al-Asmaʿī, zu einem Publikum südarabischen Ursprungs,
dann sage ihm: „Es reicht, du Echsenfresser!
Du traust dich, vor den Nachkommen von Königen zu prahlen, du Dummkopf,
du Hosenpisser?
Lassʼ den Adel sich messen in edlen Taten; und was dich betrifft: Nimm deinen Stock und treibe deine Ziegen fort, du Sohn einer Mutter mit Durchfall!
Uns gehörte schon die Welt, Ost und West,
als dein alter Anführer noch ein Tröpfchen in den Lenden seines Vaters war.2
Wir werden sehen, dass der Gegensatz Zivilisation versus Nomadentum, Nord gegen Süd, durch die Politik der islamischen Zeit noch verschärft wurde. Aber er entstammt einer alten Wirklichkeit. Wie die Geschichte von Zafār zeigt, waren die Menschen in Arabien durch einen Kontinent verbunden, aber durch eine Sprache geteilt: Ihre semitischen Wurzeln einten sie, doch die semantischen Verzweigungen trennten sie. Auf soziologischer Ebene waren die Unterschiede noch tiefgreifender. Die Gruppen, die ʿarab genannt wurden, gaben dem ethnischen Gemisch, das die Geschichte als „Araber“ kennt, seinen Namen. Dabei machen sie, neben den Sabäern, den Himyaren und anderen sesshaften Völker auf dem arabischen Subkontinent, mit denen sich dieses Kapitel beschäftigt, nur einen Teil dieses Gemischs aus. Es ist wichtig zu sehen, wie sich in dieser frühen Phase sesshafte und nomadische Bewohner der Arabischen Halbinsel unterschieden und wie sie allmählich zusammenkamen. Nur dann wird deutlich, wie die alten Gegensätze im kurzen Zeitraum der vom Islam herbeigeführten Einheit und in den darauffolgenden Perioden von Zerrissenheit Arabern ihre außergewöhnlichen Stärken und ihre folgenschweren Schwächen verliehen.
Um noch einmal zusammenzufassen, was wir über die nomadischen Gruppen in der Frühzeit festhalten können: ʿarab waren zahlenmäßig nicht stark vertreten, wahrscheinlich von gemischter Herkunft und zeichneten sich – wenigstens in den Augen Außenstehender – seit dem frühen 1. Jahrtausend v. Chr. dadurch aus, dass sie ihr Leben in einer äußerst kargen Umgebung bestritten. Wir wissen nicht, wie sie sich selbst definierten oder ob sie sich überhaupt als eine Gruppe betrachteten. Doch zu der Zeit, da die ersten authentischen ʿarab-Stimmen zu vernehmen sind, die zum Ende des 1. Jahrtausends v. Chr. in Wüstenfelsen geritzt wurden, finden sich genügend gemeinsame Merkmale, die einen Kern von Ethnizität bilden können: ein gemeinsamer Lebensstil und kontinuierlich sich kreuzende Wege, ein Interesse an – oder vielleicht gelegentlich eine Obsession mit – ihrer Abstammung sowie die Zugehörigkeit zu eng verwandten Sprachfamilien.
Die offenkundigste Gemeinsamkeit der nomadischen Stämme besteht zunächst in ihrem Unterschied zu den sesshaften Völkern: Er ist so groß wie der zwischen „Spring!“ und „Nimm Platz!“. Doch das änderte sich während der ersten Jahrhunderte v. Chr. Unter den tribalen ʿarab bildete sich eine besondere Hochsprache für Prophetie und Poesie heraus. Diese neue Sprache der Dichtung und der alte mobile Lebensstil wurden zu den beiden wichtigsten ethnischen Markern – zum unverzichtbaren Zubehör der Nationaltracht der ʿarab. Die Metapher der Kleidung passt in zweierlei Hinsicht: Der Stil ethnischer Zugehörigkeit kann sich ebenso ändern wie ein Kleidungsstil; und was Mode ist, kann sich bis in Regionen verbreiten, die weit entfernt von ihrem Ursprungsort sind, und zum globalen Trend werden. Neben dieser Tracht begannen ʿarab zu dieser Zeit auch, mit einem gewissen Stolz das Label zu tragen, das ihnen andere schon lange vorher verpasst hatten: „Araber“ wurde ab jetzt großgeschrieben. Interessanterweise eigneten sich erklärte Nichtaraber der Halbinsel mit radikal unterschiedlichen Lebensstilen und Sprachen etwa ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. nicht nur diese Teile der arabischen Tracht an und schlüpften in das Kostüm und das Brauchtum hinein, sondern nahmen im 7. Jahrhundert schließlich zusammen mit dem Islam auch das Etikett „Araber“ an – und behaupteten sogar, das wäre immer schon ihr Label und ihre Sprache gewesen. Das war schon für die sesshaften, zivilisierten Völker des Südens – die Sabäer und ihre Nachbarn, darunter die Himyaren – erstaunlich. Aber selbst im großen Palast des überheblichen Königs von Zafār tauschte man die Sprachen der Vorfahren gegen das „Arabischt“ der kamelhaarzeltbewohnenden Viehhirten ein. Man schloss sich der wachsenden soziopolitischen Mischung des Arabertums an und schlüpfte mit Stolz in die arabische Nationaltracht.
Ein späterer Beleg für dieses ethnische Crossdressing (und zwar im wörtlichen Sinn) ist der Himyarenkönig Dhū al-Kalāʾ, der dem ersten islamischen Kalifen Abu Bakr einen Besuch abstattete „mit tausend Sklaven … Er trug eine Krone und die Art von gestreiften Kleidern und anderen Gewändern, die wir beschrieben haben“, das heißt, aus schwerem Goldbrokat. Dagegen war der asketische Abū Bakr in schlichtestem arabischem Stil gekleidet: „Und als der König sah, was er trug, zog er seine feinen Kleider aus und kleidete sich wie der Kalif. Eines Tages wurde er sogar auf einem der Suks in Medina mit einem Schaffell auf den Schultern gesehen.“ Wir kennen so etwas Ähnliches von bürgerlichen Revoluzzern aus dem 20. Jahrhundert, die im Mao-Anzug rumliefen. Natürlich hat diese Geschichte eine Moral: Wenn man Allah Gehorsam erweisen will, muss man in dieser Welt Bescheidenheit an den Tag legen, wie der fromme König in Vintage-Klamotten erkennt.3 Der Gehorsam gegenüber Allah war außerdem zu dieser Zeit bereits ein Aspekt des Araberwerdens.
Dies alles lag jedoch damals noch in ferner Zukunft. Wie genau der arabische Stil eine ganze Halbinsel einkleidete, wird sich in den nächsten Kapiteln zeigen. Anfangs waren ʿarab, wie die Geschichte von Zafār zeigt, für die Leute aus dem Süden und besonders für den Vorzeigestaat von Saba alles andere als en vogue. Sie kauten auf gerösteten Eidechsen herum und waren vom gleichen Ungeziefer befallen wie ihre krätzigen Herden. Insbesondere für die Bewohner der sesshaften, zivilisierten südlichen Königreiche waren sie insofern eher eine Zumutung und im Prinzip unsichtbar.