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„Alle Araber“
ОглавлениеUnter Arabern war eine Aufwärtsdynamik im Gange, aus der fortschreitenden Standardisierung der Sprache wuchs allmählich eine Kultur-Nation hervor. Doch die Gegenbewegung dazu ruhte ebenfalls nicht, viele kleinere tribale Dynamiken von Überfall und Gegenangriff hatten spaltende Dauerwirkungen. Mit der zunehmenden Verwendung von Pferden und dem allmählichen Rückgang des Transports auf dem Landweg wurden sowohl Kamele als auch Kamelführer arbeits- und mittellos. Besonders der Fall von Petra und Palmyra im 2. und 3. Jahrhundert n. Chr. sowie die Instabilität im südlichen Fruchtbaren Halbmond hatten den Handel auf der Halbinsel gestört.92 Doch bereits seit der Zeit Gindibus, des ersten namentlich erwähnten Arabers, dessen 1000 Kamele gegen die Assyrer eingesetzt wurden, waren Araber freiberuflich für ihre mächtigen Nachbarn tätig gewesen, zunächst in der Spedition, dann im Grenzschutz und im gewerblichen Transport. Nun, da der Handel immer mehr der Plünderei wich, ergaben sich Möglichkeiten für einen Laufbahnwechsel vom Spediteur zum Söldner.
Die endgültige Eroberung Palmyras durch das Römische Reich im Jahr 272 n. Chr. brachte die beiden großen imperialen Mächte, Rom und Persien, näher zusammen als je zuvor. Für Araber barg diese Nähe Risiken, aber auch Chancen. „Die Araber wurden am meisten gestärkt, wenn es in der Epoche mehr als eine dominante [benachbarte] Macht gab“, heißt es bei Eugene Rogan.93 Rogan dachte an jüngere Mächte – Großbritannien und Frankreich, die NATO und den Warschauer Pakt –, aber seine Beobachtung lässt sich mit Fug und Recht auch auf die Epoche von Rom und Persien (sowie auf die Epoche von Assyrien und Babylon) übertragen. Ein Beleg für eine solche Stärkung im 4. Jahrhundert n. Chr. stellt die Grabinschrift dar, die 1901 in der Nähe der Burg von al-Namāra entdeckt wurde, 120 Kilometer südöstlich von Damaskus. Verfasst in „einer Entwicklungsstufe des nabatäischen Alphabets auf ihrem Weg zum Arabischen hin“, ist sie nicht leicht zu lesen.94 Doch trotz der möglichen Varianten und nicht entschlüsselbaren Wörter ist sie als grundlegender Text der arabischen Geschichte so wichtig wie die erste assyrische Erwähnung von Arabern. Die Grabinschrift von al-Namāra ist nicht nur eines der ersten Zeugnisse dessen, was später das einheitliche Standardarabisch werden sollte.95 Sie ist auch die erste bekannte Erwähnung von Arabern durch Araber, in ihrer eigenen Sprache. „Dies“, so lautet der Anfangssatz, „ist das Denkmal von Imruʾ al-Qais Sohn des Amr, König aller Araber …“ Dann wird erwähnt, dass der König vier große Stämme Arabiens unterwarf und Nadschrān überfiel, 1700 Kilometer südlich von al-Namāra, „im bewässerten Land“ des himyarischen Herrschers. Sie schließt mit der Aussage: „Kein anderer König war seinen Errungenschaften gleichgekommen …, als er im Jahr 223, am siebten Tag von Kislul starb.“96 Die Jahresangabe nach einem örtlichen Kalender entspricht dem Jahr 328 n. Chr.
Soweit die in der Forschung nicht umstrittenen Teile des Textes. Der Rest birgt nicht nur sprachliche Unwägbarkeiten, sondern gibt auch ein historisches Rätsel auf. Imruʾ al-Qais nämlich kennen spätere arabische Historiker als den zweiten Herrscher von al-Hīra im persisch-dominierten Irak,97 und durch eine persische Inschrift liegt die Bestätigung dafür vor, dass sein Vater ein Vasall des sassanidischen Reiches war.98 Doch sein Grab in al-Namāra liegt 750 Kilometer von al-Hīra entfernt im römischen Einflussbereich. Es sind andere Erklärungen denkbar, aber die wahrscheinlichste ist, dass er abtrünnig geworden und gemeinsam mit zumindest einem Teil seines Stammes, Lachm, zur römischen Seite „übergelaufen war“.99 Nach Ansicht eines arabischen Historikers spricht einiges dafür, dass er aus religiösen Gründen übergelaufen und Christ geworden sei.100 Zudem besagt eine mögliche Lesart eines umstrittenen Satzes in der Inschrift, dass er die Aristokraten der schaʿbs, der Völker, als Vizekönige benannte, und dass „sie Anführer für die Römer wurden“.101
Wie dem auch sei, bei aller Unwägbarkeit der Interpretation wird doch zumindest eines deutlich: Die Politik der Supermächte hatte Einfluss auf die Region, und es ist mehr als nur vorstellbar, dass Imruʾ al-Qais die Großmächte benutzte, um sich selbst eine transarabische Bühne zu geben, vom nördlichen Fruchtbaren Halbmond bis zum „bewässerten Land“ des südlichen Gegenstücks. Deutlich ist auch, dass in dieser im 4. Jahrhundert stattfindenden Partie des „Großen Spiels“102, der scheinbar ewigen Konfrontation von Imperien nördlich der Arabischen Halbinsel, arabische Bauern das Brett überquerten und zu Königen, zu eigenständigen Hauptakteuren wurden. (Königinnen scheinen nach der an Extravaganz kaum zu überbietenden, aber besiegten Zenobia aus der Mode gekommen zu sein.)
Das Spiel war so alt wie die älteste Erwähnung von Arabern, 1000 Jahre vor dem Fall von Petra und Palmyra, und es ist noch im Gange. Doch die Rolle, die Imruʾ al-Qais, „König aller Araber“, darin spielte, wirft eine Frage auf: Hat er selbst diesen königlichen Titel angenommen oder war er ihm von einem seiner imperialen Nachbarn verliehen worden? Es gibt spätere Beispiele von Supermächten, die Königstitel vergaben. Prokopios erwähnt zum Beispiel, dass die Römer im frühen 6. Jahrhundert n. Chr. ihren Klienten, den Ghassanidenherrscher, „König der Araber“ nannten, als Reaktion auf die persische Unterstützung für Imruʾ al-Qaisʼ Dynastie der Lachmiden (die zu diesem Zeitpunkt längst in den Schoß der Perser zurückgekehrt war). Andererseits bestätigen spätere arabische Quellen, dass die Perser diejenigen waren, die Lachmidenanführern während dieser Zeit den Titel „König der Araber“ verliehen.103 Es erscheint durchaus wahrscheinlich, dass Imruʾ al-Qais ein früher Nutznießer dieses titulären do ut des war, oder anders gesagt: dass er sich selbst als „König aller Araber“ sah, weil Rom oder Persien ihm gesagt hatte, dass er das sei.
Wenn die Annahme korrekt ist, wirft sie eine weitere Frage auf: Kam die erste Vorstellung von allumfassender arabischer Einheit nicht von Arabern selbst, sondern von außen – von den nichtarabischen Nachbarn? Wenn die eine oder andere Supermacht (oder gar beide) einem offiziell sagt, man sei ein König, gibt einem das nicht leicht das Gefühl, man sei tatsächlich ein König und den Freibrief, dann auch so zu handeln und seine potenziellen Untertanen, wie gespalten sie in Wirklichkeit auch sein mögen, als Einheit, als „alle Araber“ zu betrachten? Nachdem ihre Nachbarn ihnen über ein Jahrtausend lang gesagt hatten, sie seien Araber, eine eigene Gruppe mit einer Identität, war die Botschaft vielleicht endlich angekommen. Gewiss, ich lese hier wirklich zwischen den Zeilen von Imruʾ al-Qaisʼ Grabinschrift. Aber wie wir sehen werden, ist es unverkennbar, dass ab dem Zeitpunkt seiner Herrschaft die Macht einer vereinten arabischen Kultur zu wachsen begann – und es ist von entscheidender Bedeutung, dass dies unter der Schirmherrschaft der imperialen Klientelkönige geschah, die ihm sowohl auf persischer als auch auf römischer Seite nachfolgten.
Sicherlich haben Reiche und ihre Streiche in jüngerer Zeit die nationale Identität genährt und das Streben nach politischer Einheit beflügelt. Es ist ein Jahrhundert her, dass die Briten für den von ihnen ausgerufenen „König der Araber“ warben, Scherif Husain von Mekka.104 Das darauffolgende Doppelspiel und die zerstörten Hoffnungen befeuerten die Ressentiments und nährten den Nationalismus. Das wird in den Tagen von Rom, Byzanz und Persien nicht viel anders gewesen sein. Die imperialen Herren hielten ihren arabischen Protegés eine Krone vor die Nase, rissen sie ihnen aber genauso schnell wieder vom Haupt und untergruben so die Einheit, die sie symbolisieren sollte, indem sie Araber gegeneinander aufhetzten. Letzten Endes hat das alles das arabische Gefühl einer gemeinsamen Identität nur verstärkt. Der Keim der „Selbstheit“, wenn auch von imperialen Anderen gesät, gedieh durch die Abgrenzung von Anderen: Er wuchs zu einer Suche nach Selbstbestimmung.
In der Zeit des Königs Imruʾ al-Qais war er aber noch ein Keim. Bestimmt hätte die große Mehrheit „aller Araber“ beim Gedanken, einer einzigen Gruppe von Menschen mit einem einzigen König anzugehören, höchstens mit den Augenbrauen gezuckt. Sowohl königliche Ansprüche als auch imperiale Politik, sei es Vereine-und-herrsche oder Teile-und-herrsche, wurden von der Realität überholt – von der Tatsache, dass Araber geteilt und unbeherrschbar blieben. Dennoch saßen die Nachfolger des Königs auf ihren geliehenen Thronen, während die Supermächte sie und Arabien drei weitere Jahrhunderte im Auge behielten und ihnen mit der einen Hand die Krone aufsetzen, um sie mit der anderen wieder wegzunehmen. Ein Beobachter in früher islamischer Zeit formulierte es so: Araber in dieser Zeit waren „auf einem Felsen zwischen zwei Löwen, Persien und Rom, eingeklemmt“105 – das dürfte noch etwas unbequemer gewesen sein als in einer Zwickmühle zu sitzen.