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Duisburg Meiderich

Die Turnhalle war brechend voll. Auf den hölzernen Gymnastikbänken saßen die Erwachsenen, vorwiegend Frauen. Eigentlich waren sie gekommen, um ihre Töchter bei dem Tanzunterricht beobachten zu wollen. Aber durch ihre große Anzahl saßen sie gedrängt nebeneinander. So ließ es sich nicht vermeiden, dass man miteinander ins Gespräch kam. Gespräche führen zu können, mündete meist in einen Zwang, sie führen zu müssen. Die tanzenden Kinder verlor man dabei aus den Augen. Aber dies war nicht nur ohne Konsequenzen, sondern auch belanglos, da die beiden Übungsleiterinnen die 19 Kinder voll im Griff hatten. Die Kinder waren über die Hälfte der Halle verteilt. Eine Übungsleiterin stand vor den Kindern und vollzog einfache Körperbewegungen. Die Beine mussten eine Folge von vier Schritten machen, wobei die Arme ebenfalls gedreht wurden. Die Kinder versuchten, diese Bewegungen alle gleichzeitig nachzumachen. Da, wo es an der einen oder anderen Stelle haperte, versuchte die zweite Übungsleiterin das einzelne Kind zu korrigieren. Die Musik dazu war fetzig und die Kinder versuchten, ihre Bewegungen dem Rhythmus der Melodie anzupassen. Wenn es opportun erschien, dann wurde eine Sequenz wiederholt, was die Kleinen aber begeistert mitmachten.

Mikael Knoop saß etwas verloren unter all den Müttern. Er war vielen als der Vater von AnnaLena bekannt. Aber er begleitete Anna so selten zu der Übungsstunde der Kits, dass sich daraus noch keine Bekanntschaften entwickelt hatten. Das sah er aber nicht als ein Manko an. Er war eigentlich froh, eine lange Zeit seine Tochter ungestört beobachten zu können. Es war AnnaLena, die ihre Eltern gezwungen hatte, Mitglied im Tanzclub „Schwarz-Gelb-Meiderich“ zu werden, weil alle ihre Klassenfreundinnen hier mitmachten. Knoop war begeistert, mit welchem Elan seine Tochter zu den Übungsstunden drängte und mit welchem Eifer sie dort teilnahm. Er war überzeugt, dass sie dieses Verhalten von ihm hatte. Tanzen war zwar nicht sein Sport, aber Sport war für ihn immer bedeutsam gewesen und als er damals nach einigem Suchen zum American Football gefunden hatte, da hatte er diesen Sport mit gleicher Hingabe betrieben, wie Anna ihr Modern Dancing.

Die beiden Übungsleiterinnen verordneten eine Pause. Wer nun geglaubt hatte, die Kinder würden Ruhe brauchen, um sich von den sportlichen Anstrengungen erholen zu müssen, der sah sich getäuscht. Pause war für die Kleinen gleichbedeutend mit der Aufforderung zum Tosen, zum unkontrollierten Toben. Die Lautstärke der Kinderstimmen steigerte sich um ein Vielfaches. Die kleinen Körper flitzten durcheinander, als gelte es, sich aus einer langen Phase von Inaktivität nun endlich bewegen zu dürfen. Auch Anna befand sich mitten unter den Kindern und kümmerte sich nicht um ihren Vater. Nur einmal kam sie auf Knoop zu gestürmt und verlangte mit überhasteter Stimme nach Wasser. Die Ermahnung, langsam zu trinken, fand bei ihr kein Gehör. Während sie in eiligen Zügen trank, schaute sie auf die Sportfläche, um ihre Gespielinnen zu achten. Atemlos drückte sie ihrem Vater die geöffnete Plastikflasche in die Hand. Sie schien keine Zeit zu habend, diese auch noch zu verschließen. Wortlos, nur einige unverständliche Laute von sich gebend, lief sie auf die Gruppe zu und war kurz darauf nicht mehr unter den tobenden Kindern zu erkennen.

Knoop seufzte ein wenig. Dies war sicherlich die schönste Zeit in ihrem Leben, sich sorglos seinen Bedürfnissen hingeben zu können. Viel zu schnell würde dieser Zeitabschnitt zu Ende sein. Das Berufsleben würde auf Bedürfnisse dieser Art wenig Rücksicht nehmen. Dann müsste man sehen, wie man zurecht kam. Überdies würden andere bestimmen, was man zu machen hatte. Funktionieren war das Motto, dem dann alles unterworfen würde. Er schaute auf eine Sprossenwand. An dieser hatte er als Junge beim Sportunterricht immer Klimmzüge machen müssen. Ertüchtigung war das damalige Ziel des Sportunterrichts gewesen, nicht Spaß an der Bewegung und am Spiel. Manchmal wünschte er, der Schulsport von damals hätte ein wenig von dem heutigen gehabt. Funktionieren wurde damals schon über den Sport eingeübt. Das Bild seiner Dienststelle entstand vor seinen Augen. Seit über zehn Jahren war er schon in dieser Abteilung. Mord und Tötungsdelikte bearbeitete man hier. Das war sein Wunsch gewesen. Deshalb hatte er diesen Beruf gewählt. Er brauchte Aktivität bei seiner Beschäftigung. Er war kein Schreibtischmensch, der nur Papierstapel heben sollte. Es waren nicht die Kriminalromane gewesen, wie manche behaupteten, die zu diesem Beruf führten. Ihn interessierten die Menschen, auch wie abwegig sie dachten und handelten. Diesem auf die Schliche zu kommen, dies fand er interessant. Ihm war stets klar gewesen, dass man in seinem Beruf nicht – wie im Roman – einen prekären Mordfall nach dem nächsten aufzuklären hatte. Solche Supertypen würden spätestens nach dem zweiten Erfolg befördert werden. Dieses bedeutete aber dann, nicht mehr aufklären zu dürfen, sondern die Aufklärung zu koordinieren. Man war sozusagen >weg vom Fenster< von seiner ursprünglichen Tätigkeit. Und Aufgabenabstimmung Untergebener als Tätigkeitsfeld für die Lösung von Kriminalfällen, dies interessierte ihn im Moment sehr wenig. Er wollte ran an die Menschen, in deren Umfeld er sich bewegte. Es war für ihn wie ein Spiel, Leugner zu überführen, oder Unschuldige zu entlasten. Die Fälle, bei denen sich Täter unmittelbar nach ihrer Tat bei der Polizei meldeten, interessierten ihn wenig. Das war reine Beweissicherung. Interessanter waren die Täuscher, Trickser, die glaubten, so schlau zu sein, um ungeschoren davon kommen zu können. Und er wollte Verantwortung übernehmen, um solche Untersuchungen zu steuern. Aber dies traute man ihm nicht zu. Dies war sein aktuelles Problem. Ihm war klar, dass man eine solche Verantwortung nirgendwo serviert bekommen würde. Man musste zeigen was in einem steckte. Er hatte schon an einer Vielzahl von MKs mitgewirkt, wie die Mordkommissionen abgekürzt wurden. Und er bildete sich ein, hier immer einen guten Riecher gezeigt zu haben. In einem Fall, erinnerte er sich, hatte er durch seine Untersuchungen den entscheidenden Hinweis gefunden, der dem Täter zum Verhängnis wurde. In einer Brandstiftung mit Todesfolge, hatte er in den Kontoauszügen den Hinweis auf eine Rechnung gefunden. Er war dieser Spur nachgegangen, hatte bei dem Baumarkt diese Rechnung aufgestöbert und dort die Sachen aufgelistet gefunden, die der Täter nachweislich bei seiner Brandlegung verwendet hatte. Sicherlich, man hatte ihn gelobt. Das braucht man auch in einem Beruf, der mit Rückschlägen reichlich gesegnet ist. Aber mehr war auch nicht erfolgt. Statt dessen begutachtete er den Ort von alten Menschen, die man tot in ihrer Wohnung aufgefunden hatte. Er hatte zu entscheiden, ob Altersschwäche oder Lebensunlust zum Tode geführt hatten, oder der habgierige Neffe, Bruder, Onkel hier beschleunigend eingewirkt hatten. Störend war hier der Papierkram, wie es auf seiner Dienststelle hieß. Alles musste protokolliert werden, damit man bei überraschenden Rückfragen zweifelsfrei die Tatumstände klären konnte. Papierkram, Papierkram, Papier...

Das in die Händeklatschen der beiden Übungleiterinnen riss Knoop aus seinen Gedanken. Anstandslos kamen die Kinder der Aufforderung nach, zu schweigen. Man verteilte sich über die Fläche. Die eine Übungsleiterin stellte sich in Front zu den Kindern auf. Die Musik ertönte und die Gruppe begann sich zu bewegen, wie es die Leiterin vormachte. Knoop schaute auf die Uhr. In einer Viertelstunde würde die Übungsstunde zu Ende sein. Er beschloss, nachdem er AnnaLena nach Hause gebracht hatte, noch ein wenig durch die Ruhrauen laufen würde, die in der Nähe seiner Wohnung lagen. Eigentlich müsste er noch einige Aussagen im Todesfall eines Zimmerbrandes überprüfen. Er beschloss spontan, die Sache auf die nächste Woche zu verschieben. Würde er es heute, am Samstag, machen, keiner würde dies honorieren. Im Moment war es für ihn wichtiger, Kondition zu haben. Sein Trainer Bertold Mayerhold hatte dies nach dem letzten Training der Volleyballmannschaft von ihm eingefordert. Knoop hatte zugeben müssen, viel zu wenig für seine Ausdauer gemacht zu haben. Auf eine Wiederholung dieser Blamage legte er wenig Wert.

Zum Laufen fuhr Mikael Knoop mit dem Auto immer zu den Ruhrauen, die etwas entfernt von seiner Wohnung lagen. An der Emmericher Straße gab es immer Parkmöglichkeiten. So auch jetzt. Kaum jemand kam ihm entgegen. Nur die Hunde störten. Bei manchen musste man einfach den Lauf unterbrechen, wollte man nicht deren Zähne in der Wade spüren. Er hatte sich hier eine Laufstrecke ausgetüftelt, die er je nach Bedarf auf vier oder sieben Kilometer ausweiten konnte. Er machte ein paar Lockerungsübungen, bevor er losrannte. Die Ruhrauen waren fest in der Hand von Spaziergängern, Dauerläufern und Radfahrern. Eigentlich wurden die Wiesen, wenn sie denn nicht überschwemmt waren, von Schafherden genutzt. Aber das störte den privaten Gebrauch dieser Freifläche nicht. Sein Weg führte, ehe man zu den Ruhrwiesen kam, an einigen einzelstehenden kleinen Häuschen vorbei. An einem der letzten Häuser, es war mehr eine Wohnlaube, denn eine Behausung, stand ein Mann an seinem Gartenzaum und schaute ihm interessiert zu. Der Zaun könnte auch einmal gestrichen werden, ging es Mikael durch den Kopf. Statt seine Zeit mit Personenbegaffen zu vertrödeln, könnte der Mann doch etwas für den Erhalt seines heruntergekommenen Anwesens tun. Weil der Mann ihn aber so eindringend beobachtete, grüßte er ihn mit einem freundlichen Kopfnicken. Er war gerade einige Meter weiter gelaufen, als er von hinten eine krächzende Stimme vernahm: „Meinen Sie, dies ist gesund, was sie da tun?“

Mikael war pikiert, so angesprochen zu werden. Er verlangsamte seine Schritte, hielt schließlich inne und drehte sich zu dem Fragesteller um. „Warum nicht?“ Seine Stirn wölbt sich zu Falten.

„Das kann doch nicht gesund sein, seine Gelenke und Muskeln so zu beanspruchen“, kam umgehend der Bescheid.

„Aber die Muskeln müssen bewegt, das Herz-Kreislaufsystem muss auf Touren gebracht werden.“ Die Entgegnung klang selbst für Mikael ein wenig hilflos.

„Wer sagt dies?“

„Die Ärzte, Mediziner, Sporttherapeuten“, kam es fassungslos aus Mikaels Mund.

„Leute also, die nur am Schreibtisch sitzen.“ Die krächzende Stimme zeigte sich vorbereitet. Ein Lachen rundete die Antwort ab.

„Trotzdem kann es gesund sein.“, entgegnete Mikael trotzig.

„Das kann man beim Herumgehen doch auch alles haben.“

„Aber nicht mit der notwendigen Intensität“, beschied Mikael ihm. Er wusste nicht, ob ihn der Mann auf den Arm nahm, oder ob er es ernst meinte. Er wollte schon einfach grußlos weiter laufen, als der Unbekannte nachhakte: „Ich sehe, Sie haben sich damit beschäftigt. Aber glauben Sie wirklich, was die Wissenschaftler da so behaupten? Die sitzen am Schreibtisch, lassen sich das ein oder andere einfallen und Sie laufen dann einfach los, weil dies angeblich gut sein soll?“

„Ich fühle mich nachher einfach wohler.“, versuchte es Knoop auf dieser Schiene.

„Wenn ich hier stehe, dann fühle ich mich auch wohl. Haben Sie nach dem Laufen keinen Muskelkater, keine Müdigkeit in den Muskeln, fühlen Sie sich nicht schlapp?“ In der krächzenden Stimme schwang so etwas wie Hohn mit.

„Das schon entgegnete Knoop, aber nachher ...“

Unhöflich unterbrach der Heisere seine Erklärung. „Sehen Sie, dies verdanken sie Ihrem Körper. Der muss das ausbaden, was Sie ihm angetan haben. Wenn Sie nicht laufen, dann haben Sie keinerlei Beschwerden. Ihr Körper fühlt sich gut, muss nichts reparieren, was Sie ihm angetan haben.“

Knoop änderte seine Strategie und ging zum Gegenangriff über. „Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann ist Nichtbewegung das einzig Richtige?“

„Bewegung!“ verbesserte die krächzende Stimme. „Von Nichtbewegung habe ich nicht gesprochen. Bewegen, so wie es der Körper braucht, das ist gut. Wenn ich gehen muss, dann geht man, wenn ich mich bücken muss, dann bückt man sich. Aber Rennen, dies ist schädlich.“ Er zögerte. „Okay, wenn ich die abfahrende Straßenbahn erreichen muss, dann renne ich. Aber stundenlanges Laufen?“ Der Mann schüttelte widerwillig seinen Kopf. „Ungesund. Ungesund sage ich nur.“

Ärger stieg in Mikael auf. Was für ein Ignorant dachte er, wollte es aber nicht aussprechen. „Und wenn Sie sitzen wollen, dann sitzen Sie den ganzen Tag herum?“ Mikaels Stimme klang bewusst provozierend.

„Wenn ich sitzen muss, dann ja. Aber ich bin doch nicht faul. Ich habe so meine Aufgaben, die erledigt werden müssen.“

Knoop dachte den Gedanken mit dem Renovieren noch einmal, wollte ihn aber nicht äußern, um nicht zu provozieren. Er wollte es schon aufgeben. Die Unterhaltung brachte nichts mehr. Einen letzten Versuch wollte er allerdings starten. „Wenn Sie immer nur gehen und dann müssen Sie plötzlich rennen, dann ist die Gefahr der Verletzung doch sehr groß?“

„Umgekehrt!“ Die krächzende Stimme nahm unverhohlen einen triumphierenden Tonfall an. „Umgekehrt. Sehen Sie Sportübertragungen im Fernsehen? Fußball? Tennis? Leichtathletik? Die sind doch jeden Moment verletzt. Meniskus, Zerrungen hier und dort. Muskelfaserrisse jeden Meter. Und ich sage Ihnen, das kommt daher, dass die sich zu viel bewegen. Ich habe mir beim Fernsehgucken noch keinen Muskel gerissen.“ Der Mann lachte über seinen eigenen Witz.

„Na, dann lehnen Sie sich mal schön an Ihren Gartenzaun und beobachten mich beim Laufen.“ Knoop drehte sich um und begann seine Runde.

Der Mann ohne Konturen

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