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Abilene, Kansas, Frühsommer 1870

Virgil Potter lenkte seinen Schimmel durch die Main Street von Abilene. Und staunte. Im Bürgerkrieg war er einmal mit seiner Kavallerieschwadron hier vorbeigekommen. Damals war Abilene noch ein winziges Nest gewesen, in dem kaum hundert Seelen lebten.

Jetzt säumten zahllose Häuser die Main Street, und fast viertausend Menschen lebten jetzt in der berühmt-berüchtigten Kuhstadt von Kansas. Und in manchen Wochen noch einmal tausend mehr. In den Wochen, in denen die wilden texanischen Cowboys hunderttausende von Longhorn-Rindern in die Koppeln der Verladestation vor den Toren der Stadt trieben.

Auch jetzt hielten sich etwa dreihundert Cowboys in der Stadt auf. Draußen, vor der Stadt, wurden sie aus den Koppeln in die Viehwaggons der Kansas Pacific Railway getrieben. Bis auf die Main Street hörte man ihr Gebrüll. Virgil konnte die Dampfwolken der Lok hinter den Dächern aufsteigen sehen, die Abilene Richtung Osten verließ, um die Ostküste mit Fleisch zu versorgen.

Eine Horde Cowboys galoppierte an ihm vorbei. Unrasierte, schmutzige Burschen mit Stoppelbärten speckigen Lederchaps, die ihnen um die Beine flatterten. Fußgänger wichen erschrocken zur Seite, um nicht niedergeritten zu werden. Böse Blicke schickten sie den Reitern hinterher. Und ein Mann schüttelte die Faust.

Bis vor zwei Tagen war Virgil selbst mit diesen rauen Gesellen unterwegs gewesen. Auf dem Chisholm Trail von Austin nach Abilene. Anfang April waren sie mit achtzehntausend Stück Vieh aufgebrochen. Und jetzt, Ende Mai, fast acht Wochen später hatten sie siebzehntausendsechshundert Rinder in die Koppeln der Verladestation getrieben.

Acht Wochen sechzehn Stunden am Tag im Sattel. Acht Wochen nur Rinder, Grasland und die mürrischen Gesichter der Cowboys. Acht Wochen ohne vernünftige Gesellschaft und vor allem: Ohne Frauen. Seit zwei Tagen machten die ausgehungerten Texaner die Stadt unsicher.

Auch Virgil war ausgehungert nach Gesellschaft. Und nach Frau. Er hatte sich den Lohn für acht Wochen auszahlen lassen. Zweihundert Dollar. Aber er hatte die Schnauze voll vom Leben im Sattel. Der Friseur, bei dem er sich den Bart aus dem Gesicht hobeln und seine blonden Locken stutzen ließ, wollte gehört haben, das die Kansas Pacific Railway Männer suchte, die gut reiten und noch besser mit dem Schießeisen umgehen konnten. Männer, die ihre Züge vor Überfällen schützten.

Genau der richtige Job für Virgil.

Die stinkenden Cowboy-Klamotten hatte er weggeworfen. Und ein paar Dollar für neue Garderobe investiert. Ein nagelneuer, schwarzer Stetson saß auf seinem Blondschopf. Er trug ein neues, helles Leinenhemd und eine schwarze Lederweste. Dazu neue, schwarze Hosen und neue Stiefel. Virgil fand, dass er eine verdammt gute Figur machte in den neuen Klamotten. Und da hatte er Recht.

Er hielt seinen Schimmel vor einer Baustelle an. Steine wurden von Ochsenkarren geladen. Drei Wände eines großen Rohbaus waren schon hochgezogen. Männer, Frauen und Kinder standen auf der Straße und sahen den Arbeitern zu.

"Was gibt das hier?", fragte Virgil einen Mann in dunkelbraunem Anzug. "Eine Spielhalle? Oder ein Theater?"

"Blödsinn." Der Mann musterte ihn misstrauisch. "Ein Gefängnis. Mit dem verdammten Viehzeug kommen eine Menge Rowdies in unsere Stadt. Der Marshal nimmt schon keine Verhaftungen mehr vor, weil er nicht mehr weiß, wo er die tollwütigen Hunde hinsperren soll."

"Und weil er Angst hat", rief eine Frau, die in der Nähe stand. Ein paar Leute drehten die Köpfe und bedachten Virgil mit grimmigen Blicken. Er war froh, dass er keine Cowboy-Kluft mehr trug. Die Bürger von Abilene schienen nicht gut zu sprechen zu sein auf die Texaner.

Er trieb sein Pferd an. Der Friseur hatte schon solche Andeutungen gemacht. Wenn Cowboys in der Stadt waren, konnte man kaum schlafen, hatte er behauptet. Die ganze Nacht Betrunkene auf der Straße, die ganze Nacht Gegröle, Schlägereien und Schüsse.

Virgil glaubte nicht, dass der Friseur übertrieben hatte. Männer die wochenlang durchgearbeitet hatten, waren ein bisschen wie Dynamitstangen, deren Zündschnur heruntergebrannt war und nun kurz vor der Sprengladung glimmte. Wehe dem, der einem Texaner mit solch einer Gemütsverfassung gegenüberstand, und sich verleiten ließ mit der Hand in die Nähe seines Revolverkolbens zu gelangen. Wer dann nicht schnell genug zog, brauchte in der Regel einen Arzt. Oder einen Totengräber.

Die texanischen Cowboys waren schnell mit der Waffe. Allein auf Unbewaffnete schossen sie niemals. Deswegen, so hatte Virgils Friseur erzählt, empfahl die Bürgerwehr den Leuten von Abilene auch in den Wochen der Viehverladung den Waffengurt zu Hause zu lassen.

Zehn Minuten später hielt Virgil sein Pferd vor einem großen zweistöckigen Haus an. >Kansas Pacific Railway Hall< stand auf dem weißen Schild über dem Vordach. Ein Eisenbahnhotel.

Virgil machte den Schimmel fest, warf sich die Mochila über die Schulter und zog seinen Karabiner aus dem Sattelholster. Musik drang aus den offenen Fenstern des Untergeschosses. Er stieg den Bürgersteig hinauf und zog die große Eingangstür des Hotels auf.

Stimmengewirr umfing ihn, Violinen- und Pianoklänge und der Rauch von Zigarren. Wie grauer Nebel hing er unter den Petroleumlampen des weitläufigen Schankraumes. Die Theke war fast so lang wie eine Kegelbahn. Aus offenen Nebenzimmern drang das Klacken von Billardkugeln. An Spieltischen hockten Männer mit Pokerblättern in den Händen und durch zwei große offene Türen sah Virgil in einen Tanzsaal.

Aus dem Saal drang auch die Musik. Männer und Frauen wirbelten über die Tanzfläche. Cowboys in erster Linie und junge Frauen in wadenfreien Kleidern mit weiten Ausschnitten. Frauen, die den ausgehungerten Burschen gaben, wonach sie nach sechs oder acht einsamen Wochen Knochenarbeit gierten. Und sich dafür bezahlen ließen. >Schwestern der Sünde< wurden sie in Abilene genannt.

Es war noch nicht einmal sieben Uhr abends, und mehr als die Hälfte der Tische im Schankraum warteten noch auf Zecher und Esser. Auch an der Theke noch eine Menge Platz.

Virgil legte seine Mochila auf einen Barhocker und lehnte seinen Karabiner daneben. Rechts neben der langen Flaschenbar ging eine Tür auf. Ein massiger Kahlkopf schob sich hinter der Theke entlang auf Virgil zu. Der Wirt.

"Ein Zimmer würde mich glücklich machen!", rief Virgil ihm entgegen. "Und ein Stallplatz für meinen Gaul..." Das Wort erstarb ihm auf den Lippen. Vier Schritt von ihm entfernt blieb der Wirt stehen. Von jetzt auf nun, als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. Aus kleinen, funkelnden Augen fixierte er seinen neuen Gast.

Wie Schuppen fiel es Virgil von den Augen. "Bullshit...", flüsterte er. Plötzlich erschien eine blonde Frau auf seiner inneren Bühne - und dann ein Bild nach dem anderen: Suzanne, die alte Hängebrücke über den Bear River, Tom Smith, ein steiniges Ufer neben dem Fluss, ein fleischiger Finger um den Abzugsbügel seines Smith&Wesson...

"Bullshit", wiederholte Virgil. Er war einfach nicht darauf gefasst gewesen den Goldgräber hier wieder zu treffen. Wie war sein Name gleich gewesen? Henry, richtig.

Henry schob sich langsam näher. Die geballte Faust der Rechten auf dem Tresen. Virgil sah die geschwollene Ader auf seiner Stirn. "Ich hab kein Zimmer frei, du Arschloch", krächzte der Bursche. Zwei Lücken klafften in der Reihe seiner gelben Schneidezähne. "Aber auf dem Friedhof ist noch eine Menge Platz."

Virgil griff sich Mochila und Gewehr und tippte sich an den Hut. "Danke für den Hinweis, Sir." Mit großen Schritten durchquerte er den Schankraum. Die Hand schon am Türgriff drehte er sich noch einmal um. Neben dem großen Spiegelregal hinter der Theke stand ein blonde Frau und sah ihm nach. Suzanne...

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