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3. Der Siegeszug der Perspektive

3.1 Ausbreitung über Europa

Das weltliche Bildungsideal des Renaissancemenschen breitete sich allmählich über ganz Europa aus – ebenso die perspektivische Malerei. Fasziniert von der lebensechten Darstellung der Natur, wurde sie » á la bonne heure« von aufgeschlossenen Künstlerherzen willkommen geheißen: zunächst in Frankreich, Flamen und Deutschland. Begünstigt durch persönliche und schriftliche Kontakte zwischen einigen Künstlern erkannte man ihren ästhetisch-förderlichen Wert. Leonardo da Vinci beispielsweise kam 1516 auf Einladung von Francois I. nach Frankreich. Im Reisegepäck hatte er drei seiner berühmtesten Bilder: die lächelnde Mona Lisa, den femininen Johannes der Täufer und die heilige Anna Selbtritt. Sein adliger Mäzen stellte ihm das hübsche Château du Clos-Lucé an der Loire zur Verfügung, wo er seine letzten drei Lebensjahre verbrachte. Deutschlands erster Verbindungsmann zu Italien war wahrscheinlich Albrecht Dürer. Verbürgt sind eine Italienreise nach Venedig (1506) und Kontakte zu Raffael von Urbino. Vasari zufolge sandte er dem Florentiner ein Aquarell, gemalt auf feinster Leinwand, worauf sich Raffael mit mehreren Skizzen bedankte. Zudem erhielt Dürer Kenntnis von Albertis lateinischem Traktat »De Pictura« (1435), von dem er 1523 eine Abschrift erwarb. Infolge seiner intensiven Beschäftigung mit der Zentralperspektive definierte er den Begriff etwas anders als seine italienischen Kollegen. Während diese »perspettiva« im Sinne von »deutlich sehen« verwendeten, betonte der Nürnberger nunmehr den räumlichen Aspekt. »Item Perspectiva ist ein lateinisch Wort, bedeutt ein Durchsehung« (l. c. Graumann 1960, S. 18). Perspektivisch sehen ist demnach ein Zusammenspiel dreier Komponenten von Auge, Gegenstand und Zwischenraum.

Auch bei anderen deutschen Künstlern erfreute sich diese neumodische Darstellungskunst immer größerer Beliebtheit und inspirierte sie sogar zu ziemlich skurrilen Kunstwerken. Eines davon sind »Die Gesandten« von Hans Holbein dem Jüngeren (1497–1543). Das 1533 entstandene Gemälde zeigt im Vordergrund einen fischähnlichen Gegenstand, der sich bei genauerem Hinsehen als ein extrem verzerrter Totenschädel entpuppt (Abb. 8, Farbtafel). Zustande kommt die Verzerrung durch einen stark verkürzten Blickwinkel. Owen Gingerich (1930∗) vermutet, dass man diesen Schädel als mehrdeutiges Symbol für Sterblichkeit und heiteres Wortspiel für den Namen »Holbein« (Hohlknochen) interpretieren könne (vgl. Gingerich 2006, S. 70).

Ein weiteres Beispiel für die Verbreitung der Perspektive in Europa liefert der flämische Architekturzeichner Hans Vreedeman de Vries (1526–1609) aus Leeuwarden. Seine Bauwerke sind streng nach den Regeln der Linearperspektive durchkonstruiert. Meines Erachtens zu streng, als dass man sie folgenlos genießen könnte.

3.2 Sichtweisen im Barock

Nach der Renaissance kam eine andere Kunstrichtung in Mode, die des »Barock«, ebenfalls von Italien ausgehend. Zwischen 1600 und 1750 entstanden allenthalben geometrisch gestaltete Gartenanlagen, prunkvolle Kirchen, Schlösser und Paläste, die Herrenhäuser Gärten in Hannover, das Schloss Versailles bei Paris, die Peterskirche in Rom, der Dresdner Zwinger u.a.m. Einerseits dienten diese Prachtbauten den Herrschenden zur Schaustellung ihrer absolutistischen und klerikalen Machtfülle, andererseits waren sie bildhafter Ausdruck eines sinnenfreudigen Lebens von irdischem Sein und religiösem Schein.

In diesem Spannungsfeld zwischen diesseitigen und jenseitigen Seinsvorstellungen schafften die Barockkünstler nicht nur machtverherrlichende Gebäude, sondern auch raffinierte »Scheinarchitekturen«. Perspektivische Verkürzungen, Akzentuierung der Fluchtpunkte, kontrastierende Licht- und Schattentechniken ließen Kunstwerke entstehen, die es dem staunenden Beschauer fast unmöglich machen, zwischen Wirklichkeit und Illusion zu unterscheiden. Mit dieser Malerei begonnen hatte bereits Giorgio Vasari (1511–1574), als er 1536 im Auftrag von Alessandro de Medici (1510–1537) an der Florentiner Piazza San Felice »eine riesige Schaufassade und einen Triumphbogen – mit allegorischen Figuren geschmückte Scheinarchitekturen aus Holz, Leinwand und Stuck« (Blum 2011, S. 96) kreierte und 1546 in der Sala die Centi Giorni »Scheinarchitekturen, gemalte Scheinskulptur (eine fingierte Vollplastik wie auch Reliefs) und gemalte Szenen aus dem Leben des Farnese-Papstes Paul III. zu einem eindrucksvollen Gesamtensemble” (ebd. S. 124) vereinigte. Weiterentwickelt wurde dieser Kunststil später von Fra Andrea Pozzo (1642–1709), der unter anderem die römische Kirche Sant’ Ignazio mit einer Scheinkuppel (1689) schmückte und mit seinem Fresko »Die Verklärung des Heiligen Ignatius« (1691–1694) den unendlichen Raum illusionierte. Ihm gelang diese Täuschung dadurch, dass er den Fluchtpunkt nicht am Horizont positionierte (wie bei den Renaissancemalern), sondern im unendlichen Himmelsgewölbe.

Ähnliche Trompe-l’Œil-Effekte erzielten später weniger bekannte Künstler im Palazzo Castelmur (Abb. 9, Farbtafel). Das zinnengekrönte Bauwerk steht in dem Weiler Coltura bei Stampa im Bergell. Eine Besichtigung lohnt sich. Denn das neugotische Schloss – erbaut zwischen 1850 und 1855 – enthält neben einer ständigen Ausstellung über die Graubündner Konditoren eine typisch barocke Innenausstattung. Kunstvolle Architektur vortäuschend erstrecken sich über mehrere Säle fantastische Wand- und Deckenmalereien im Stil Louis Phillipes (1715–1774).

Solche wundersamen Scheinarchitekturen erinnern den staunenden Betrachter an prunkvolle Theaterdekorationen und diese wiederum an die bereits bekannte Szenografie der Antike. Wie sich doch alles wiederholt! Aber nicht unverändert! Zwar handelt es sich hier wie dort um illusionistische Bühnenmalerei, doch beherrschten die Künstler des Barock, im Unterschied zu ihren antiken Kollegen, das perspektivische Kunstwerk nahezu perfekt. Bahnbrechend für die Gestaltung dieser neuartigen »Perspektivbühnen« sind Fra Andrea Pozzo und die italienische Künstlerfamilie Galli da Bibiena. Während Pozzo in seinem Buch »Prospettive per i Pittori e Architetti« (1692) sowohl theoretische als auch technische Anleitungen für den Kulissenbau lieferte, waren die großen Galli da Bibienas als gefragte Bühnenbildner an verschiedenen europäischen Schauspielhäusern tätig.

3.3 Moderne Perspektiven

Wissenschaft und Kunst waren längst getrennte Wege gegangen, als im Fin de Siécle der Niedergang der Zentralperspektive eingeläutet wurde. Bedingt durch ein verändertes »Raum-Zeit-Gefühl« und avantgardistische Bestrebungen bedienten sich viele Künstler nicht mehr der wissenschaftlichen Perspektive, sondern neuer Methoden. Vor allem expressionistische, kubistische und abstrakte Maler entledigten sich traditioneller perspektivischer Vorschriften. Man hielt sie für überholt! So auch Maurice Merleau-Ponty (1908–1961), der »in der modernen Malerei … eine Bewegung« sieht, »welche die zentralperspektivisch angeordnete Welt in Frage stellt und stattdessen einer für unser Auge ungewohnten rivalisierenden Gleichzeitigkeit der Dinge Platz schafft. Alle Dinge erheben gleichzeitig Anspruch auf absolute Gegenwart und damit Gültigkeit und Wertigkeit, ohne dass sich von selbst eine Hierarchisierung oder Abstufung anbieten würde. Wer sich als Künstler dieser simultanen Welt oder monde sauvage hingibt und aussetzt, kann und muss anders malen und zeichnen als bisher; viele Gemälde etwa von Picasso demonstrieren dies auf eindrückliche Art und Weise« (Danzer 2003, S. 221f.). Tatsächlich stürzt uns Pablo Picasso (1881–1973) in seinem Bestreben, mehrere Ansichten eines Motivs erfassen zu wollen, ganz absichtlich in ein optisches Chaos.

Betrachten wir sein kubistisches Werk »Blick auf Notre Dame« von 1945 (Abb. 10, Farbtafel), so zeigt sich: »Selbst wenn der Betrachter Paris kennt, wird er Schwierigkeiten haben, zu sehen, dass hier die Kathedrale Notre Dame vom Kai aus durch einen der steinernen Seine-Brücken-Bögen dargestellt ist: Die annähernd kubistische Auflösung der Gegenstände, der Verzicht auf Lokalfarbigkeit sowie die Reduktion der Raumtiefe, tragen zu einer gewissen Irritation bei« (Weiss & Ocaña 1992, S. 56). Noch skurriler wirken seine expressionistischen Frauengesichter. Gewöhnt an eindeutige Porträts verliert man sich im Wirrwarr ambiger »Parallelperspektiven«.

Desgleichen kamen Marcel Duchamp (1887–1968) und andere Maler ohne zentralperspektivische Konstruktionen aus. Stattdessen experimentierten sie mit Raum und Struktur, Licht und Farbe, welche ihnen zur Vermittlung stimmungsmäßiger Aus- und Eindrücke dienten. Noch abstraktere Maler verzichteten sogar völlig auf die Perspektive. Wassiliy Kandinsky (1866–1944), Jackson Pollack (1912–1956) und Paul Klee (1879–1940) etwa, die sich teilweise oder vollständig von der gegenständlichen Darstellung verabschiedeten, überließen die Deutung ihrer »farbigen Konstruktionen« der kontemplativen Fantasie des Betrachters. Dieser solle selbst seine Stimmungen, Wünsche und Bedürfnisse auf die »Leinwand« produzieren dürfen und nicht dem Stimmungsbild des Malers folgen müssen.

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