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Unterscheidungsmerkmal Zielorientierung und Funktionen von Parteien im politischen System
ОглавлениеUm noch deutlicher die Funktionen hervorzuheben, die Parteien für ein demokratisches System erbringen, haben die Autoren Larry Diamond und Richard Gunther eine Typologie entwickelt, die nicht nur nach ideologischer Ausrichtung und Organisationsform von Parteien fragt, sondern speziell auch nach ihrem Beitrag zur Förderung von Demokratie. Sie haben dabei vor allem auch Parteien in den sogenannten Transformationsländern außerhalb Westeuropas und Nordamerikas im Blick. Ihre Typologie wird hier in etwas modifizierter und zusammengefasster Form präsentiert (Diamond/Gunther 2001, 7 ff.).
Die Massenparteien bieten die Chance, verschiedene Funktionen, die für eine demokratische Ordnung wichtig sind, zu erfüllen – sofern sie selbst tatsächlich die Prinzipien und Grundregeln einer Demokratie beachten. In ihren frühen Jahrzehnten haben sie zur politischen Bewusstseinsbildung und Mobilisierung der Arbeiterschichten in vielen Ländern Europas und auch Lateinamerikas beigetragen. Aufgrund ihrer engen Verbindung mit gesellschaftlichen Organisationen, vor allem Gewerkschaften, aber beispielsweise auch mit religiösen Organisationen, haben sie soziale Interessen aggregiert und artikuliert. Ihre Parteiorganisation selbst wurde durch diese enge Verzahnung mit gesellschaftlichen Gruppen gestärkt. Aufgrund ihrer Bemühungen um eine breite organisatorische Basis haben sie die Idee der Demokratie bis in die entferntesten Gegenden verschiedener Länder getragen. Etliche Massenparteien, wie die kommunistischen Parteien oder auch die faschistischen Parteien in Europa, die populistischen Parteien in Argentinien, Mexiko und anderen Ländern Lateinamerikas oder auch einige ethno-nationalistische Parteien in Asien haben jedoch im politischen Alltag immer wieder gegen grundlegende demokratische Prinzipien vor allem dann verstoßen, wenn sie die Kontrolle über Regierungen erlangten. Die Einschränkung oder komplette Unterdrückung der freien Meinungsäußerung, der Pressefreiheit und anderer bürgerlichen Freiheiten bis hin zur Repression anderer Parteien und der Verfolgung politischer Gegner, Wahlbetrug, politischer Klientelismus, die Aufhebung der Gewaltenteilung und die Ablehnung der »checks and balances« hinsichtlich der Regierungstätigkeit präg(t)en das politische Handlungsmuster von Massenparteien und können selbstverständlich nicht als Leistungen im Sinne demokratischer Funktionen von Parteien betrachtet werden.
Den ebenfalls schon erwähnten Wählerparteien geht es vor allem um ein möglichst gutes Wahlergebnis und eine Regierungsbeteiligung. Manche solcher Wählerparteien sind sehr stark auf einen oder wenige Führerpersönlichkeiten ausgerichtet; ihre organisatorische Basis ist schwach und ihre Mitgliedschaft gering. Sie sind in der Regel ideologisch nicht eng fixiert und vertreten programmatische Positionen, die von einer breiten Wählerschaft akzeptiert werden können. Allerdings bewahren in Europa einige Volksparteien ihren programmatischen Markenkern. In Verbindung mit einer immer noch relativ breiten Mitgliederbasis erhalten sie die feste Verankerung in ihrer Gesellschaft. Eine dominante Präsenz und tragfähige Organisationsstruktur in den Städten und Gemeinden ist dafür von zentraler Bedeutung.
Im Allgemeinen aber hängen Wählerparteien stark von der öffentlichen Meinungsbildung und einer Art gesellschaftlichem Mainstream ab. Für die Erfüllung der demokratischen Funktionen einer Partei muss das kein Nachteil sein, weil solche Parteien sich ständig darum bemühen müssen, gesellschaftliche Strömungen und Interessen wahrzunehmen, zu verstehen und im politischen Raum zu repräsentieren. Wenn sie dabei versagen und neue Themen nicht oder zu spät erkennen, ist das für sie ein Nachteil. Das war in Europa bei der Debatte um die Folgen der Digitalisierung und danach bei der Diskussion um die Konsequenzen des Klimawandels zu beobachten. In beiden Fällen hatten »Bewegungs-Parteien« einen Vorteil, die programmatisch zwar enger aufgestellt sind, aber genau diese Themen als ihren Markenkern vertreten. Die Coronakrise hat die Wählerparteien wieder gestärkt, die zuvor ihr Ziel erreicht hatten, eine Regierung zu führen bzw. an einer Regierung beteiligt zu sein. Denn diese zweite Funktionsebene der Parteien gehört ohnehin zum Kernbereich von Wählerparteien: die Führung von oder Beteiligung an einer Regierung. Weil sie ideologisch oder programmatisch flexibler sind, fällt es ihnen leichter, Regierungskoalitionen einzugehen. Wo Ideologie oder Programm nicht zu einer Identifizierung mit einer Wählerpartei einladen, spielen ihre Führungspersönlichkeiten eine wichtige Rolle.
In Deutschland bewahren die Volksparteien noch einen politisch-ideologischen Markenkern und damit die Zugehörigkeit zu einer Parteienfamilie. Das macht sie in gewisser Weise unverwechselbar. Typische Volksparteien sind die Christlich Demokratische Union (CDU) und die Sozialdemokratische Partei (SPD) in Deutschland. Beide Parteien verteidigen ihr politisch-ideologisches Grundprofil, entwickelten sich aber gleichzeitig zu hochprofessionalisierten Mitglieder- und Wählerparteien. Infolge der allmählichen Entideologisierung haben sie ihre politischen Inhalte stärker an der öffentlichen Meinung, wie sie durch Medien und Umfragen ermittelt werden, angepasst. Zumindest die CDU hat damit weiterhin wahlpolitischen Erfolg, während die SPD seit einigen Jahren zunehmend Wähler verliert. Nur wenige andere Wählerparteien in Europa erreichten diesen organisatorischen und auch kommunikativen Grad der Professionalisierung. Die Conservative Party und die Labour Party in Großbritannien haben ihren Status weitgehend gehalten, wobei dort auch das Wahlsystem diese beiden Parteien begünstigt. In Spanien dagegen haben der sozialistische Partido Socialista Obrero Español (PSOE) und der konservative Partido Popular (PP) ihre frühere dominierende Rolle eingebüßt. Das gilt beispielsweise auch für die Volkspartei (ÖVP) und die Sozialdemokraten (SPÖ) in Österreich, auch wenn die ÖVP, nicht zuletzt wegen ihres jugendlichen Vorsitzenden Sebastian Kurz, seit einigen Jahren wieder an Zuspruch gewinnt. Wo sich Wählerparteien bei ihren politischen und strategischen Entscheidungen eher auf Umfragen und professionelle Berater stützen, etwa weil ihre abnehmende Mitgliedschaft nicht mehr als Resonanzboden für politische Stimmungen dienen kann, war das mit einer Abschwächung ihrer Repräsentationsfunktion verbunden. Sie können mit dieser Strategie zwar noch Wahlen gewinnen und haben ebenfalls die Möglichkeit, Stimmungen und Meinungen aus der Bürgerschaft aufzugreifen, ihre Stimmeneinbußen in vielen Ländern zeigen aber gewisse Grenzen dieser Strategie auf. Die noch vor drei oder vier Jahrzehnten üblichen Stimmenanteile sind kaum mehr zu erreichen.
Weitere Typen von Wählerparteien verdienen eine besondere Erwähnung. Das sind erstens die Programmparteien, die eine gewisse Ähnlichkeit zu den früheren Massen- und heutigen Volksparteien besitzen, sich aber vor allem dadurch auszeichnen, dass sie eine stärker ausgeprägte kohärente programmatische oder ideologische Agenda verfolgen und diese eindeutig in ihre Gesetzgebungs- und Regierungsagenda einbeziehen. In einem Mehrheitswahlsystem mit schärferem Wettbewerb um einzelne Mandate muss eine Programmpartei zwar etwas flexibler oder moderater auftreten, um genügend Wähler anzusprechen, aber dennoch wird sie ihre politischen Standpunkte und Forderungen klarer vertreten als andere Wählerparteien, die programmatisch unspezifischer bleiben, um keine Wähler abzuschrecken. Auch bei der Übernahme oder Unterstützung einer Regierung wird sie auf ihren programmatischen Kernforderungen beharren. Zudem gehört zum Kennzeichen dieses Parteientyps, dass er über eine klar definierte soziale Basis verfügt und einige feste Verbindungen zu gleichgesinnten Organisationen der Zivilgesellschaft unterhält. Bei Wahlen versucht die Programmpartei, ihre Kernwähler zu mobilisieren. Weitere Wählerkreise spricht sie nur bedingt an. Diesem Typ der Programmparteien zuzurechnen sind beispielsweise die Partido Acción Nacional (PAN) in Mexiko, die Democratic Progressive Party (DPP) in Taiwan oder auch die Demokratische Bürgerpartei (Civic Democratic Party, ODS) in der Tschechischen Republik.
Die oben bereits erwähnten sogenannten Unternehmer- oder Business-Parteien bilden eine weitere Gruppe der Wählerparteien. Solche Parteien sind in den letzten Jahrzehnten vielerorts von wohlhabenden Unternehmerpersönlichkeiten oder auch Unternehmensgruppen gegründet worden. Sie haben meist eine schwache Organisationsstruktur, eine geringe Zahl von Mitgliedern und ihr Programm konzentriert sich im Wesentlichen auf die Vertretung der Interessen ihrer Gründer. Die bekannteste dieser »Business-Parteien« ist wohl die Forza Italia des italienischen Unternehmers Silvio Berlusconi. Zwischen 1994 und 2011 war er mit Unterbrechungen immerhin viermal Premierminister Italiens und wurde 2019 mit 83 Jahren noch einmal ins Europäische Parlament gewählt.
In Lateinamerika haben solche Business-Parteien seit den 1990er-Jahren eine große Bedeutung. Mächtige Unternehmensgruppen, darunter Brauereien, Supermärkte, Firmen der Agrarindustrie sowie Finanz- und Medienunternehmen haben in nahezu allen Ländern des Subkontinents Parteien entweder selbst gegründet oder indirekt durch ihr Sponsoring ihre Gründung maßgeblich beeinflusst. Von 278 Parteien, die seit Mitte der 1970er-Jahre entstanden, hatten 118 Parteien einen Geschäftsmann zum Vorsitzenden und mindestens 20 Parteien waren vollkommen abhängig von Unternehmen und deren Interessen (Barndt 2014). Dazu gehörten vor wenigen Jahren beispielsweise Cambio Democrático Super 99 (CD) in Panama, deren Gründer (und Eigentümer einer Supermarkt-Gruppe), Ricardo Martinelli, von 2009 bis 2014 Staatspräsident war, sowie die Parteien Partido Renovador Institucional Acción Nacional (PRIAN) in Ecuador, Unidad Nacional (UN) in Bolivien und andere. Viele Business-Parteien existieren nur für einen begrenzten Zeitraum, doch nicht wenige haben zur Blütezeit der sogenannten neoliberalen Wirtschaftsreformen dazu beigetragen, Interessen der mit ihnen verbundenen Unternehmensgruppen zu vertreten. Ihre Gründung wurde auch dadurch begünstigt, dass die früheren Bindungen von Parteien mit Massenorganisationen (wie den Gewerkschaften) nahezu überall deutlich schwächer geworden sind. Ein Problem, ja eine Gefahr für die Demokratie ergibt sich dort, wo ein Parteiensystem auf den Wettbewerb zwischen verschiedenen Unternehmens-Parteien reduziert wird. Demokratie droht dadurch zum Vehikel für die Austragung von Unternehmensinteressen degradiert zu werden.
Die personalistischen Parteien schließlich ähneln den Business-Parteien, weil auch sie nicht daran interessiert sind, eine breitere organisatorische Basis oder ein konzises Programm zu entwickeln. Sie sind vor allem auf die Person ihres Gründers und Vorsitzenden ausgerichtet, der eine Partei dazu nutzt, im Wesentlichen seine persönlichen politischen Ambitionen zu verfolgen. In Präsidialsystemen sind solche Parteien häufiger anzutreffen. Zu dieser Kategorie gehören beispielsweise Vladimir Putins Partei Jedinaja Rossija (Einiges Russland), die Partei Pwersa ng Masang Pilipino (PMP), die der ehemalige Schauspieler Joseph Estrada in den Philippinen gegründet hatte, und die Thai Rak Thai (TRT)-Partei des Geschäftsmanns Thaksin Shinawatra, der von 2001 bis 2006 Premierminister von Thailand war, sowie die erste von Hugo Chávez in Venezuela gegründete Partei, Movimiento Quinta República (MVR). Dass solche personalistischen Parteien auch in parlamentarischen Systemen aufkommen, zeigt sich an der Partij voor de Vrijheid (PVV, Freiheitspartei) in den Niederlanden, der Lega dei Ticinesi (Liga der Tessiner) in der Schweiz oder den Parteien Věci veřejné (VV, Öffentliche Angelegenheiten) und Akce nespokojených občanů (ANOA, Aktion unzufriedener Bürger) in Tschechien.
Elite-Parteien werden von einer gesellschaftlichen Schicht eines bestimmten territorialen Gebietes gebildet und haben nur minimale Organisationsstrukturen. Parteien lokaler Eliten und klientelistische Parteien, die klassischen Honoratiorenparteien sowie die erwähnten Unternehmer- oder Business-Parteien gehören zu dieser Kategorie. Alle diese Parteien dienen eng begrenzten klientelistischen Interessen kleiner Eliten und werden in der Regel von einem Parteiführer mit einer starken und nicht hinterfragten Autorität geleitet. Die Nominierung von Kandidaten erfolgt durch den Vorsitzenden oder wenige Vorstandsmitglieder, die blinde Loyalität erwarten. Die Mobilisierung von Wählern basiert auf klientelistischen Netzwerken, wobei partikularistische Belohnungen und Vergütungen, die den Bürgern am unteren Ende dieser hierarchischen Netzwerke angeboten werden, am wichtigsten sind – und wenn es sich »nur« um kleine Geldbeträge, einen Sack Reis oder um ein T-Shirt für die ärmsten und »einfachsten« Mitglieder solcher Netzwerke handelt. Im Hinblick auf die gesellschaftliche Repräsentation sind lokale Interessen von größter Bedeutung, wobei die Aggregation solcher Interessen vornehmlich in Form von Absprachen zwischen der Parteielite besteht, die entscheidet, welche Themen der Partei wichtig sind. Entsprechend sind solche Elite-Parteien nur an einer begrenzten Integration unterschiedliche sozialer Gruppen interessiert. Gesamtgesellschaftliche Interessen spielen für sie eine nachgeordnete Rolle. Übergeordnete Ziele im Sinne der Stärkung einer demokratischen Ordnung werden von diesen Parteien nicht oder nicht als Priorität verfolgt. Der Erhalt der Ordnung ist für sie hauptsächlich insofern von Interesse, als sie ihnen die Verfolgung ihrer Partikularinteressen erlaubt.
Ethnische oder religiöse Parteien können unterschiedlich organisiert sein. Manche Vertreter dieser Parteiengruppe haben nur eine schwache Organisationsstruktur, andere dagegen haben durchaus den Charakter einer Massenpartei, wie das Beispiel der hindunationalistischen BJP in Indien, UMNO in Malaysia oder der (mittlerweile wieder verbotenen) Moslembrüder in Ägypten zeigt. Das wichtigste Unterscheidungskriterium dieser Parteiengruppe ist, dass sie ihre Identität auf ein unpolitisches Merkmal stützen (Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder Religionsgemeinschaft) und ihre wichtigsten politischen Ziele darauf gerichtet sind, die Interessen der jeweiligen Gruppe zu vertreten. Im Gegensatz zu nationalistischen Parteien streben einige Vertreter dieses Typus keine administrative Autonomie oder Sezession an, sondern begnügen sich damit, die bestehende Staatsstruktur zu nutzen, um Vorteile für ihre partikularistisch definierte Wählerklientel zu kanalisieren. Allerdings gibt es auch viele Beispiele, in denen religiös motivierte Parteien den Staat durch theokratische Strukturen ersetzen wollen, sei es auf der Ebene eines bestehenden Nationalstaates (wie bspw. die Al-Nour-Partei in Ägypten) oder in Form einer transnationalen panislamistischen Bewegung, wie bspw. die Muslim Brotherhood und deren vielfältige Erscheinungsformen im Nahen und Mittleren Osten, die für die Schaffung eines globalen theokratischen Staates aller Muslime kämpfen. Bei den auf ethnischen Unterscheidungsmerkmalen basierenden Parteien erfolgt die Nominierung von Kandidaten durch die Parteiführung oder lokale ethnische Eliten, wobei es durchaus zu einem innerparteilichen Wettbewerb um die Nominierung für Parlamentssitze oder Posten in Regierungsämtern kommen kann. Die Mobilisierung bei Wahlen folgt dem klientelistischen Muster der Abhängigkeit von vertikalen sozialen Netzwerken und weniger den Mobilisierungsstrategien von Massen- oder breiter aufgestellten Wählerparteien. Wie die klientelistischen setzen auch die ethnischen und religiösen Parteien vornehmlich partikularistische Themen. Sie vertreten nahezu ausschließlich die Interessen der entsprechenden Gruppen oder von Untergruppen, die eine verwandte ethnische Identität besitzen. Das gilt für unterschiedliche Länder und Regionen mit starken ethnischen Identitäten wie beispielsweise Myanmar in Asien, Kenia in Afrika oder Länder mit starken indigenen Parteien in Lateinamerika. Wenn die ethnische Gruppe eine Mehrheit oder annähernd eine Mehrheit stellt, kann dies zu einer einseitigen Regierungsbildung führen, was, wie beispielsweise in Sri Lanka, unter Umständen zu einem Konflikt mit einer rivalisierenden ethnischen Partei führen kann. Je stärker eine Partei auf ihr ethnisches Profil ausgerichtet ist, desto unwahrscheinlicher ist es, dass sie sich für die Interessen derjenigen Bürger interessiert, die diese Identität nicht teilen.
Bewegungs-Parteien sind aus einer sozialen Bewegung hervorgegangen (was im Grund bei vielen Parteien der Fall ist) und versuchen, diesen Charakter der »Bewegung« auch als Partei noch zu bewahren. Den grünen Parteien in Europa beispielsweise war in den ersten Jahren nach ihrer Transformation noch stark der Bewegungscharakter anzumerken. Mittlerweile gehören sie größtenteils zu den Wählerparteien des Establishments. Aktuelle Bewegungs-Parteien in Europa finden sich auf allen Seiten des politischen Spektrums. Dazu gehören etwa linkspopulistische Parteien wie Syriza in Griechenland, Movimento 5 Stelle in Italien oder Podemos in Spanien, aber auch rechtspopulistische Parteien wie Goldene Morgenröte in Griechenland, die Schwedendemokraten oder Vox in Spanien. Die linkspopulistischen Parteien agieren gegen Globalisierung, Marktwirtschaft und die Bevormundung durch staatliche Bürokratie und zugunsten sozialer Solidaritätsbeziehungen und einer »partizipativen Demokratie«. Ihr politisch-ideologisches Programm deckt in der Regel ein breites Themenfeld ab. Auch die rechtspopulistischen Parteien wenden sich gegen die Globalisierung und ihre Begleiterscheinungen, fordern aber als Schutzmechanismus nicht mehr Demokratie, sondern die Rückkehr zu nationalistischen Maßnahmen der Abschottung und Exklusion. Die sogenannten Internet-Parteien kann man ebenfalls zur Gruppe der Bewegungs-Parteien zählen.
Digitale Parteien stellen einen neuen Parteientyp dar, der durch die erweiterten digitalen Kommunikationsmöglichkeiten entstanden ist. Zu dieser Gruppe gehören beispielsweise die »Piraten«-Parteien in Nord- und Zentraleuropa, aber auch Movimento 5 Stelle in Italien und Podemos in Spanien, die sich zudem als Bewegung definieren. Sie simulieren eine Art direkter und »partizipativer« Demokratie, indem sie ihren Mitgliedern über Online-Plattformen die Möglichkeit geben, an Diskussionen und elektronischen Abstimmungen oder auch Online-Schulungen teilzunehmen; Geldspenden werden ebenfalls online eingeworben (Mosca 2020). Eine genaue Betrachtung solcher Parteien und ihrer internen Verfahren kommt allerdings zu dem Ergebnis:
»Sowohl in M5S [Movimento 5 Stelle; W. H.] als auch in Podemos gibt es eine deutliche Diskrepanz zwischen dem hochfliegenden Versprechen und der prosaischen Realität der digitalen Demokratie: Es ist daher zweifelhaft, ob diese Parteien demokratischer sind als die traditionellen politischen Parteien. Zwar wurden partizipatorische Plattformen als eine Möglichkeit vorgestellt, die Parteipolitik von Vermittlern zu befreien und gewöhnliche Mitglieder direkt in politische Entscheidungen einzubeziehen, doch ihre Praxis war stark plebiszitär und von oben nach unten ausgerichtet. Die Beteiligung der Mitglieder wurde erheblich eingeschränkt und stellt oft kaum mehr als eine ›reaktive Demokratie‹ dar, in der die Nutzer aufgefordert werden, bereits an der Spitze getroffene Entscheidungen abzusegnen und politische Ideen von oben zu bestätigen, jedoch ohne verbindliches Mandat.« (Gebaudo 2019, 17).
Diese Parteien haben zwar einige Neuerungen in Bezug auf die gemeinsame Entwicklung von Politikvorschlägen eingeführt, doch blieb das in ihrem Umfang recht begrenzt. An virtuellen Diskussionen beteiligen sich vergleichsweise weniger Parteimitglieder als an Online-Wahlen und -Referenden, sodass es fraglich ist, welches Maß an Legitimität und Repräsentativität solche virtuellen Debatten und vor allem die daraus hervorgehenden Beschlüsse haben, weil sich am Ende solcher Beratungsprozesse eine starke Zentralisierung der Entscheidungsfindung herausstellte. So wurde bei digitalen Parteien zwei Formen der Zentralisierung beobachtet: Einerseits wurden viele Entscheidungen auf »Online-Vollversammlungen« konzentriert, neben denen es praktisch keine andere Form der Debatte gab, wie das in anderen Parteien üblich ist. Es fehlt die Diskussion bestimmter Materien durch Gremien, in kleinen Kreisen, mit Experten etc., um ein Thema von unterschiedlicher Seite zu beleuchten, um zu einem Beschluss zu gelangen. Andererseits hat die Parteiführung die zentrale Kompetenz der Einberufung und Festlegung des Zeitpunkts von Konsultationen, was ihr einen großen Einfluss auf das Ergebnis der Online-Debatten garantiert. Diese Zentralisierung schwächt überdies die lokalen Organisationseinheiten – wie Sektionen, Zweigstellen, Zellen –, die früher für die Mitgliederwerbung und das Führen von Mitgliederlisten zuständig waren. Der ohnehin begrenzte demokratische Pluralismus in diesen digitalen Parteien ist dadurch zusätzlich eingeschränkt. Meinungsverschiedenheiten sind durch diese Zentralisierung nur begrenzt möglich. Online-Abstimmungen führen zu einem konformistischen Verhalten und zu Abstimmungsergebnissen mit sehr hohen Mehrheiten von in der Regel mehr als 80 % zu den (von der Parteiführung gewünschten) Vorlagen. Es geht also mehr um das Absegnen von Führungsentscheidungen als um echte Wahlmöglichkeiten zwischen unterschiedlichen Optionen. Solche Verfahren erinnern insofern an die Abstimmungen in den kommunistischen Staaten des früheren Sowjetblocks oder in China. Bei Podemos in Spanien beispielsweise wurde bisher in keinem internen »Referendum« gegen eine Vorlage der Parteiführung gestimmt. Auch bei M5S in Italien ist nur in ganz wenigen Fällen eine größere Zahl von Mitgliedern ihrer Parteiführung nicht gefolgt. Die plebiszitäre Online-Demokratie und die digitalen Parteien werden somit in der Praxis ihrem Anspruch auf größere und direkte Mitgliederbeteiligung nicht gerecht und bieten nur wenig Raum für eine kritische innerparteiliche Partizipation.
Der Blick auf verschiedene Parteientypen aus unterschiedlichen Perspektiven bestätigt, dass es kein »Modell« einer Partei gibt, das am besten dazu geeignet ist, die verschiedenen Funktionen zu erfüllen, die den Parteien in einer Demokratie zugeschrieben werden. Die Wählerpartei mag zwar im Hinblick auf Ideologie und Programm etwas beliebiger erscheinen als manche der anderen Parteientypen. Doch gerade diese Flexibilität kann dazu beitragen, dass sie ein breites Spektrum von sich verändernden Anliegen und Themen aufgreift, die den Wählern wichtig sind. Ihr Abschneiden bei Wahlen ist zunächst ein Beleg dafür, wie weit es ihr gelingt, die Hoffnung der Wähler zu wecken und ihre Anliegen im politischen Raum zu repräsentieren. Sofern sie an einer Regierung beteiligt wird, kann sie diese Kapazität auch durch praktische Politik bestätigen. Bei guter Regierungsbilanz (und einem untadeligen Erscheinungsbild ihrer Repräsentanten) kann sie auf Wiederwahl hoffen. Wichtig ist dafür aber auch, dass sie durch den Auf- und Ausbau der Parteiorganisation die Voraussetzung und Fähigkeit entwickelt, zu verstehen, was die Wähler wollen und mit ihnen einen kontinuierlichen und dauerhaften Kontakt aufbaut, der sich nicht nur auf den Wahltag beschränkt.