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X. Die verwaltungsgerichtliche Prüfungsbefugnis in Fällen mit Bezug zum Recht der Europäischen Union bzw supranationaler Organisationen
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Die zunehmende Verflechtung des Unionsrechts mit dem deutschen Recht hat auch ihre prozessualen Konsequenzen, indem zu prüfen ist, in welchem Umfang deutsche Gerichte zur Kontrolle von Rechtsakten mit Unionsrechtsbezug befugt sind. Die damit aufgeworfene Frage nach dem Rechtsweg zu den deutschen Gerichten bzw ihrer internationalen Zuständigkeit ist dabei jedoch nicht identisch mit dem Vorliegen der deutschen Gerichtsbarkeit[108]. Da im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 GG[109] auch § 40 Rechtsschutz nur gegen Akte der deutschen öffentlichen Gewalt gewährt, können Rechtsakte der EU sowie von zwischenstaatlichen Einrichtungen wie Eurocontrol und den Europäischen Schulen[110] grundsätzlich nicht unmittelbar (prinzipal) Gegenstand von Verfahren vor deutschen Gerichten sein[111]. Eine entsprechende Klage ist wegen Fehlens der internationalen Zuständigkeit der deutschen Gerichte idR unzulässig. Ob man diese in § 40 hineinliest oder als vorgelagerte Frage selbstständig prüft, spielt dabei keine entscheidende Rolle. Wegen der unterschiedlichen Fehlerfolgen sollte man jedoch in diesem Zusammenhang besser nicht von deutscher Gerichtsbarkeit sprechen und diesen Begriff für die oben angesprochenen Fragen insbes. der §§ 18 ff GVG reservieren.
Wegen des idR bestehenden Vorrangs des Unionsrechts wären deutsche Gerichte ohnehin prinzipiell nicht in der Lage, dieses wegen seiner Unvereinbarkeit mit deutschem Recht in Deutschland für unanwendbar zu erklären. Anderes soll nach der Rspr. des BVerfG nach vorheriger Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens gem. Art. 267 AEUV nur gelten, falls das Unionsrecht die Grenze des nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG Übertragenen und die Grenze des nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 3 GG iVm Art. 79 Abs. 2 und 3 GG Übertragbaren überschreitet[112] Dem korrespondiert es, wenn das BVerfG in der Maastricht-Entscheidung ausführt, es habe die generelle Gewährleistung eines unabdingbaren Grundrechtsstandards auch gegenüber Gemeinschaftsrecht zu sichern (BVerfGE 89, 132, 175). Es ging aber bereits damals davon aus, dass dieser Grundrechtsstandard – was ausreichen soll – jedenfalls generell gewährleistet sei (s. auch BVerfGE 102, 147 LS 1), so dass die Frage, in welchem Verfahren das BVerfG eine Einhaltung der Grenzen des Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 3 GG sicherzustellen hat, momentan keine praktische Bedeutung hat (s. aber nunmehr BVerfGE 140, 317, 336 ff). Das gilt umso mehr, als der Grundrechtsschutz nunmehr in der Grundrechtscharta der EU normiert ist. Bei einem Widerspruch zwischen EU-Recht und nationalem Verfassungsrecht sind die Fachgerichte aber jedenfalls nicht befugt, von sich aus Unionsrechts zu verwerfen. Sie müssten vielmehr zunächst eine Vorabentscheidung des EuGH gem. Art. 267 AEUV herbeiführen. Erst dann könnten sie bei einer von ihnen angenommenen Unvereinbarkeit von Unionsrecht mit Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 3 GG das Zustimmungsgesetz (nicht das primäre Unionsrecht) gem. Art. 100 Abs. 1 GG vom BVerfG überprüfen lassen. Bei sekundärem Unionsrecht müsste hingegen dieses analog Art. 100 GG dem BVerfG vorgelegt werden. Eine Vorlage ist aber nach BVerfGE 102, 147, 164 nur dann zulässig, wenn das vorlegende Gericht in ihr darlegt, dass der Grundrechtstandard der EU generell unter den durch Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 3 GG geforderten Standard abgesunken ist. Wäre dies gegeben und stellte das BVerfG überdies in concreto eine Verletzung des Art. 23 Abs. 1 S. 1 und 3 GG durch das Zustimmungsgesetz bzw das sekundäre Unionsrecht fest, so führte dies zur Unanwendbarkeit des Unionsrechts im Inland (dazu näher Streinz, Europarecht, Rn 194 ff). Das BVerfG hält sich im Übrigen allgemein für befugt und verpflichtet, nach vorheriger Einschaltung des EuGH (Art. 267 AEUV) Unionsrecht darauf zu überprüfen, ob es die Grenze des nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 iVm Art. 79 Abs. 3 GG Übertragbaren (sog. Identitätskontrolle) und die Grenze des nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG Übertragenen (sog. Ultra-vires-Kontrolle) einhält. Es sieht sich hierbei nicht durch eine zuvor im Vorabentscheidungsverfahren ergangene Entscheidung des EuGH gebunden, legt aber seiner Überprüfung grundsätzlich den Inhalt und die Beurteilung zugrunde, die das Unionsrecht zuvor durch den EuGH erhalten hat. In seiner Entscheidung vom 5.5.2020[113] ging das BVerfG in Verbindung mit der Überprüfung der Beschlüsse der Europäischen Zentralbank zum Staatsanleiheankauf – abweichend vom EuGH – erstmals davon aus, dass Beschlüsse eines Unionsorgans und eine sie bestätigende Entscheidung des EuGH die Grenze des nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG Übertragenen überschritten. Bundestag und Bundesregierung seien deshalb verpflichtet, auf ein verfassungsmäßiges Verhalten der EZB hinzuwirken. Das BVerfG betont hierbei aber zugleich, dass es seine Ultra-vires-Kontrolle zurückhaltend und europafreundlich durchzuführen hat. Es sei deshalb nur befugt zu überprüfen, ob das Handeln der Unionsorgane offenkundig das ihnen durch das nationale Recht erteilte Mandat überschritten hat und eine strukturell bedeutsame Kompetenzverschiebung zulasten der Mitgliedsstaaten bewirkt.
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Akte, die von deutschen Behörden auf Grund von Unionsrecht erlassen wurden, können jedoch als Akte deutscher öffentlicher Gewalt von den Verwaltungsgerichten kontrolliert werden[114]. Für solche Klagen ist also immer der Rechtsweg zu den deutschen Verwaltungsgerichten gegeben. Allerdings sind bei der Begründetheitsprüfung die inhaltlichen Beschränkungen der Entscheidungskompetenz zu beachten, die sich aus dem Unionsrecht ergeben. Die letztverbindliche Auslegung von Unionsrecht bleibt mithin der europäischen Gerichtsbarkeit vorbehalten; bei Auslegungszweifeln hat das nationale Gericht daher nach Art. 267 AEUV vorzulegen. Diese Verpflichtung ist stets gegeben, wenn es eine sekundäre Norm des Unionsrechts wegen Verstoßes gegen primäres Unionsrecht im Hauptsacheverfahren für ungültig hält[115]. Das Verfahren ähnelt dem Vorlageverfahren nach Art. 100 GG[116]; zum Verhältnis von vorläufigem Rechtsschutz und Vorlageverfahren s. unten Rn 1083.
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Lösung der Ausgangsfälle (Rn 97 ff):
Fall 1: Die Gemeindeordnungen aller Bundesländer (s. zB § 10 Abs. 2 S. 2 BWGemO) sehen im Wesentlichen übereinstimmend vor, dass die Einwohner der Gemeinde im Rahmen des geltenden Rechts berechtigt sind, deren öffentliche Einrichtungen nach gleichen Grundsätzen zu benutzen. Damit handelt es sich hier um eine Sonderrechtsnorm, sodass ein Streit über das „Ob“ der Benutzung im Einklang mit der Zweistufentheorie öffentlich-rechtlich ist (modifizierte Subjektstheorie) und folglich der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist (s. Rn 118 ff).
a) Abwandlung 1: Geht man davon aus, dass der Begriff der öffentlichen Einrichtung auch solche Institutionen umfasst, bei welchen die Gemeinde sich privatrechtlicher Organisationsformen bedient, ist auch in der Fallvariante ein Streit über die Zulassung zur Nutzung öffentlich-rechtlicher Art (vgl Erichsen, Jura 1980, 103, 106). Der von E gegen die Gemeinde geltend gemachte Anspruch muss in einem solchen Fall darauf gerichtet sein, dass die Gemeinde auf die von ihr beherrschte GmbH dahingehend einwirkt, dem E den Gemeindesaal zur Verfügung zu stellen (Verschaffungsanspruch). Für eine Klage des E gegen die GmbH selbst wäre hingegen der ordentliche Rechtsweg gegeben (BVerwG, DVBl. 1990, 712 f; s. Rn 120).
b) Abwandlung 2: Sofern die Gemeinde – wie hier – das Nutzungsverhältnis privatrechtlich ausgestaltet, richtet sich das „Wie“ der Nutzung nach den privatrechtlichen Vorschriften des Mietrechts. Für einen Anspruch der Gemeinde auf Schadensersatz unter dem Gesichtspunkt der Pflichtverletzung ist damit der ordentliche Rechtsweg gegeben. Deshalb muss das Verwaltungsgericht gem. § 173 iVm § 17a Abs. 2 S. 1 GVG von Amts wegen den Rechtsstreit an das zuständige ordentliche Gericht verweisen. Bezüglich der Rechtsstreitigkeiten aus dem Mietverhältnis liegt damit nach hM – ähnlich wie im Subventionsrecht – ein Anwendungsfall der Zweistufentheorie vor. Dabei stellt sich allerdings auch hier die Frage, ob das Rechtsverhältnis nicht einheitlich als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren ist, um auf diese Weise ein künstliches Zerreißen der Rechtsbeziehungen zu vermeiden. Bejahte man – entgegen der hM – eine einheitliche öffentlich-rechtliche Qualifikation, so wären die mietrechtlichen Bestimmungen nur analog heranzuziehen. Auf keinen Fall in Betracht kommt dies allerdings, wenn der Saal im Eigentum einer von der Gemeinde beherrschten GmbH steht und mit dieser ein Mietvertrag abgeschlossen wird. Die GmbH kann nämlich mangels einer Beleihung mit Hoheitsgewalt keinesfalls öffentlich-rechtlich handeln (s. Rn 120, 133, 171).
c) Abwandlung 3: Bei Geltendmachung ihres Anspruchs mithilfe eines mit Rechtsmittelbelehrung versehenen Bescheids hat die Gemeinde – wenn auch rechtswidrig – Hoheitsgewalt in Anspruch genommen und damit eine öffentlich-rechtliche Maßnahme getroffen. Damit ist der Verwaltungsrechtsweg hier zu bejahen (vgl auch oben Rn 128 ff).
Fall 2: Für die hier in Frage kommenden Ansprüche des B ist nicht der Verwaltungsrechtsweg, sondern der ordentliche Rechtsweg einschlägig. Das ergibt sich für den Amtshaftungsanspruch aus Art. 34 S. 3 GG, für den Anspruch aus Aufopferung und aus Verletzung eines quasivertraglichen Schuldverhältnisses aus § 40 Abs. 2 S. 1. Das quasivertragliche Schuldverhältnis beruht nicht auf vertraglicher Vereinbarung, sondern ist mit dem Amtshaftungsanspruch verwandt, sodass es prozessrechtlich nicht wie ein öffentlich-rechtliches Vertragsverhältnis behandelt werden kann (str; vgl oben Rn 162).
Abwandlung: Für den Schadensersatzanspruch der Gemeinde gegen C aus dem quasivertraglichen Schuldverhältnis bleibt es bei der allgemeinen Regelung des § 40 Abs. 1, da die Sonderzuweisung des § 40 Abs. 2 S. 1 nicht einschlägig ist. Aus der Entstehungsgeschichte des § 40 Abs. 2 S. 1 und aus dem hier fehlenden Zusammenhang mit Schadensersatzansprüchen aus Amtspflichtverletzung ergibt sich, dass diese Norm nicht auf Ansprüche des Staates gegen einen Bürger anwendbar ist. Gem. § 173 iVm § 17 Abs. 2 S. 1 GVG ist durch die Verwaltungsgerichte auch über den – eigentlich zur ordentlichen Gerichtsbarkeit gehörenden – zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch aus Eigentumsverletzung zu entscheiden (s. Rn 162).