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1. Einleitung

1.1 Alltagsperspektiven

Menschen gehen durch die Stadt. Ein Tourist und eine Touristin halten Ausschau nach Sehenswürdigkeiten, ein Architekt begutachtet Baustile aus verschiedenen Epochen, eine Hausfrau steuert zielsicher einen Supermarkt an und ein Postbote hastet von Haus zu Haus. Sie suchen und finden das, was ihren Bedürfnissen, Interessen und Pflichten entspricht. Alles andere blenden sie aus ihrem Gesichtskreis aus. Ihre Wahrnehmung ist selektiv, das Gesichtsfeld begrenzt. Jeder geht durch seine Stadt. Menschen empfinden verschieden. Nervöse fühlen sich schnell genervt. Frisch Verliebten hängt der Himmel voller Geigen. Optimisten sehen rosarot, Pessimisten ziemlich schwarz. Depressiven verschwimmt alles grau in grau. Menschen denken individuell. Während die einen über ein elaboriertes »So wohl als auch« verfügen, begnügen sich andere mit einem restringierten »Entweder oder« oder »So-und-nicht-anders«. Wer allerdings den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht, urteilt nicht etwa total blind, ihm fehlt nur der Blick fürs Ganze.

Menschen sind zentriert. Wie die Spinne leben sie im Mittelpunkt ihrer selbst geknüpften Netze. Größe, Maschen und Struktur bestimmen den Aktionsradius und Differenzierungsgrad. Ereignisse werden auf geistige Kapazitäten reduziert. Der Mensch ist das »Maß aller Dinge«. Jeder Mensch lebt also in seiner speziellen Welt der Interessen, Stimmungen, Einstellungen, Kognitionen, Gewohnheiten etc. Einerseits ermöglichen sie ihm den Zugang zur Welt, andererseits bestimmen sie seine Sichtweise der Dinge. Ein Ausstieg aus dem gewohnten Rahmen ist nicht leicht. Selbst wenn man alle individuellen Meinungen miteinander vereinigen könnte, änderte dies nichts an der grundlegenden »Perspektivität« der menschlichen Wahrnehmung. Denn einerseits stellt unsere vertraute Alltagswelt sub species aeternitatis nur einen begrenzten Ausschnitt aus dem unendlichen Ganzen dar, andererseits sind wir immer und überall unserem irdischen Leib verhaftet. Wir können nicht über den menschlichen Standpunkt hinausgehen.

1.2 Was uns erwartet

Ausflüge in »perspektivische Welten« enden im Ungewissen. Je weiter wir uns von der vertrauten Wirklichkeit entfernen, umso mehr zerbröseln unsere bisherigen Weltanschauungen. Es wird uns zugemutet, dass sich Erkenntnisse auf keinen »archimedischen Punkt« beziehen lassen und objektive Sachverhalte nicht existieren. Desgleichen müssen wir uns von einem absoluten Lebenssinn verabschieden. Alles ist nur subjektiv wahr! Zweifellos eine existenzielle Krise für jeden bodenständigen Menschen. Doch könnte es sich um eine vorübergehende handeln, nämlich dann, wenn wir den Mut haben, an unserer »persönlichen Sinnfindung« zu arbeiten. Belohnt werden wir dann vielleicht mit einer nahezu grenzenlosen Gedankenfreiheit und Kritikfähigkeit. Ohne große Gewissensbisse könnten wir traditionelle Standpunkte hinterfragen und zu folgenden Einsichten gelangen:

1. Es gibt viele Wirklichkeiten.

2. Nur einzelne Wirklichkeitsaspekte sind wahrnehmbar, verschiedene Seiten eines Gegenstandes, Sachverhaltes oder Ereignisses, nie die Gesamtsituation und schon gar nicht das Wesen an sich.

3. Man kann nicht »nicht perspektivisch« wahrnehmen.

4. Es gibt keine stabilen Wahrnehmungen, keine absoluten Standpunkte, keine gesicherten Erkenntnisse. Alles befindet sich in ständiger Bewegung: unsere biologischen Funktionen, psychischen Befindlichkeiten, Einstellungen und die Welt um uns herum.

5. Gegenstände und Eigenschaften können nicht per se betrachtet und untersucht werden, sondern nur in Abhängigkeit vom jeweiligen Bezugssystem.

6. Lediglich relevante Informationen werden aufmerksam registriert, akzentuiert und gespeichert, irrelevante werden selektiert, gefiltert, verdrängt, verfälscht und maskiert.

8. Alles wird auf menschliche Maßstäbe zurechtgeschnitten. Formen, Farben, Bewegungen, Sprache, Meinungen etc. werden entsprechend der kognitiven und emotionalen Kapazitäten und Möglichkeiten erkannt.

9. Nicht die Tatsachen an sich werden erkannt, sondern deren Interpretation.

Nicht weniger faszinierend auf unserer Entdeckungsreise durch perspektivische Welten dürfte ihre thematische Behandlung von der Antike bis zur Gegenwart sein. Zu diesem Zweck wurde reichlich Material aus den verschiedenen Sparten der fachlichen, belletristischen Literatur und teilweise vor Ort gesammelt und in folgende Kapitel gegliedert: begrifflicher und inhaltlicher Bedeutungswandel, geografische Ausbreitung, phylogenetische und ontogenetische Entwicklung sowie Aspekte der Erfahrung und des Perspektivwechsels. Betrachtet wurde die vielfältige Thematik von der künstlerischen, philosophischen, anthropologischen und psychologischen Seite. Schließlich wird die perspektivische Reise beendet mit einem gewagten Vorstoß in die Welt der psychologisch orientierten Astronomie.

Mit diesem Buch soll eine Lücke in der perspektivischen Literatur geschlossen werden. Weit verstreut finden sich zwar viele relevante Beiträge über die »perspektivische Anschauung«, doch überwiegend abstrakt und disziplinar. Hier jedoch wird dem interessierten Leser diese Thematik interdisziplinär und anschaulich vermittelt. Vor allem wird auf eine konkrete, beispielhafte und optisch ansprechende Darstellung Wert gelegt. Dazu dienen auch die vielen Illustrationen und grau hinterlegten Textstellen, die durch verschiedene Symbole gekennzeichnet sind: bedeutet eine nähere Erklärung eines Sachverhaltes, einen beispielhaften Hinweis und soll zur empirischen Überprüfung anregen.

Perspektive

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