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Was beschädigt die Demokratie?
ОглавлениеUmfragen weltweit zeigen immer wieder, dass eine große Zahl von Menschen – wahrscheinlich die breite Mehrheit der Weltbevölkerung – von den Vorteilen einer Demokratie überzeugt ist und dieses Herrschaftsmodell im Grundsatz bejaht. Dennoch sind viele Menschen in verschiedenen Ländern nicht nur über ihre demokratisch gewählten Regierungen, sondern auch über das Funktionieren ihrer Demokratie enttäuscht. Ursachen dafür sind geringe Leistungen des Staates bei der Förderung der Wirtschaft, hohe Arbeitslosigkeit, mangelnde Sozialleistungen, Zukunftsangst und häufig auch Misswirtschaft und Korruption der Regierungen und Parteien. Die Menschen wählen bei der nächsten Wahl eine andere Partei und Regierung, von denen sie sich bessere Leistungen erhoffen. Doch manchmal wählen sie auch Politiker und Parteien, die eine Verbesserung versprechen, aber die Prinzipien einer demokratischen Ordnung missachten. Das ist die Stunde der Populisten. Kein Land ist vor ihnen sicher.
Der Populismus ist eine Methode zur Eroberung und Verteidigung politischer Herrschaft, bei der grundlegende Prinzipien einer demokratischen Ordnung langsam ausgehöhlt und schließlich vollkommen ausgelöscht werden (Müller 2016). Populismus entsteht zwar auch durch Repräsentationsdefizite der etablierten Parteien, doch wenn diese nicht rechtzeitig auf das Erstarken populistischer Parteien oder Anführer reagieren und das Vertrauen einer größeren Wählerschicht nicht zurückgewinnen können, kann der Populismus seine destruktive Wirkung entfalten. Populisten behaupten, für »das wahre Volk« zu sprechen und konstruieren das Bild einer korrupten Elite und der angeblichen »Lügenpresse«, die allesamt die Interessen des »wahren Volkes« verraten würden. Komplexe politische Sachverhalte reduzieren sie auf einen Gegensatz zwischen »wir da unten« und »die da oben«. Sie verneinen die Heterogenität und den Pluralismus einer Gesellschaft gegenüber einer vermeintlichen Homogenität des Volkes und des Volkswillens. Mit solchen Behauptungen erzielen sie zwar Wahlerfolge und gewinnen manchmal sogar Mehrheiten. Doch es zeigt sich immer wieder, dass Populisten gegen die Regeln der Demokratie verstoßen, wenn sie auf Kritik treffen oder Unterstützung verlieren. Folglich versuchen sie durch Manipulationen von Wahlen und andere Rechtsverstöße, ihre Herrschaft zu sichern. Populismus lässt sich mit rechten und linken Ideologien gleichermaßen verbinden. Tatsächlich versuchen seit einigen Jahren politische Führer und Parteien unterschiedlicher Couleur mit einem populistischen Stil Wahlen zu gewinnen – zum Teil mit bemerkenswertem Erfolg.
Das Erstarken populistischer Bewegungen ist nicht auf junge und vermeintlich noch schwache Demokratien beschränkt. Auch in der ältesten modernen Demokratie, den Vereinigten Staaten von Amerika, war zu beobachten, wie Ex-Präsident Donald Trump mit seinem populistischen Regierungsstil die traditionellen Verfahren und Regeln des demokratischen Spiels infrage stellte. Europa ist ebenfalls von diesem Trend stark betroffen. In Polen strebt die Regierungspartei PiS an, die Justiz mit gravierenden Einschränkungen ihrer Unabhängigkeit der Regierung zu unterstellen. Im Jahr 2014 verkündete der ungarische Ministerpräsident Orbán öffentlich seine Absicht, in seinem Land eine »illiberale Demokratie« zu errichten. In vielen europäischen Ländern haben populistische Parteien in den letzten 15 Jahren bei nationalen und europäischen Wahlen beträchtliche Anteile gewonnen. In Ländern wie Frankreich, Deutschland und Italien nutzen diese Parteien nationalistische Propaganda (Hofmeister 2020). In anderen Ländern verfolgen Populisten ein eher linkes Programm wie beispielsweise die Parteien Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien oder die Präsidenten Hugo Chávez in Venezuela (1999–2013), Rafael Correa in Ekuador (2007–2017) und Andrés Manuel López Obrador in Mexiko (seit 2018). Für die Europäische Union ist es eine neue Erfahrung zu sehen, dass die Krise der Demokratie an ihren eigenen Ufern angekommen ist. In vielen Fällen hat ihre Selbstgefälligkeit Demokraten dazu verleitet, die Gefahren des Populismus zu übersehen.
Solche Entwicklungen werden durch den unbedachten und unvorsichtigen Umgang mit demokratischen Prinzipien und Regeln noch verstärkt. Die Demokratie war und ist immer ein empfindliches und verwundbares Regierungssystem, das offen ist für Manipulationen von innen und Einschüchterungen von außen. Das war schon im alten Griechenland der Fall und gilt auch für unsere Tage. Es bedarf daher keines Militärputsches, um eine Demokratie zu zerstören. Im Gegenteil: Mancherorts besorgen dies die gewählten Regierungen selbst (Levitzky/Ziblatt 2018). In solchen Fällen bleiben die Verfassungen und andere nominell demokratische Institutionen zwar in Kraft und es finden auch weiterhin freie Wahlen statt. Dennoch halten die gewählten Autokraten nur noch eine Fassade der Demokratie aufrecht, während sie deren Substanz allmählich zerstören. Am Beispiel von Venezuela oder der Türkei ist das ganz offensichtlich. Dort dominierten die Regierungen von Recep Tayyip Erdoğan und Hugo Chávez bzw. dessen Nachfolger Nicolás Maduro zunächst das Parlament, unterwarfen sich die Justiz, schränkten allmählich die Meinungs- und Medienfreiheit ein, indem sie selbst oder ihre Verbündeten die Kontrolle über die wichtigsten Medien übernahmen, beschnitten den Handlungsrahmen von Organisationen der Zivilgesellschaft durch neue Registrierungsregelungen oder andere Schikanen und errichteten auf diese Weise autoritäre Regimes. Zwar achten sie auf einen »legalen«, gesetzmäßigen Rahmen, indem sie ihre Maßnahmen von der Legislative oder von den Gerichten billigen lassen. Doch tatsächlich haben sie die Demokratie ihrer Länder beschädigt, weil die Kontrolle ihrer politischen Macht nicht mehr funktioniert und den Oppositionsparteien und Organisationen der Zivilgesellschaft die Ausübung ihrer Kontrollfunktion verwehrt wird.
Gefördert werden solche Erschütterungen der Demokratie heute nicht selten auch durch externe Akteure wie Russland und China, die weltweit unverhohlen populistische und antidemokratische Bewegungen unterstützen. Ihre autoritären Machthaber fühlen sich durch die Forderungen nach Freiheit und Demokratie nicht nur in Hongkong und Moskau, Belarus oder der Ukraine, sondern auch in anderen, weit entfernten Ländern bedroht. Sie führen weltweit Desinformationskampagnen durch, um die demokratische Debatte zu untergraben, die soziale Polarisierung zu verschärfen und ihr eigenes Image zu verbessern.
Auch die moderne Informationstechnologie, also das Internet und die sozialen Medien, aber zunehmend auch die neuen Formen der Überwachung und künstlichen Intelligenz, tragen nicht nur dazu bei, unsere individuelle Freiheit und unsere Möglichkeiten zur Kommunikation und zur Teilnahme an gesellschaftlichen und politischen Prozessen zu sichern oder gar zu erweitern. Im Gegenteil können die modernen Informationstechnologien zu neuen und subtilen Formen der Manipulation und am Ende zu einer Einschränkung von demokratischen Freiheiten führen. Die Digitalisierung verändert das gesamte gesellschaftliche Leben. Deshalb ist zumindest Wachsamkeit angesagt, um demokratische Freiheiten zu schützen, wenn nicht durch die Kontrolle der IT-Firmen, so zumindest durch einen bewussten Umgang der Bürger mit Technik, wofür eine entsprechende Aufklärung und Schulung notwendig sind.
Neben diesen neuen subtilen Formen der Untergrabung der Demokratie sind auch die alten, offensichtlicheren und brutaleren Methoden keineswegs verschwunden. Militärische Interventionen finden nicht nur in afrikanischen Ländern und in arabischen Staaten statt: In Myanmar übernahm das Militär im Januar 2021 durch einen Putsch wieder die Macht und beendete damit den mühevollen und langsamen Demokratisierungsprozess, der in dem Land zehn Jahre zuvor begonnen hatte. Auslöser des Putsches war anscheinend die Enttäuschung der Militärführer darüber, dass die große Mehrheit der Bevölkerung die Partei der Friedensnobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi gewählt hatte, obwohl deren Regierung seit 2016 bei der Lösung der vielfältigen Probleme des Landes nur langsam vorankam. Dennoch haben die Bürger des Landes nicht die von den Militärs favorisierte Partei gewählt. Einige Jahre davor, im Jahr 2014, hatte sich auch in Thailand das Militär wieder an die Macht geputscht. In Lateinamerika ist das Militär auf der politischen Bühne ebenfalls plötzlich wieder präsent. Nicht nur das autoritäre Regime in Venezuela wird von den Streitkräften unterstützt. In Bolivien »empfahlen« die Generäle 2019 dem Präsidenten Evo Morales den Rücktritt, weil der Verdacht bestand, er habe das Ergebnis der Präsidentschaftswahl gefälscht. In Brasilien, Peru, Ecuador und Chile riefen die demokratischen Regierungen das Militär zur Verteidigung der öffentlichen Ordnung gegen Unruhen zu Hilfe, die nicht zuletzt durch die Frustration über die schlechte Regierungsleistung und die Korruption der Regierungen provoziert wurden. In Mali hat das Militär im August 2020 die Regierungsgewalt übernommen, nachdem es bereits monatelang Proteste und Rücktrittsforderungen gegen den zivilen Präsidenten wegen Gesetzesverstößen und Missmanagement seiner Regierung gegeben hatte und die Krise nicht im Rahmen demokratischer Verfahren gelöst werden konnte. Der neue Militärmachthaber Assimi Goita versprach zwar die Durchführung demokratischer Wahlen, richtete sich aber zunächst für einen etwas längeren Verbleib an der Macht ein, ehe auch er gestürzt wurde. Im Sudan dagegen hatte ein Jahr zuvor das Militär den langjährigen Diktator Omar al-Baschir abgesetzt und den Weg zu freien und fairen Wahlen geöffnet.
Wo immer sich in einem Land eine Gefährdung der Demokratie abzeichnet, muss nach der Rolle der politischen Parteien gefragt werden. In manchen Ländern versagen sie bei der Verteidigung der demokratischen Ordnung. In anderen sind sie sogar aktive Protagonisten und Treiber des Verfallsprozesses. In jedem Fall und überall aber sind Parteien maßgebliche Akteure, wenn es um die Demokratie geht.