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Schermbeck

Schermbeck ist eine uralte Siedlung. Sie ist über 1200 Jahre alt. Für diejenigen, die wir gewohnt sind, Zahlen in Geldbeträgen zu denken, ist das nicht viel. Stellt man aber die Zahl in den historischen Kontext, dann kommt dem Alter eine ganz andere Bedeutung zu. Schermbeck entstand, als Karl der Große in Rom zum Kaiser gekrönt wurde. Und Karl der Große war der Erste, der die politischen Strukturen in Nordeuropa schaffte. Vorher gab es hier nämlich Nichts. Nichts außer Natur. Schermbeck als Siedlung hat über die Dauer der Zeit nur in ihren Bruchstücken existiert. Das lag daran, dass sie als Grenzsiedung erreichtet wurde und immer eine Grenzsiedlung blieb. Hier teilte man Rheinland und Westfalen ebenso voneinander, wie den Kölner, Klever und den Münsterschen Gebietsanspruch. Da diese Grenze sich fortwährend verschob, oszillierten auch die Bruchstücke von Schermbeck in diesen Gebieten. Erst im Zwanzigsten Jahrhundert und konkret durch die Kommunalreform in Nordrhein-Westfalen 1975 kam zusammen, was bislang nicht zusammenkommen konnte. Dieses Zusammenwachsen war so erfolgreich, dass sich nur noch die Alten in der Gemeinde daran erinnern können, dass die heutigen Ortsteile früher selbständige Bürgermeister hatten.

Lisa Krause legte den Schriftverkehr der Gemeinde ab. Sie trug ein obergenienfarbenes Kostüm, aus dem eine beige Bluse mit einer riesigen Rüsche hervorschaute. Dabei hatte sie stets ein Auge auf den Terminkalender. Wenn er pünktlich war, dann würde in einigen Minuten der Transportunternehmer Josef Blasshorst erscheinen. Frau Krause legte kontrollierend ihre Hände an die mit Festiger in Form gebrachte Frisur. Sie fragte sich, wie ein solcher Mensch überhaupt Unternehmer sein konnte. Er war immer zögerlich. Erst nach mehrmaligem Abwägen traf er eine Entscheidung. Sein Vater war früh an einem Herzinfarkt gestorben. Josef, der eigentlich auf ein angenehmes Leben auf Kosten seiner Eltern gehofft hatte, musste nun selbst in die Bresche springen, ohne eigentlich auf seine neue Tätigkeit vorbereitet zu sein. Da er seinen Vater nun nicht mehr fragen konnte, war der Bürgermeister mehr und mehr in diese Rolle geschlüpft. Bürgermeister Hansen war dies recht, konnte er so leichter die Transportprobleme der Gemeinde steuern. Transport bedeutete Transport von Menschen. Es waren Schüler, Unternehmungslustige oder Flughafennutzer, die er transportierte. Auch im Öffentlichen Nahverkehr war er tätig. Blasshorst hatte die Vaterrolle des Bürgermeisters akzeptiert und die bequeme Steuerung durch den ersten Mann in der Gemeinde Akzeptiert. Er nahm jedenfalls keinen Anstoß daran. Die Gemeinde Schermbeck war, was den Schülertransport betraf, sein größter Auftraggeber und wenn es nach Blasshorst ginge, dann könnte es so auch in Zukunft so bleiben. Schlagartig war er aus diesem bequemen Zustand herauskatapultiert worden.

Und richtig, pünktlich auf die Minute klopfte es an der Türe und auf ihr „Herein“ betrat Blasshorst das Vorzimmer des Bürgermeisters. Er trug einen dunklen Anzug, den er wohl vor zwanzig Jahren gekauft haben mochte. Die Krawatte war mit einem schlampigen Windsorknoten gebunden. Er hatte sich entschieden, den Gürtel seiner Hose unterhalb seines einladenden Bauches zu tragen. So entstand der Eindruck als übernehme der Gürtel neben seiner ursprünglichen Aufgabe, die Hose zu halten, noch die Bestimmung, den Bauch zu stützen. Die Hemdenknöpfe zeigten durch die Überdehnung des Stoffs, wie gewaltig die Wampe war, die Blasshorst vor sich hertrug.

„Bin ich zu spät?“, fragte er, obwohl er einige Minuten vor der Türe gewartet hatte, bevor er nach mehreren Blicken auf seine Uhr geklopft hatte. Sein Handrücken fuhr nervös über seine Stirn. Er wollte bei dem kommenden Gespräch vermeiden, dass Schweißperlen über seine Stirn liefen.

„Nein, aber der Bürgermeister erwartet Sie schon.“ Bei Lisa krause erweckte der hilflose Unternehmer Muttergefühle.

Blasshorst kontrollierte fahrig den Sitz seiner Krawatte, klopfte an die andere Türe des Raumes und wartete, bis er ein deutliches „Bitte!“ vernahm. Nachdem er die Türe geöffnet hatte, kam Hansen ihm schon entgegen und reichte ihm seine Hand. Hansen war ein großgewachsener Mann Ende Fünfzig. Er pflegte immer schwarze oder dunkelblaue Anzüge zu tragen. Obwohl er stets seine Krawatten wechselte, konnte keiner sagen, wann er die aktuelle zum letzten Male getragen hatte. Hansen blickte von oben auf die sich abzeichnende Hinterkopfglatze seines Gegenübers.

„Dies ist aber nett von dir, dass du für mich Zeit hast Johannes.“ Blasshorst senkte jovial seinen Kopf.

„Aber ich bin doch immer für dich da Josef.“

„Ich weiß“, antwortete Blasshorst. Es war seine Sache nicht, belanglose Begrüßungsgespräche zu führen. So kam er gleich zum Gegenstand was sein Herz bedrückte. „Es geht um die Verlängerung der Schülerbeförderung. Du hast mir doch geraten, den Vertrag vorzeitig zu kündigen. Und nun ...“

„Dies solltest du so nicht sagen“, unterbrach Hansen seinen Besucher. Er legte beruhigend seine Hand auf die Schultern des Besuchers. „Immerhin wolltest du doch mehr Geld von der Gemeinde haben. Oder?“

Blasshorst nickte. „Aber nun kommt da so ein Schreiben von der Verwaltung, dass...“

Hansen unterbrach ohne Hemmungen den Redeschwall seines Besuchers. Er hatte ein Gespür entwickelt, wie man einem emotionalen Besucher entwaffnen konnte.

„Darf ich dir einen Kaffee anbieten?“ Die Geste seines rechten Arms wies ihn an, sich hinzusetzen.

Ohne auf die Zustimmung seines Gegenübers zu warten, betätigte er die Gegensprechanlage und orderte zwei Tassen Kaffee. „Du trinkst doch noch Kaffee?“ Blasshorst schüttelte unwillig bejahend seinen Kopf. Er wollte gerade tief Luft holen, als Hansen ihn wieder unterbrach. Er hatte sein nonchalantes Lächeln aufgesetzt, zu dem er fähig war: „Entschuldigung, ich habe dich wohl unterbrochen. Was wolltest du sagen?“ Die einfallenden Sonnenstrahlen fielen auf seine Haare und machten so die sich abzeichnenden weißen Haare sichtbarer.

Der Tisch, an dem sich der Besucher setzte, bot mindestens für zehn Personen Platz. Er war so aufgestellt, dass seine Länge an den zahlreichen Fenstern ausgerichtet war. Dadurch boten sich zwei Möglichkeiten, die Hansen geschickt zu nutzen wusste. Der Sitzplatz des Bürgermeisters war immer an der Schmalseite, die seinem Schreibtisch am nächsten stand. Je nach dem, wie Hansen seine Besucher klassifizierte, schauten sie entweder durch die Fensterreihe. Das Rathaus der Gemeinde Schermbeck war am Mühlenteich errichtet worden. Nur das Zimmer des Bürgermeisters war auf den Mühlenteich ausgerichtet. In der zweiten Etage gelegen, ergab sich so ein phantastischer Blick auf den Mühlenteich und seine malerische Umgebung, die sich hinter dem Rathausgebäude erstreckte. Oder er ließ den Besucher auf die entgegengesetzte Wand des Bürgermeisterbüros schauen. Es war eine leere Wand. Kein Bild hing hier, um Atmosphäre zu schaffen. Nur die nackte, weiße Tapete konnte man hier wahrnehmen. Hansen richtete es immer so ein, dass ein ihm angenehmer Besucher, bei den Gesprächen mit ihm, den Blick auf den Mühlenteich richten konnte. Er selbst setzte sich so, dass er seinen Schreibtisch im Rücken hatte. Er wusste, dass dieser Ausblick auf den Teich beruhigend wirkte. Das Wort gefügig machen hätte er nie zugegeben. Erwartete er hingegen eine Auseinandersetzung, dann durfte der Kontrahent gegen die gegenüberliegende leere weiße Wand starren.

Blasshorst kratzte sich am Kopf und überlegte, was er dem Bürgermeister schon gesagt hatte, konnte sich daran aber nicht mehr erinnern. Er räusperte sich und begann erneut.

„Also, da kommt gestern ein Schreiben von der Verwaltung, Ich soll mich an einer europaweiten Ausschreibung beteiligen.“ Blasshorst schaute seinen Gemeindechef fragend an. Seine Stimme klang verzweifelt. „Sollen die Käsköppe oder die Polskis nun statt meiner den Zuschlag bekommen?“

„Nun mal ruhig, Josef.“, Hansen nahm ihm wieder den Wind aus den Segeln. Er legte seine Hände auf den üppigen Bauch und klopfte leicht mit den Fingern darauf. „Bei der Größenordnung muss dieses heute europaweit ausgeschrieben werden. EU, du verstehst?“

„Aber ich kann doch mit den Löhnen aus Polen nicht mithalten. Da brauche ich gar nicht erst anzufangen und zu rechnen. Auch die Holländer unterbieten jeden Preis. Das ist doch bekannt.“

Frau Krause betrat ungefragt mit einem Tablett den Raum. Hansen machte eine Handbewegung, als übernehme er für den Gast extra die Bedienung. Lisa Krause setzte das Tablett wortlos auf dem Tisch ab, wusste sie doch, dass ihr Arbeitgeber immer diese Floskel inszenierte. Er stellte das Porzellan vor Blasshorst und sich selbst hin, schob den Zucker- und den Sahnebehälter zwischen sich und seinem Besucher. Ungefragt wurde die Tasse des Gastes gefüllt. Blashorst hatte keinen Blick für die wohlgeformten Beine der Sekretärin, die der kurze Rock vorteilhaft zu Geltung brachte. Er holte tief Luft und wollte nochmals seine Bedenken äußern, als Hansen ihm erneut ins Wort fiel.

„Aber Josef, dieses ist doch ein Vorteil, kein Nachteil. Denk doch mal nach.“ Genussvoll trank er einen Schluck aus seiner Tasse.

„Dies verstehe ich nicht Johannes“, stotterte Blasshorst und als er sich gefasst hatte entgegnete er trotzig: „Alles was bei so einer Ausschreibung zählt ist doch der Preis. Oder habe ich da etwas von einer Ausschreibung falsch verstanden?“ Der Unmut wollte sich im Gesicht Blasshorsts nicht legen.

„Geld ist nicht alles“, versuchte Hansen ihm begreiflich zu machen. Und als er den fragenden Gesichtsausdruck seines Gegenübers sah, fügte er erklärend hinzu: „Wichtig sind auch die Randbedingungen einer Ausschreibung.“

„Aber die bestimmt Ihr doch in Schermbeck.“ Blasshorst Stimme klang skeptisch, wirkte aber schon kooperativer.

„Eben!“

Blasshorsts Gesichtsausdruck sah nun ein wenig dümmlich aus: „Das verstehe ich nicht Johannes.“ Sein Oberkörper richtete sich in Richtung des Bürgermeisters auf.

„Schau mal Josef, es ist doch gar nicht so schwer zu begreifen.“ Hansen trank einen Schluck des warmen Getränkes. Seine Stimme nahm einen väterlichen Ton an. „Dies ist doch ganz einfach. Du gehst nach Hause, überlegst dir, was du leisten kannst und deine Konkurrenten nicht. Drei Abfahrtstermine für die Busse statt einem oder den Einsatz mehrerer Busse statt einem. Was weiß ich. Das können die Polen und Nederländer nur mit einem hohen Aufwand erfüllen, oder überhaupt nicht. Wir nehmen dann deine Vorschläge in die europäische Ausschreibung als Bedingungen mit auf ...“ Hansen führte seinen Satz bewusst nicht zu Ende.

Blasshorst lächelte über beide Ohren: „Das würdest du für mich tun?“

„Nein“, antwortete der Politiker süffisant. „Nur für die Gemeinde.“ Blashorst verließ den Raum, ohne den Mühlenteich eines Blickes gewürdigt zu haben.

Der Mann ohne Konturen

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