Читать книгу Staatsrecht I - Ute Mager - Страница 38
1.2Art. 79 Abs. 3 GG: Die „Ewigkeitsgarantie“
Оглавление65Art. 79 Abs. 3 GG zieht die inhaltlichen Grenzen für jegliche Verfassungsänderung. Unzulässig sind danach Änderungen des Grundgesetzes, welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze berühren. Diese Vorschrift wird – missverständlich – als Ewigkeitsgarantie13 bezeichnet. Der ewige Bestand des GG ist damit aber weder tatsächlich garantiert noch auch nur gesollt. Revolutionäre Abschaffung des Grundgesetzes lässt sich normativ nicht verhindern, friedliche Verfassungsneuschaffung will das Grundgesetz nicht ausschließen, wie Art. 146 GG belegt.14 Die Funktion der Regelung besteht vielmehr darin, die Abschaffung der Verfassung unter dem Deckmantel der Verfassungsänderung unmöglich zu machen. Eine Verfassung ohne die in Art. 79 Abs. 3 GG genannten föderalen Elemente wäre – bei aller Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – nicht mehr das Grundgesetz. Auch eine Verfassung ohne Menschenwürdegarantie und Grundrechtsbindung aller staatlichen Gewalten (Art. 1 GG) oder unter Aufgabe auch nur eines der in Art. 20 GG genannten Staatsstrukturprinzipien wäre eine andere Verfassung und nicht nur eine Modifikation der bestehenden. Art. 79 Abs. 3 GG garantiert damit einen Verfassungskern und einen inhaltlichen Maßstab, an dem selbst noch verfassungsändernde Gesetze vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungs(kern)gemäßheit überprüft werden können. Art. 23 Abs. 1 Satz 3 GG verdeutlicht zudem, dass der in Art. 79 Abs. 3 GG verankerte Verfassungskern im Sinne der Bewahrung der Verfassungsidentität15 auch der europäischen Integration Grenzen zieht. Eine unbegrenzte Kompetenzverlagerung auf die EU ist dadurch ausgeschlossen.16
66Für die Auslegung des Art. 79 Abs. 3 GG ist seine Funktion, Verfassungsaushöhlung und Verfassungsabschaffung zu verhindern, besonders wichtig. Daraus ergibt sich zunächst notwendig, dass Art. 79 Abs. 3 GG selbst einer Abschaffung oder Änderung nicht zugänglich ist.17 Im Lichte der Funktion erschließt sich auch, was mit dem „Berühren“ der in Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze gemeint ist, denn die Auslegung dieses Begriffs entscheidet über die schwierige Balance zwischen notwendiger Flexibilität und unantastbarem Verfassungskern.
Das Bundesverfassungsgericht hat im Abhörurteil die Frage, ob der Ausschluss des verfassungsrechtlich garantierten Rechtswegs in Bezug auf Abhörmaßnahmen (Art. 10 Abs. 2 und Art. 19 Abs. 4 Satz 3 GG) das Rechtsstaatsprinzip berühre und deshalb gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoße, aus den folgenden Gründen verneint:18 Der Sinn der Vorschrift bestehe darin „zu verhindern, dass die geltende Verfassungsordnung in ihrer Substanz (…) auf dem formal-legalistischen Weg eines verfassungsändernden Gesetzes beseitigt und zur nachträglichen Legalisierung eines totalitären Regimes missbraucht werden kann“. Die Grundsätze seien nicht berührt, wenn sie für eine Sonderlage aus evident sachgerechten Gründen modifiziert würden.19
Zutreffend ist, dass Grundsätze dann nicht als Grundsätze (= Prinzipien) berührt sind, wenn sie im Regelfall Geltung haben. Diese Interpretation wird der dargelegten Funktion des Art. 79 Abs. 3 GG gerecht. Als Regelung eines außerordentlichen Einzelfalls ist es daher auch mit Art. 79 Abs. 3 GG vereinbar, dass der mit dem Einigungsvertrag eingefügte Art. 143 GG in Abs. 3 bestimmt, dass Eingriffe in das Eigentum auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, die auf Art. 41 EinigungsV (EV)20 beruhen, nicht mehr rückgängig gemacht werden.21 Die Vorschrift schließt die Rückübertragung von Eigentum aus, das die sowjetische Besatzungsmacht zwischen 1945 und 1949 konfisziert (= entschädigungslos enteignet) hatte.
67Die Frage eines Verstoßes gegen Art. 79 Abs. 3 GG stellte sich auch, als der verfassungsändernde Gesetzgeber das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung gemäß Art. 13 GG um Schranken ergänzte, die den sog. Großen Lauschangriff, dh. das technische Abhören und Ausspähen in der Wohnung, ermöglichen. Die Beschwerdeführer, die das Gesetz vor dem Bundesverfassungsgericht angriffen, sahen darin eine Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und damit des Art. 79 Abs. 3 GG. Dieses Argument ist durch den Regel-Ausnahme-Ansatz nicht zu entkräften, denn die Menschenwürde verträgt keine (auch keine ausnahmsweise) Beeinträchtigung. Die tragende Mehrheit des Senats hat denn auch eine andere Argumentationsstrategie gewählt: Getragen von der Überlegung, dass dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht unterstellt werden kann, gegen Art. 79 Abs. 3 GG verstoßen zu wollen, stellt das Gericht fest: „Die durch Verfassungsänderung eingefügten Grundrechtsschranken sind daher in systematischer Interpretation unter Rückgriff auf andere Grundrechtsnormen, insbesondere Art. 1 Abs. 1 GG, und unter Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auszulegen.“22 Indem Art. 1 Abs. 1 GG in die Schranken des Art. 13 GG hineingelesen wird, ist ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG und damit gegen Art. 79 Abs. 3 GG ausgeschlossen.23 Grenze dieser Art der verfassungskernwahrenden Auslegung ist der Wortlaut: „Die Grenzen der Auslegung von Verfassungsrecht liegen auch für eine durch Verfassungsänderung geschaffene Norm dort, wo einer nach Wortlaut und Sinn eindeutigen Vorschrift ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm grundlegend neu bestimmt oder das normative Ziel in einem wesentlichen Punkt verfehlt würde.“24 In einer abweichenden Meinung haben zwei Richterinnen das Vorgehen der Senatsmehrheit, den Prüfungsmaßstab gleichzeitig als Auslegungsgrundsatz zu verwenden und damit zum ungeschriebenen Inhalt der zu prüfenden Norm zu machen, kritisiert. Normenklarheit und Bestimmtheit geböten, dass die Wahrung des Verfassungskerns aus dem Text der Norm heraus erkennbar sei.25
Rechtsprechung: BVerfGE 30, 1 – G 10; 84, 90; 94, 12; 102, 254 – Grundsatzentscheidungen zur Bodenreform; 109, 279 – Großer Lauschangriff; 123, 267 – Vertrag von Lissabon; EGMR, NJW 2005, 2530 – Bodenreform.
Literatur: U. Hufeld, Die Verfassungsdurchbrechung, 1997; O. Lepsius, Der Große Lauschangriff vor dem BVerfG, Jura 2005, 433 und 586; G. Robbers, Die Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, Jura 1993, 69; P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes, 2002.
Fallbearbeitungen: J. Rozek, Der exekutive Freistaat, JuS 2008, 250 (Examensklausur).