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Ein Volk auf der Wallfahrt

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In Maʾrib gab es noch ein anderes großes Bauwerk, das jedes Jahr zur selben Zeit Ströme aus einem vergleichbar großen Einzugsgebiet vereinigte. Dieses Bauwerk war ein Tempel, der Awwam-Tempel aus der oben zitierten Inschrift, ein großes elliptisches Temenos mit Schreinen, und die Ströme waren Menschenströme. Sie kamen im Monat Abhay: Passend zu einer auf Wasser begründeten Zivilisation wie die der Sabäer war das die Zeit der Sommerregen.16 Die Anforderungen, die die Pilger erfüllen mussten – wie das Tragen bestimmter Kleidung und der Verzicht auf Geschlechtsverkehr und Kampfhandlungen –, übertrugen sich auf andere Wallfahrten in Arabien und finden sich bis heute in der Wallfahrt zu einer anderen großen Gottheit – wohl derselben – in Mekka wieder.17

Obwohl die Pilgerfahrt nach Maʾrib keinesfalls die einzige war, war sie doch sehr groß: „Das Haus von Almaqāh“,18 wie der Awwam-Tempel oft genannt wurde, war die Wohnstatt eines der großen, heute in Vergessenheit geratenen Götter Arabiens, des Schutzgottes von Saba, vielleicht ein Gott des Krieges oder der Vegetation.19 Ein Forscher betrachtet ihn als eine männliche Form der (üblicherweise weiblichen) Sonnengottheit.20 Im Koran wird in der Tat erwähnt, dass die Sabäer „die Sonne anbeteten“,21 doch dieser Verweis kann sich auch auf die eine oder andere weibliche Version dieser Gottheit beziehen. Der Name des Gottes hilft uns auch nicht viel weiter. Wie auch immer er vokalisiert werden sollte – vielleicht als „Ilmaqāh“ – der Name scheint aus „Il“, dem Standardnamen der höchsten semitischen Gottheit (wie in „al-Ilāh“ → „Allāh“) und einem weiteren Element zu bestehen, das womöglich vom sabäischen Verb wqh, „befehlen“, kommt:22 Almaqāh könnte also „Gott der Befehlshaber“ oder „der Verfüger“ bedeuten.

Was auch immer sein Name bedeutet, es ist klar, dass Almaqāh von zentraler Bedeutung war für die Identität und Einheit des großen schaʿb oder Volks von Saba, das wiederum ein Bund kleinerer schaʿbs war. Aus theologischer Sicht „vertritt er funktional den kollektiven Willen des schaʿb“.23 Die Sabäer wurden als die „Kinder“ Almaqāhs betrachtet.24 Neue Mitglieder des Bundes mussten nach Maʾrib pilgern, um gewissermaßen als Adoptivkinder des Gottes angenommen zu werden. Eine aufschlussreiche Inschrift aus dem Hochland 130 Kilometer westlich von Maʾrib erlegt einem schaʿb mit dem Namen Sumʿay, anscheinend einem neuen Mitglied des sabäischen Bundes, diese Pflicht auf. Sumʿays eigener Schutzgott, Taʾlab, verordnet seinem Volk, die Wallfahrt nach Maʾrib nicht zu versäumen (die Gottheiten kannten ihren Platz in der göttlichen Befehlskette).25 Taʾlab ermahnt sein Volk auch, auf der Wallfahrt nach Maʾrib auf Geschlechtsverkehr und bestimmte Jagdarten zu verzichten und jeden zweiten Tag 700 Schafe zu schlachten.26 Wiederum erinnern die Verhaltensregeln und Hekatomben an das heutige Mekka. Taʾlab empfiehlt seinen Leuten sogar, ein Kamel, dass sie in Maʾrib zu schlachten beabsichtigten, behutsam dorthin zu reiten – ein Rat, der einige Jahrhunderte später vom Propheten Mohammed im mekkanischen Kontext wiederholt werden sollte.27 Allerdings gab es auch Besonderheiten, die im heutigen Mekka erstaunen und eine, die schockieren würde: nämlich die Tatsache, dass Almaqāh nicht der alleinige Gott war. Nicht nur Taʾlab steht hinter ihm zurück, sondern die Widmungen in Maʾrib galten einem ganzen Pantheon – oder vielleicht eher einer Konstellation, denn es handelte sich meist um Himmelsgottheiten – von kleineren Göttern.

Trotz dieses erheblichen Unterschieds sollte inzwischen klar sein, wie falsch es ist, die „arabische Geschichte“ mit dem Islam oder mit „Arabern“ anfangen zu lassen. Das Fundament dieser Geschichte bilden Südaraber, die sich in ihrer Blütezeit nie auch nur entfernt als Araber betrachteten. Sowohl der Islam als auch Araber waren Teil eines sehr langen Kontinuums, das nicht in einen kurzen Prolog zur islamischen Geschichte gezwängt werden kann. Vielen muslimischen arabischen Historikern war dies auch sehr wohl bewusst: Wie wir sehen werden, räumten al-Masʿūdīs konzise Chroniken aus dem 10. Jahrhundert der vorislamischen Vergangenheit einen gebührenden Platz ein. Sein jemenitischer Zeitgenosse al-Hamdānī ließ die islamische Dynastiegeschichte weitgehend unberücksichtigt und sah die Entwicklungen seiner Zeit als Fortsetzung vorislamischer Machtkämpfe.28 Aus diesem umfassenderen Blick auf die Geschichte lassen sich noch weitere Erkenntnisse gewinnen. Beispielsweise ist die neuere Begriffsschöpfung „politischer Islam“ vor dem Hintergrund der alten sabäischen Verknüpfung des Gemeinwesens mit dem Willen der Gottheit (eine Idee, die von der islamischen Gemeinschaft übernommen wurde) zumindest daheim auf der Arabischen Halbinsel eine reine Tautologie.

Ein weiteres Merkmal des alten Südens, das in der größeren Zivilisation des Islam aufging, ist, dass er an Orten, nicht in Stammbäumen wurzelte. Ein südarabischer schaʿb definierte sich anders als ein Stamm durch sein Hoheitsgebiet – an das er durch die Notwendigkeit, das Wasser nutzbar zu machen, gebunden war – und durch die Heiligtümer und Städte. Seine Mitglieder waren die Kinder eines Gottes, der an einem bestimmten Ort ein Haus besaß, nicht die Nachkommen eines proklamierten wandernden Ahnen. Im Vergleich zur restlichen Halbinsel war der Süden hochurbanisiert. Die vorislamischen südarabischen Inschriften beschreiben über 100 Orte als hdschr, „Stadt“,29 auch wenn die meisten zweifellos sehr klein waren. Es ist wohl wahr, dass auch eine nordarabische Gruppe wie Qīdār an einem „städtischen“ Heiligtum wie Dūma zusammentreten konnte, doch im Fall der sesshaften südarabischen Völker war es im Grunde das Ziel der Heiligtümer, Gruppenzugehörigkeiten auszudrücken und zu definieren.30 Das tribale Selbstverständnis auf der Grundlage von Abstammung bildete einen weiteren Strang arabisch-islamischer Ethnizität, hätte aber für sich genommen den Islam nie über Araber hinaus tragen können. Auch ohne das Vermächtnis des Südens und seiner Zentren hätte der Islam vermutlich zu einer Weltreligion aufsteigen können – aber zu einer, die wie das Judentum, wenn auch locker, mit der Idee von Blutslinien verbunden geblieben wäre. Doch für den Islam gibt es keine Zwölf Stämme, keine Gojim, und der Grund dafür liegt zumindest teilweise im südarabischen Erbe.

Südarabien legte auch ein Modell politischer Einheit vor, das in späteren Zeiten angestrebt, aber selten erreicht wurde. Auch darin hinterließ es dem Islam wohl ein wichtiges Vermächtnis. Frühe sabäische Inschriften enthalten oft den Titel mkrb, der möglicherweise als mukarrib zu lesen ist. (Die Grundbedeutung könnte die des arabischen muqarrib sein, „einer, der nahebringt, der jemanden als Teilhaber nimmt“; ein vergleichbarer arabischer Begriff, mudschammiʿ, wird im politischen Sinne als „Einiger“ gebraucht.31) Der mkrb war der König des mächtigsten schaʿb in einem Bündnis von schaʿbs – aber nur, wenn er sozusagen seine andere Krone trug, die des Oberhauptes des Bündnisses. Zum Vergleich für seine Rolle wurde einmal charmanterweise die britische Königin als Oberhaupt des Commonwealth herangezogen.32 Ein wichtiger Inschriftentypus, der in der Forschung als „Bündnisformel“ bezeichnet wird, erläutert die Rolle des mrkb als Einiger: „Er errichtete jede Gemeinschaft von Gott oder Schutzherrn, von Vertrag (hbl) oder Allianz.“33 Diese Vereinigungen wurden also im Namen des hohen Gottes Almaqāh und der kleineren Schutzgottheiten gegründet. In der Formel sticht ein Wort ins Auge, der Begriff für den göttlich sanktionierten „Vertrag“: Das sabäische hbl wird im Koran als habl wieder auftauchen:

Haltet allesamt am Bande Gottes [Allahs habl] fest, und spaltet euch nicht auf!34

Auf Arabisch kann habl „Seil“, aber auch „bindende Übereinkunft“ bedeuten. Ich möchte nicht behaupten, dass Mekkaner aus dem 7. Jahrhundert n. Chr. sabäische Verfassungsterminologie aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. studiert hätten, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass der Begriff der gleiche ist und dass beide Gemeinschaften Vorstellungen von politischer Einheit im Namen einer oder mehrerer Gottheiten teilten – oder später, im Namen Gottes. Und darin liegt der Unterschied: Die Einheit, die vom Islam vorgeschlagen wurde, war – politisch wie theologisch – eindeutig, ultimativ, endgültig. Ein Gemeinwesen, eine Gottheit.

Philip Hitti schreibt in seiner ausführlichen History of the Arabs, die erstmals 1937 veröffentlicht wurde, dass die muslimische Gemeinschaft von Medina „der erste Versuch in der Geschichte Arabiens war, eine gesellschaftliche Organisation auf der Grundlage von Religion anstatt von Blutsbanden zu begründen“.35 Er liegt mit seiner Datierung gut 1000 Jahre daneben. Natürlich war vieles von dem, was wir über Südarabien wissen (und auch das wenige, das wir über Dūma, das religiöse Zentrum des Qīdār-Bündnisses im Norden, wissen), noch nicht bekannt, als Hitti sein Werk verfasste. Spätere Historiker sind aber ähnlich islamozentrisch zu Werke gegangen und hatten dafür weitaus weniger gute Ausreden. Die akademische Trennung zwischen islamischen und vorislamischen Studien hat zur Folge, dass die meisten Forscher die Details nicht sehen, die das große Ganze ausmachen, geschweige denn sie zu verbinden versuchen. Wenn wir dennoch einmal einen längeren und weiteren Blick riskieren, entdecken wir, dass der Islam nicht etwa plötzlich in Mekka vom Himmel gefallen wäre. Er ist tief in der Zeit und auf der gesamten Halbinsel verwurzelt – besonders im Süden, wo seine Wurzeln von einem Volk gepflegt wurden, das sich nicht einmal als Araber bezeichnete.

Heute wird der Koranvers über das Festhalten an Gottes Übereinkunft von Menschen zitiert, die sich auf der Suche nach den flüchtigen Zielen der arabischen und islamischen Einheit befinden. Ihnen ist weder bewusst, wie alt dieser Ruf ist, noch dass er bereits vor dem Islam und weit über Araber hinaus erklang.

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