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Was bedeutet Demokratie?
ОглавлениеBei aller Sorge über jüngere Entwicklungen sollten wir uns einen Punkt vor Augen halten: Demokratie ist eine noch recht junge Regierungsform. Sie entstand im antiken Griechenland mit der Wahl der Regierungen einiger Stadtstaaten durch deren Bürger, die auch an den Beratungen und Entscheidungen über öffentliche Angelegenheiten beteiligt waren und so ihre Regierungen kontrollierten. Doch nach diesen ersten Erfahrungen mit der Demokratie existierten jahrhundertelang weltweit andere Regierungsformen. Unser heutiges Verständnis von Demokratie basiert zwar immer noch auf den im antiken Griechenland eingeführten Verfahren, unterscheidet sich aber doch in wichtigen Punkten davon. Natürlich ist Demokratie zunächst die »Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk«, um die bekannte Definition des ehemaligen US-Präsidenten Abraham Lincoln (1809–1865) zu zitieren, der damit zwei Aspekte hervorhob: die Wahl der Regierung durch das Volk, aber auch die Verpflichtung einer gewählten Regierung gegenüber den Bürgern. Zu Zeiten Abraham Lincolns war die Wählerschaft jedoch, ähnlich wie im antiken Griechenland, klein und bestand nur aus einer Gruppe weißer und wohlhabender Männer. Politische und gesellschaftliche Rechte und Freiheiten blieben nicht nur den 1865 offiziell »befreiten« ehemaligen Sklaven weiterhin verwehrt. Frauen erhielten in den USA erst 1920 das Wahlrecht, und die Afroamerikaner gewannen den Kampf um ihr Wahlrecht erst nach dem sogenannten Blutsonntag in Selma (Alabama) im Jahr 1965 – vor etwas mehr als 50 Jahren. Auch in anderen (westlichen) Demokratien wurde das Wahlrecht den Frauen im Laufe des 20. Jahrhunderts erst spät zugestanden. In der Schweiz, die wegen ihrer direkten Demokratie mit vielen Volksbefragungen manchmal als Modell für demokratische Verfahren bezeichnet wird, erhielten die Frauen das Wahlrecht erst 1971.
Obwohl die Demokratie schon in der Antike über einen gewissen Zeitraum existierte, entstanden erst in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg ab 1945 politische Systeme, die unserem heutigen Demokratieverständnis näherkommen. Bis dahin waren hauptsächlich in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und den skandinavischen Ländern gefestigte Demokratien entstanden, während in anderen Ländern Europas und des amerikanischen Kontinents die Einführung stabiler demokratischer Ordnungen teilweise mehrfach gescheitert war. In Deutschland beispielsweise endete die Demokratie der Weimarer Republik (1919–1933) mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten. Vielerorts orientierte sich die Gestaltung der neuen Demokratien ab 1945 an den Erfahrungen der parlamentarischen Demokratie Großbritanniens bzw. der präsidentiellen Demokratie der USA.
In vielen Teilen der Erde setzte sich die Demokratie als Regierungsform erst ab Mitte der 1970er durch, zunächst in Südeuropa, danach in den 1980er-Jahren in Lateinamerika mit dem Ende der dortigen Militärregierungen, aber auch in einigen asiatischen Ländern mit dem Abtreten der autoritären Regierungen auf den Philippinen und in Indonesien, Südkorea und Taiwan. Afrika südlich der Sahara wurde vor allem ab den 1990er-Jahren von der »dritten Welle der Demokratisierung« erfasst; zur gleichen Zeit, als auch die ehemals kommunistischen Staaten in Ost-, Zentral- und Südosteuropa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts einen Regimewechsel zu freiheitlichen und repräsentativen Demokratien vollzogen. In Nordafrika und im Nahen Osten besteht trotz der Frustration des »Arabischen Frühlings« zumindest bei vielen jungen Menschen die Hoffnung, dass auch ihre Länder sich eines Tages zu Demokratien wandeln. Aus einer globalen Perspektive betrachtet ist die Demokratie somit noch ein recht junges Regierungskonzept.
So unterschiedlich die staatliche Ordnung der einzelnen Länder organisiert ist, müssen sie doch einige Prinzipien erfüllen, um als Demokratien zu gelten. Die Wahl der Regierung durch die Bürgerinnen und Bürger in freien und fairen Wahlen und die Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber den Bürgern ist der Markenkern jeder Demokratie. Kurz gesagt: Es geht um die Kontrolle politischer Macht durch die Bürger. Um dies zu gewährleisten, sind weitere Elemente wesentlich: »wirklicher und ausgeprägter Wettbewerb in regelmäßigen Abständen und ohne Gewaltanwendung zwischen Individuen und Gruppen (besonders politischen Parteien) um alle wichtigen Regierungspositionen; ein hohes Niveau politischer Partizipation bei der Auswahl von Führern und Politikern, nicht zuletzt durch regelmäßige und faire Wahlen, so dass keine größere soziale Gruppe von Erwachsenen ausgeschlossen ist; und ein Niveau bürgerlicher und politischer Freiheiten – freie Meinungsäußerung, Pressefreiheit, Vereinigungsfreiheit – welche hinreichend stark ausgeprägt sein müssen, um die Beständigkeit politischen Wettbewerbs und politischer Partizipation zu gewährleisten« (Linz/Diamond/Lipset 1988, xvi). Eine politische Opposition und eine unabhängige Justiz sind ebenfalls unerlässlich, weil beide zusammen erst die Beachtung und Einhaltung der demokratischen Spielregeln sowie Rechtsstaatlichkeit und Regierungswechsel garantieren. Vor allem die Existenz einer (echten) Oppositionspartei ist ein entscheidendes Charakteristikum von Demokratie; ihr Fehlen ist »ein Beleg, wenn nicht eine Bestätigung, für das Nichtvorhandensein von Demokratie« (Dahl 1971, 8).
Weil politischer Wettbewerb und politische Partizipation, das heißt das Recht jedes Bürgers, am politischen Wettbewerb teilzunehmen, Grundpfeiler einer Demokratie sind, spielen die politischen Parteien für diese Regierungsform eine maßgebliche Rolle. Sie sind es, die den Wettbewerb repräsentieren und austragen. Nur in seltenen Fällen, meist auf der lokalen Ebene, können sich die Bürger allein einem politischen Wettbewerb stellen. In der Regel aber schließen sie sich mit anderen Gleichgesinnten in Vereinigungen zusammen, um an der politischen Auseinandersetzung teilzunehmen. Aus diesen Vereinigungen entstehen die Parteien.
Demokratie beschränkt sich nicht auf die Durchführung von Wahlen oder eine »vertikale« bzw. eindimensionale Rechenschaftspflicht der Regierenden gegenüber den Regierten. »Vertikal« oder eindimensional bedeutet, dass die Herrschenden zwar die Öffentlichkeit informieren, dabei jedoch selbst entscheiden, worüber und wie umfangreich sie informieren, ohne dass dies kritisch hinterfragt oder geprüft werden könnte. Unser heutiges Verständnis geht über eine solche einseitige Kommunikation hinaus. Wir erwarten beispielsweise, dass die Amtsträger auch einer »horizontalen« Rechenschaftspflicht nachkommen, d. h., dass es auf der staatlichen Ebene Regelungen gibt, die bestimmen, dass und wie eine staatliche Instanz eine formale Befugnis besitzt, bestimmte Entscheidungen zu treffen und umzusetzen, Erklärungen zu verlangen oder auch andere zu bestrafen. Vor allem erwarten wir, dass die Regierenden ihre Entscheidungen begründen. Das betrifft einerseits interne Kontrollen und Aufsichtsprozesse, weshalb Entscheidungen Regeln folgen müssen und einem System der wechselseitigen Kontrolle unterliegen, den »checks and balances«. Andererseits besteht eine Auskunftspflicht gegenüber Medien und Bürgern, die heute Transparenz in Form einer umfassenden Information und Begründung der Regierung über die getroffenen Entscheidungen verlangen. In etlichen Ländern wurde diese Auskunftspflicht in den letzten Jahrzehnten erweitert, sodass die Medien viele Unterlagen, die früher als »vertrauliche Staatssache« galten, heute von staatlichen Stellen anfordern und veröffentlichen können.
Demokratie bedeutet nicht, dass bestimmte Rechte oder Ansprüche überall einheitlich geregelt sein müssen. Für das Strafrecht, die Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialordnung eines Landes, aber auch für bestimmte Freiheitsrechte, können ganz unterschiedliche Normen gelten. So gibt es weltweit unterschiedliche Regelungen über die Todesstrafe, Abtreibung, Sterbehilfe, gleichgeschlechtliche Ehe, den Datenschutz und die Videoüberwachung, bestimmte Freizügigkeiten oder auch die Kritik an Religionen und religiösen Gemeinschaften. Selbst bei der Meinungs- und Pressefreiheit existieren unterschiedliche Regelungen: In Deutschland beispielsweise ist die Verbreitung von Gedankengut und Schriften des Nationalsozialismus verboten, während das in einigen Nachbarländern oder auch den USA möglich ist. Ohnehin ist in den USA das Recht auf Meinungsfreiheit viel weiter gefasst als in vielen anderen Demokratien. Wichtig ist bei solchen Themen, dass bei ihrer Regelung die Prinzipien der Demokratie bewahrt und Entscheidungen darüber mit demokratischen Verfahren getroffen werden – und dass sie keinesfalls den politischen Wettbewerb oder die Kontrolle der Regierung beeinträchtigen. Anlässlich der Verbreitung des Coronavirus Anfang 2020 haben viele demokratische Staaten Grund- und Freiheitsrechte ausgesetzt, darunter die Freizügigkeit, die Versammlungsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung und selbst die Freiheit der Person. Das sind außergewöhnliche Entscheidungen, die in einer Extremsituation möglich sind, aber in einer Demokratie vom Parlament bestätigt und zeitlich eng befristet sein müssen. Eine Verlängerung des Ausnahmezustands erfordert im Prinzip erneute parlamentarische Zustimmung. Doch in einigen Ländern, z. B. in Ungarn, haben sich die Regierungen von willfährigen parlamentarischen Mehrheiten langfristige und umfassende Eingriffsmöglichkeiten in die persönlichen Freiheitsrechte der Bürger geben lassen. Im Hinblick auf die Unveräußerlichkeit von bestimmten Freiheitsrechten ist das problematisch. Unveräußerlichkeit bedeutet, dass in einer freiheitlichen Demokratie jede Person eigene Freiheitsrechte besitzt, die sie auch nicht freiwillig auf andere Personen oder Institutionen übertragen kann. Insofern ist die Einschränkung der persönlichen Freiheitsrechte, sei es während der Pandemie oder aus einem anderen Anlass, in jedem Fall ein gravierender Einschnitt, der die Grundprinzipien einer freiheitlichen Demokratie unmittelbar berührt. Diese Grundprinzipien zu achten, muss ein zentrales Ziel staatlichen Handelns sein.
Demokratie ist eine politische, aber keine Wirtschafts- oder Sozialordnung. Jeder Bürger hat im Prinzip die gleichen Rechte, doch eine »Gleichheit« aller Bürger können weder die Demokratie noch andere Regierungsformen garantieren. So wird immer wieder von politischen Parteien mehr »Gleichheit« gefordert, weil ein hohes Maß an Ungleichheit bei Einkommen, Bildung und Gesundheit die Fähigkeit armer und benachteiligter Bevölkerungsgruppen untergrabe, sich sinnvoll zu beteiligen (Dahl 1989: 12). Gewiss können informierte und wirtschaftlich mehr oder weniger gleichgestellte Bürger eher auf Augenhöhe am politischen Prozess teilnehmen. Tatsächlich zeigen Umfragen – wie etwa das Latinobárometro in Lateinamerika –, dass bei anhaltender Armut und Ungleichheit die Unterstützung vieler Menschen für die Demokratie nachlässt, weil sie über die ungenügende Leistungsfähigkeit des Staates und auch der von ihm getragenen politischen Parteien enttäuscht sind (Latinobarómetro 2018). Dennoch funktionieren viele Demokratien unter Beachtung ihrer grundlegenden Prinzipien auch in Ländern mit anhaltender großer Ungleichheit. Das zeigt sich nicht nur in Ländern wie Indien oder Brasilien, sondern auch in manchen europäischen Demokratien, in denen ebenso wie in den USA zum Teil starke innergesellschaftliche Unterschiede existieren, die aber den demokratischen Prozess nicht grundsätzlich in Frage stellen.
Schon diese wenigen Ausführungen zeigen, dass das Konzept der Demokratie komplexer ist und viel mehr Aspekte umfasst, als man mit einer kurzen Definition benennen kann. Doch für den Zweck dieses Buches mag es genügen, wenn wir uns auf wenige Prinzipien begrenzen, die man stichwortartig zusammenfassen kann: freie und faire Wahlen, verantwortliche Regierung und ihre Kontrolle, Partizipation der erwachsenen Bürger mittels eines aktiven und passiven Wahlrechts, die Gewährleistung der politischen und bürgerlichen Freiheiten sowie die Sicherung der Rechtsstaatlichkeit durch eine unabhängige Justiz, welche die Bewahrung der übrigen Prinzipien garantiert. Im folgenden Schaubild sind diese Prinzipien als Grundpfeiler der Demokratie dargestellt.
Abb. 1: Grundpfeiler der Demokratie.
Zur Stärkung dieser Grundpfeiler der Demokratie tragen die politischen Parteien in entscheidendem Maße bei:
• Sie verkörpern und gestalten den politischen Wettbewerb und sind die wichtigsten, oft die einzigen, Akteure bei Wahlen.
• Sie stellen die Regierungen oder sind maßgeblich an Regierungen beteiligt.
• In den Parlamenten entscheiden sie über Gesetze und kontrollieren die Regierungen.
• Sie informieren, sozialisieren und mobilisieren die Bürger zur politischen Teilnahme und nominieren Bürger als Kandidaten für Wahlen.
• Sie setzen sich in Regierung und Parlament für die Erhaltung und eventuell auch die Ausweitung der politischen Grundfreiheiten ein, von deren Respekt auch ihre eigene Existenz abhängt.
• Sie garantieren durch ihre Arbeit in Regierung und Parlament und im Rahmen ihrer sonstigen politischen Aktivitäten die Einhaltung der Gesetze und die Unabhängigkeit der Justiz.
• Wo einflussreiche Parteien dazu beitragen, dass einer oder mehrere dieser Grundpfeiler der Demokratie geschwächt werden, ist die demokratische Ordnung bedroht.
Gerade diejenigen, die sich in politischen Parteien engagieren und damit zur Lebendigkeit von Demokratie beitragen, sollten diese Grundpfeiler der Demokratie kennen. Auf allen Kontinenten gibt es Regierungen und politische Systeme, die sich zwar als demokratisch bezeichnen, aber gegen eines oder mehrere der Attribute einer Demokratie verstoßen. Dazu gehören nicht zuletzt die sogenannten »Wahldemokratien«, in denen zwar in regelmäßigem Abstand Wahlen durchgeführt, den Bürgern aber politische Freiheiten verwehrt werden, ganz zu schweigen davon, dass in solchen Fällen auch die »checks and balances«, die gegenseitige Kontrolle der staatlichen Instanzen, nicht wirklich funktionieren.