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Das Archiv der Araber

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Obwohl der Tod des Idschl in lapidarer sabäischer Prosa notiert war, wurde er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch im lebhafteren gesprochenen Arabisch betrauert, vermutlich in der Dichtung. Die Kinda, die tribalen Anführer von Qaryat Dhāt Kahl, brachten einige der frühesten namentlich bekannten Dichter in dieser Sprache hervor. Es gibt zwar keine Elegie, die auf Lebzeiten des Idschl datiert werden kann, aber die älteste bekannte arabische Inschrift – das im ersten Kapitel erwähnte Gebet aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. – scheint einen sich wiederholenden Rhythmus aufzuweisen, woraus sich wichtige Hinweise ergeben.52 Es liegt auf der Hand, dass Gebete und Totenklagen in früher Zeit in poetischer Form abgefasst waren. Das Gleiche gilt für Lobeshymnen: Ein früher externer Verweis auf arabische Dichtung direkt nach der Blütezeit von Qaryat Dhāt Kahl findet sich in einer griechischen Chronik, die von Arabern aus dem 4. Jahrhundert berichtet, die ihre Siege in odai, „Volksliedern“, feiern.53 In den letzten vorislamischen Jahrhunderten begann die Dichtung für Araber allmählich jeden einzelnen Aspekt des Lebens und des Todes zu umfassen. Sie wurde zum „Archiv ihrer Geschichte, ihrer Weisheit und ihrer Vornehmheit“.54 Ein altes Sprichwort besagt wiederum, dass Araber sich durch vier Merkmale auszeichnen: „Turbane sind ihre Diademe, Gürtel sind ihre Ringmauern, Schwertklingen ihre Umfriedung, Verse ihre Archive.“55

Die Dichtung – der dīwān, das Archiv – ist ein ursprünglich rein mündliches Dokument in einer gereimten, rhythmischen und – das ist wichtig – flektierten Sprache; die Flexion der arabischen Hochsprache beeinflusste nicht nur die Endungen der Wörter, sondern auch ihren Anfang und sogar das Wortinnere, und sie ist verflucht schwer. Die Dichtung hatte ihren Ursprung jedoch höchstwahrscheinlich nicht im Besingen vergangener Taten, sondern im Vorhersagen zukünftiger Ereignisse, als Medium der Seher und Schamanen des Stammes. Eine bereits erwähnte Theorie besagt, dass die Sprache der entwickelten arabischen Dichtung ihren Anfang als mystische Orakelsprache nahm:56 Die erste Bedeutung des Wortes schāʿir, später „Dichter“, ist höchstwahrscheinlich „Wahrsager“ und in seiner grundlegendsten Bedeutung ist ein schāʿir „jemand, der wahrnimmt, was andere nicht wahrnehmen können“.57

Obwohl es in den Tausenden safaitischen Inschriften auf den Wüstenfelsen nichts gibt, was man als Dichtung bezeichnen könnte, tauchen dort viele der späteren Themen der Dichtung auf – Liebe, Lust, Verlust, Raubzüge, Sehnsucht. Und obwohl die ältesten vollständigen Oden von den Dichtern der Kinda aus dem 6. Jahrhundert stammen, scheint es undenkbar, dass sie in dieser Form, ab ovo, entstanden sind. Die Dichtung muss sich in jenen frühen nachchristlichen Jahrhunderten auf mündlichen Reisen entlang der Handelsrouten erst allmählich entwickelt und auf dem Weg ihr Material aufgenommen und ihren Charakter herausgebildet haben. In der Tat geht es in vielen der ältesten Verse um Aufbruch, Reisen, Reittiere. „Geht!“ mahnte früh im 6. Jahrhundert al-Schanfarā,

Ihr habt all das, was ihr braucht: Der Mond steht hoch am Himmel,

die Reittiere sind zur Abreise geschirrt, die Sättel auch.

Ja, bei deinem Leben! Die Welt hat Platz für den,

der in der Nacht auf der Suche oder auf der Flucht ist …58

Das mag noch kein Epos sein, aber wie das homerische Griechisch bringt diese besondere, weit von der Alltagssprache entfernte Form des Arabischen unterschiedliche Elemente aus vielen Dialekten zusammen. Sie steigert sich zu einer schillernden sprachlichen Collage, feierlich und oft stark stilisiert, die sich aus vielen verschiedenen Fundstücken zusammensetzt. Arabischer Dichtung zu lauschen ist auch heute noch so, als betrete man eine geschmückte Höhle von Worten und Lauten, vertraut und unbekannt zugleich, und sie ist, in den schönsten Beispielen, immer noch mit dieser alten prophetischen Magie behaftet. In ganz Arabien, nicht nur in Karawanenstädten wie Qaryat Dhāt Kahl, sondern auch an den Lagerfeuern in den großen dunklen Wüsten dazwischen, verfielen Araber dem Zauber der Dichtung. Um ihre Macht zu verstehen, muss man die elitäre Außenseiterstellung vergessen, die die Dichtung etwa in der englischsprachigen Welt hat. Für Araber war die Dichtung (und ist es zum Teil bis heute) ein Massenmedium, so allgegenwärtig wie Satellitenfernsehen und so betörend wie Hollywood. Sie spielte eine gewaltige Rolle in der Errichtung einer Monokultur für ein gemischtes und mobiles Volk.

Vor allem diese letzte Eigenschaft, Mobilität, gab den Anstoß zur arabischen Aufwärtsdynamik. Unterschiedliche, aber mobile ʿarab, die in ganz Arabien als Frachtführer arbeiteten, vermischten sich und mussten kommunizieren können. Gegenseitige Anleihen aus den Dialekten bewirkten eine Sprachnivellierung – besonders, so scheint es, im Nadschd, dem Gebiet, in dem sich Qaryat Dhāt Kahl befand.59 Die Dichtung schuf eine weitere Version, eine Sprache, die nicht nur nivelliert, sondern auch gehoben war – ein Hochplateau, nach dem Dichter, Redner und Anführer aller Stämme und ihre Leute mit ihnen strebten. Mit anderen Worten: Die Mobilität von ʿarab war die Mutter der arabischen Sprache, und die arabische Sprache war die Mutter von Arabern – weder eine Nation im modernen Sinne noch ein schaʿb, ein „Volk“ im südarabischen Sinne, sondern eine Ansammlung von Stämmen, die mehr war als die Summe ihrer Teile – eine ethnische Gestalt. Um die Terminologie des deutschen Nationalismus zu bemühen: Wenn auch eine Staatsnation noch in weiter Ferne lag, so bildete sich doch immerhin schon eine Kulturnation heraus.60 Die arabische Aufwärtsdynamik nahm Fahrt auf und im 3. und 4. Jahrhundert n. Chr. war die Karawanenstadt Qaryat Dhāt Kahl wohl zeitweilig ihre Hauptachse. Mit der Zeit legte die Dynamik einen Zahn zu und die Achse verschob sich – schließlich nach Mekka hin, einem anderen Handelszentrum für Waren und Worte, dessen Einwohner sich damit brüsteten, die beste und eleganteste Variante der ʿarab-Sprache zu sprechen.61 Dortselbst wiederum erklomm diese Sprache dann im Koran den höchsten Gipfel und war dem Himmel sehr nah.

In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten setzte noch eine weitere Veränderung ein. Während sich die Dialektunterschiede zwischen Arabern allmählich verringerten, drang die nomadische Sprache in sesshafte Bevölkerungen vor und ein. Nomadische Araber spielten überhaupt eine immer größere Rolle, etwa als Söldner im Dienste ortsansässiger Herrscher, aber auch als einflussreiche Strippenzieher, die tatsächlich über den Ausgang der Streitereien zwischen den sesshaften Südländern mitbestimmten. In den auf uns gekommenen Dokumenten zeigt sich die Unterscheidung von zwei unterschiedlichen Gesellschaftsgruppen im Süden. Ab dem 2. Jahrhundert n. Chr. sprechen beispielsweise die Inschriften der südarabischen Hamdān-Föderation, die zunehmend einflussreicher wird, von „den aʿrāb von Hamdān und deren hdschr-Volk“ [Stadtbevölkerung].62 Ab dem darauffolgenden Jahrhundert bezeichnen sich die Herrscher des größten südlichen Gemeinwesens als „Könige von Saba und Himyar … und von ihren aʿrāb im Hochland und in der Küstenebene“. ʿArab waren leibhaftig und gesellschaftlich akzeptiert im Süden angekommen. Die hochmütigen Könige in ihren gewaltigen Palästen wurden zunehmend abhängig von ihren schmuddeligen Gästen.

Etwa in den letzten beiden Jahrhunderten vor dem Islam entwickelten sich ʿarab zur politisch wichtigsten Gruppe in der südlichen Gesellschaft. Ihre Sprache aber scheint schon viel früher andere Sprachen ausgelöscht zu haben. Bereits im 3. Jahrhundert n. Chr. könnten beispielsweise die Himyaren, die weiterhin ihre Inschriften auf Sabäisch, dem „Latein“ Südarabiens, verfassten, diese aber als rein epigrafische Sprache betrachtet und selbst eine andere gesprochen haben – die vermutlich immer mehr Arabisch enthielt.63 (Was der gelehrte jemenitische Historiker und Geograf al-Hamdānī im 10. Jahrhundert n. Chr. als die „himyarische“ Sprache bezeichnete, hat bis heute vereinzelt überlebt und ist im Prinzip Arabisch mit einigen sabäischen Zügen.)64 Wenn es zudem stimmt, dass es den meisten Südarabern kraft eines klerikalen Banns untersagt war, die sabäische Schrift zu verwenden, trug dieses Verbot ebenfalls nicht gerade zum Überleben der Schrift bei. Nicht nur nomadische Araber entwickelten eine Standardsprache, die Bewohner der Arabischen Halbinsel insgesamt waren auf dem Weg, arabischsprachig und so in einem neuen, vereinten und viel weiteren Sinne Araber zu werden. Auch heute noch werden die Menschen durch die Sprache vereint.

Oder anders gesagt: Schon in den ersten Jahrhunderten n. Chr. galt: Wenn die Sprache das Wort Arabiens einte, rissen andere Kräfte es auseinander.

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