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Der Einfluss des Animismus

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Das Switchen zwischen Was-Facette und Wie-Facette könnte sich auch deshalb so schwierig gestaltet haben, weil über Jahrtausende eine magisch-animistische Religion den perspektivischen Blick auf die Natur verstellte. So dürfte den steinzeitlichen Höhlenmalern von Altamira (Nordspanien) und Lascaux (Südfrankreich) die magische Emanation ihrer symbolisierten Jagdtiere wichtiger gewesen sein als deren dreidimensionale Darstellung – obschon Ansätze dazu zu erkennen sind (Abb. 18, Farbtafel). Einer beseelten Natur verhaftet, versuchten sie vermittelst solcher und anderer Kunstwerke, die dämonischen Kräfte des Himmels und der Erde zu beschwören und das unsichere Jagdglück zu erzwingen. Vorbehalten waren diese religiösen Zeremonien wahrscheinlich den künstlerisch begabten Schamanen.

Dieser Jagdzauber der archaischen Schamanen scheint sich bewährt zu haben; denn er wurde bis in die Neusteinzeit hinein praktiziert. Noch 25.000 Jahre später glaubte man an die Macht der guten und bösen Naturgeister und versuchte sie, mit allerlei schwarzer und weißer Magie zu beschwichtigen. Hinweise darauf finden sich sowohl bei den südwestafrikanischen als auch bei den nordischen Jägern und Sammlern. Merkwürdigerweise wechselten beide Volksgruppen von der naturalistischen zur schematischen Darstellung ihrer Kulttiere. Lässt sich dieser Wandel mit einer veränderten mystischen Vorstellung begründen? Für den primitiven Voodoozauberer beispielsweise, der an eine geheimnisvolle Verbindung zwischen Original und Bildnis glaubt, genügt schon eine einfache Strichzeichnung, um das Original zu töten.


Zum Zeitpunkt der Apollo-11-Mission fand man in Südwestafrika Gravierungen und farbige Malereien auf glatten Felsplatten, weshalb man sie als Apollo-11-Funde bezeichnet. Geschätzt werden die Kunstwerke auf 27.000 Jahre. Es handelt sich um Mensch- und Tierdarstellungen in Seitenansicht. Auch fand man ganz ähnliche Motive, welche auf ca. 7000 Jahre datiert werden. Zu den nördlichen Felsritzungen von Tanum/Vitlycke führte mich 1988 eine schwedische Familie. Diese stammen aus der jüngeren Bronzezeit, sind also ca. 3000 Jahre alt. Abgebildet sind verschiedene Schiffstypen, ein Liebespaar, mehrere Jäger und sogenannte Schalengruben (runde Vertiefungen). Gemeinsam ist den altstein- und bronzezeitlichen Felszeichnungen die zweidimensionale Darstellung (Abb. 19, Farbtafel).

Irgendwann löste der kosmische Götterglaube den Animismus ab. Man betraute die in den Himmel gehobenen Mächte mit der Aufgabe, gnädig auf die Menschenwelt einzuwirken. Aus Naturreligionen entwickelten sich Götterreligionen. Das Abhängigkeitsgefühl aber blieb. Auch an der künstlerischen Stilistik änderte sich wenig. Horus, Isis und Osiris, Gottvater, Sohn und Heiliger Geist, Teufel und Cherubine fristeten als Profilfiguren ihr projiziertes Dasein. Nur im antiken Griechenland versuchte man sich schon einmal an der Körperperspektive. Ansonsten blieb man bis ins Mittelalter hinein »zweidimensional«. Während sich bei griechischen und italienischen Gelehrten immer mehr Skepsis gegenüber tradierten Vorstellungen regte, blieb die einfache Volksseele noch lange dem Animismus verhaftet.


Ich selbst wurde noch von meiner an sich christlichen Großmutter durch den sogenannten »Zweifelsknoten« gezogen. Während sie also zu ihrem allmächtigen Herrgott betete, frönte sie gleichzeitig dem Aberglauben und fürchtete sich vor Hexen, Teufeln, Zwergen, Riesen und sonstigen Unholden.

Entdämonisiert und exorziert wurden die europäischen Landschaften eigentlich erst durch Dichter und Gelehrte im 18./19. Jahrhundert: Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), George Byron (1788–1824), Percy Shelley (1792–1822), Wolfgang von Goethe (1749–1832) et al. Diesen mutigen Aufklärern und versponnenen Romantikern ist nicht nur die Entdeckung der ästhetischen Seite der Natur zu verdanken, sondern auch die angstfreie Begehung der Berge, Wälder, Moore, Seen und Flüsse. Zudem hatte dieser Perspektivwechsel eine befruchtende Wirkung auf die Malerei. Landschaften wurden säkularisiert und ästhetisiert. Zuerst in Italien, später im übrigen Europa. Freilich blieben die Künstler biblischen und mythischen Motiven – vielleicht der Auftraggeber wegen – noch einige Zeit verhaftet. Trotzdem verschwand der »animistische Muff« von Tausenden von Jahren buchstäblich von der »Bildfläche« und machte geläuterten Weltanschauungen Platz. Wie lange doch menschliche Reifungsprozesse manchmal dauern. Viele Jahrtausende mussten vergehen, um von der zweidimensionalen Bedeutungsperspektive zur dreidimensionalen Zentralperspektive zu gelangen.

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