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Die Umarmung der Kulturen
ОглавлениеAus der Perspektive des antiken Mittelmeerraums waren Politik und Theologie des südarabischen Fruchtbaren Halbmonds ebenso sehr ein Buch mit sieben Siegeln, wie sie es bis vor Kurzem für moderne Historiker waren. Was Griechen und Römer an den Südarabern faszinierte, war die Herstellung und der Export von Duftstoffen, insbesondere von Weihrauch und Myrrhe. Plinius der Ältere errechnete zum Beispiel, dass ein Kamel, das Weihrauch von seinem Herkunftsort in Arabia Felix zur Mittelmeerküste transportierte,2 437 500 (menschliche) Schritte zurücklegen müsste, wofür der Weihrauchhändler 688 denarii auf seiner Reisekostenabrechnung zu veranschlagen habe.36 Solche Distanzen wurden bereits 1000 Jahre zuvor, im 10. Jahrhundert v. Chr., bei der in der Bibel geschilderten Reise der Königin von Saba zum Hof König Salomos überwunden, bei der ebenfalls Gewürze und andere edle Güter mitgeführt wurden. Obwohl die genaue Identität der Königin Generationen von Forschern Kopfzerbrechen bereitet hat, stimmen die meisten darin überein, dass sie aus dem südarabischen Saba kam. Bis heute wurde in ihrer Heimat nichts gefunden, das ihre Existenz bestätigen oder widerlegen könnte. Funde sabäischer Erzeugnisse im heutigen Jordanien beweisen jedoch, dass zumindest ihre Landsleute die Reise bereits spätestens 800 v. Chr. antraten.
In den späteren vorchristlichen Jahrhunderten waren dann Nachbarn der Sabäer, die Minäer, die aktivsten und am weitesten gereisten Kaufleute. Einer von ihnen hinterließ zum Beispiel, vermutlich im 2. Jahrhundert v. Chr., auf der griechischen Insel Delos einen Altar für die Gottheit Wadd („Liebe“, später im Koran mit dem Bannfluch belegt).37 Ein anderer blieb gleich selbst – als Mumie – im ägyptischen Memphis zurück. Sein Sarkophag vermeldet, dass er Myrrhe für den Gebrauch in ägyptischen Tempeln importierte und im Gegenzug Tuch in seine Heimat exportierte.38 Später, während des Aufstiegs der Himyaren im 1. Jahrhundert n. Chr., schildert der Verfasser des griechischen Periplus, eines Handbuchs für den Seekaufmann, den enormen Verkehr in Muza, einer Hafenstadt am Zugang zum Roten Meer.39 Dieses rege Treiben unterstreicht, dass die Sabäer, „ein Volk in weiter Ferne“, wie sie im Buch Joel bezeichnet werden,40 in vielerlei Richtungen mit weit voneinander entfernten Wirtschaftssystemen verknüpft und in sie eingebunden waren. Damals mit Parfümen und Harzen, heute mit Öl und Gas.
Ein anderes Volk, das durch den Handel mit größeren Wirtschaftsstrukturen verbunden war, waren die Nabatäer, deren Herrschaftsbereich die Handelsrouten nordwestlich der Halbinsel umfasste. Anders als die Sabäer und ihre südarabischen Nachbarn sprachen die Nabatäer höchstwahrscheinlich eine Form des Arabischen.41 Wie die Sabäer betrachteten auch sie sich jedoch höchstwahrscheinlich nicht als ʿarab. Sie waren nicht nur ein sesshaftes Volk, sondern ihre geografische Position in der Levante, mehr im Schoß des Mittelmeers als auf der Arabischen Halbinsel, hatte sie sogar zu wahren Kosmopoliten gemacht. Wie Geier pickten sie aus den benachbarten aramäischen, hellenistischen und römischen Kulturen auf, was ihnen gefiel, und kehrten zu ihren Nestern auf den Felsen zurück, um es zu verdauen und wieder hochzuwürgen. Die Ergebnisse waren fabelhaft: Das beständigste, die klassische Architektur ihrer Hauptstadt Petra, besteht zwar nur aus Fassaden, ist aber deswegen noch keine Augenwischerei, keine Hollywoodkulisse. Und die Tatsache, dass sie nicht gebaut, sondern in festem Fels gehauen wurde, verleiht ihr eine titanische Pracht – himmelhohe Kolonnadenklippen mit Giebelgipfeln, die enorme Urnen bergen.
Zum Nordosten hin, in einer vergleichbaren Region an der Grenze zwischen Kulturen sowie zwischen fruchtbarem Land und Wildnis, lag der merkantile Stadtstaat Palmyra. Die Palmyrer waren ebenfalls arabischsprachige Nicht-ʿarab und wahre Kosmopoliten. Ihre eigene, von griechischen und römischen Vorbildern inspirierte Architektur bestand aus Rundbauten – die Menschen selbst aber legten sich überzeugend echte klassische Fassaden zu. So erschien der Prinz Wahballat („Geschenk von al-Lāt“, der höchsten weiblichen Gottheit) auf Münzen als „Caesar Wahballat Augustus“,42 während seine Mutter Zenobia (die latinisierte Form des bis heute gängigen arabischen Namens „Zainab“) den Eklektizismus noch weiter trieb und ihre Herkunft aus gleich mehreren Quellen schöpfte, indem sie nicht nur den Namen „Augusta“ annahm, sondern zudem behauptete, sie stamme auch von Kleopatra ab.43 Aus dieser multikulturellen Mischung ging zur gleichen Zeit ein Januskopf wie Philipp der Araber hervor, ein gebürtiger Damaszener, der in der Provinzverwaltung zum Prätorianerpräfekt avancierte und schließlich, im Jahr 244 n. Chr., römischer Kaiser wurde. Denn die Einflüsse gingen in beide Richtungen: Anderthalb Jahrhunderte zuvor hatte Juvenal schon beobachtet, dass
Iam pridem Syrus in Tiberim defluxit Orontes
Et linguam et mores.
Längst ist der syrische Orontes in den Tiber geflossen in Sprache und Sitten.44
Das alles ist weit entfernt von einem Kampf der Kulturen, es ist vielmehr eine enge Umarmung der Kulturen.
Selbstverständlich kann die Umarmung eines Mächtigen schwächere Verbündete ersticken, und mit der Zeit löschte Rom die Unabhängigkeit sowohl der Nabatäer als auch der Palmyrer aus. (Reiche gehen genauso gerne auf Raubzug wie Stämme: So kommen sie zustande.) Das nabatäische Hoheitsgebiet wurde 106 n. Chr. von Rom annektiert.45 Palmyra war bereits sehr früh von Marcus Antonius, dem Schänder des Orients, geplündert worden: Im Jahr 272 n. Chr. gliederte der römische Staat es sich dann ganz ein.46 Aber auch die Kulturplünderer fielen posthum gefährlichen Greifvögeln zum Opfer: Erst vor ein paar Jahren zerstörte der sogenannte Islamische Staat in einem Akt des Vandalismus die antiken Monumente der Stadt. Er hätte das Schicksal eines früheren (und viel milderen) Vandalen bedenken sollen: Der Umayyadenkalif Marwān II. soll in Palmyra die Statue einer Königin ausgegraben haben, deren Inschrift jeden verfluchte, der sie störte.47 Kurz darauf fiel die Dynastie der Umayyaden, der Kalif wurde zur Strecke gebracht und ermordet. Nun ist auch der „Islamische Staat“ gefallen.
Die Nabatäer und Palmyrer mögen arabisch gesprochen haben, mit ihrer sesshaften, manchmal epikureischen Lebensart und dem importierten Luxus fehlte ihnen aber das vorrangige Merkmal des ʿarab-Seins – der karge, nomadische Lebensstil der Steppe. Mit der Zeit sollte nabat, der arabische Name für die Nabatäer, zu einem Antonym für ʿarab werden.48 Gegensätze können sich anziehen. All diese Facetten Arabiens hingen tatsächlich zusammen, waren miteinander und mit der übrigen Welt und mit der Zeit immer enger verbunden.