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§ 14. Neuplatonismus 1. Das Viele und das Eine

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Von noch entscheidenderer Bedeutung für die Entfaltung des philosophisch-theologischen Denkens in der Spätantike ist der Neuplatonismus, und in seinem Rahmen insbesondere der bedeutendste Denker dieser Richtung, Plotin.1 Sein denkerischer Entwurf ist die letzte und zugleich großartigste philosophisch-theologische Anstrengung der Antike, in einer Zeit, in der die Problematik bereits im Begriffe steht, von der christlichen Verkündigung her verwandelt zu werden.

In seinem Ausgangspunkt knüpft Plotin an die Grundprinzipien der griechischen Philosophie überhaupt an, und zwar in einer doppelten Weise. Einmal geht auch er vom Leiden an der Endlichkeit aus, das seit seinem Beginn das griechische Denken in Gang gebracht hat. Zum andern sieht auch Plotin, dem philosophisch-theologischen Grundzug des griechischen Philosophierens gemäß, die Wirklichkeit unter dem göttlichen Aspekt: der Philosoph ist „in Bewegung auf das Obere zu“ (I 3, 3). Beide Ausgangspunkte werden jedoch bei ihm in eigentümlicher Weise umgebildet.

Was zunächst das Leiden an der Endlichkeit angeht, so entspringt es in der Sicht Plotins aus der Erfahrung nicht so sehr der Vergänglichkeit des Seienden, als vielmehr der Vereinzelung der Dinge: daß sie voneinander abgesondert sind, jedes ein bestimmtes Einzelnes für sich, und daß sie im Gegensatz zueinander stehen. Der Kosmos ist „vielfältig und in eine Vielheit verteilt; eines steht vom andern ab und ist ihm fremd geworden; nicht mehr (herrscht) allein Freundschaft, sondern durch das Auseinanderstehen auch Feindschaft“ (III 2, 2).

Das eigentlich Anstößige an der Wirklichkeit ist also für Plotin, daß in ihr durchgängig Vielheit herrscht. Und das gilt nicht nur für das Miteinander der Dinge im Ganzen des Kosmos; auch „das Sein des Einzelnen ist Vielheit“. Ja, das Moment der Vielfalt bleibt nicht auf die Sinnenwelt, den eigentlichen Ort der Endlichkeit, beschränkt. Auch das wahrhaft Seiende, das Plotin im Anschluß an Platon in den Ideen erblickt, ist vielfältig; „denn jede einzelne Idee besteht aus Vielem und ist zusammengesetzt“ (VI 9, 2). Selbst der Geist ist „nicht einfach, sondern Vieles“ (V 4, 2); er ist „Geist und Gedachtes zugleich, mithin zwei zugleich“ (1118, 9), und dies auch in seinem Grundcharakter als Selbstbewußtsein: „wenn der Geist selber das Denkende und das Gedachte ist, wird er zwiefältig sein“ (VI 9, 2). Kurz: die gesamte Wirklichkeit, Sinnenwelt, Ideenwelt und Geist, ist von Vielfalt durchzogen.

Daß dies befremdlich ist, davon gibt die Wirklichkeit selber Kunde, sofern sie nämlich von einer Sehnsucht nach der Einheit durchzogen ist; das Viele „trachtet … nach dem Einen“ (V 3, 15). Dem entspricht das Selbstgefühl des Menschen; er empfindet sein Dasein in der Welt als „Verbannung und Flucht“, und daraus erwächst die Sehnsucht, über dieses leidvolle Dasein hinauszugelangen, „der Eros der Seele, der ihr eingeboren ist“ (VI 9, 9).

Die Sehnsucht nach dem Einen erwächst letztlich daraus, daß das Viele im Grunde vom Einen abhängt; „alles streckt sich aus nach jenem und trachtet nach ihm aus Notwendigkeit seiner Natur, gleich als ahne es, daß es ohne jenes nicht sein kann“ (V 5, 12). Denn es gilt: „All das nicht Eine wird durch das Eine erhalten und ist, was es ist, durch dieses“ (V 3, 15). Daraus zieht Plotin den Schluß: „Vor dem Vielen muß das Eine sein, von dem her auch das Viele ist“; denn „sonst würde das Viele auseinandergerissen“ (V 3, 12), die Wirklichkeit würde heillos zerspalten.

Jenes Eine, alles Viele Erhaltende nun ist für Plotin die Weise, in der er das Göttliche oder auch das Erste der göttlichen Welt in den Begriff zu fassen sucht. Hier also tritt jene andere griechische Grundvoraussetzung ins Spiel: der Gedanke der Anwesenheit des Göttlichen in der Wirklichkeit. „Von dem Gott sagen wir nicht, er sei zwar hier, aber nicht dort“; vielmehr gilt von ihm, was man „über alle Götter sagt: daß sie überall anwesend sind“ (VI 5, 4).

Plotin macht sich nun mit höchster Energie des Gedankens daran, „über das Eine zu philosophieren“ (VI 9, 3). Dieses, und zwar das „schlechthin Eine“, das πάντωϛ ἔν (VI 2, 9), wird ihm zum entscheidenden Grundbegriff seiner Philosophischen Theologie.

In dieser Absicht muß der Gedanke des Einen von all dem befreit werden, was die fragwürdige Wirklichkeit kennzeichnet. Das Eine ist der Welt des Vielen enthoben; „es ist anwesend, indem es gleichwohl getrennt ist“ (VI 4, 3). Der vorzüglichste Begriff, in dem Plotin diesen Grundzug des Einen zu begreifen sucht und den er von Platon übernimmt,2 ist der des ἐπέϰεινα, des „Darüberhinaus“; das Eine ist „über alles hinaus“ (V 3, 13). ’Eπέϰεινα wird häufig als „das Jenseitige“ übersetzt und als die Transzendenz des plotinischen Gottes bezeichnet. Aber beide Ausdrücke treffen die gemeinte Sache nicht genau. Im Begriff des „Jenseitigen“ wird das Moment der Anwesenheit im Diesseitigen vernachlässigt; das Eine ist zwar „abgesondert“, aber doch zugleich „selber anwesend“ (VI 4, 3). Und was den Begriff der Transzendenz angeht, so ist er mehrdeutig; die „Transzendenz“ im Sinne Plotins unterscheidet sich von dem aus der jüdisch-christlichen Tradition in die spätere philosophisch-theologische Sprache eingegangenen Begriff der Transzendenz, dem Gedanken des persönlichen, über die Welt erhabenen Gottes. Trotz der Schwerfälligkeit des Ausdrucks wird es daher zweckmäßig sein, das Wort ἐπέϰεινα mit „das Darüberhinaus“ zu übersetzen.3

Diesem seinem Grundzug gemäß übersteigt das Eine alles Seiende, dem ja der Charakter der Vielheit zukommt; es ist „ über das Seiende“ und „über das Sein hinaus“ (V 5, 6 und V 4, 1). Daher auch ist es selbst „kein Seiendes“ (VI 9, 3), „kein Sein“ (V 5, 6), kein „ist“ (VI 7, 38), kein „Dieses“ (V 5, 6), kein „Etwas“ (VI 9, 3) und dementsprechend auch „gestaltlos“ (V 5, 6). Das Eine übersteigt auch den Geist und dessen Selbstbewußtsein; auch diese sind ja durch Vielheit gekennzeichnet. Das Eine ist „über den Geist hinaus“ (V 3, 11), und „es bedarf nicht des Denkens seiner selbst“ (VI 9, 6). Die in der vorangehenden Philosophischen Theologie der Griechen ausgebildeten Bestimmungen des Göttlichen als des höchsten Seienden oder als des Geistes muß also, wie Platin meint, hinter sich lassen, wer das Eine recht begreifen will; ja selbst wenn man es „als Gott denkt, ist es mehr“ (VI 9, 6).

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