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Perspektivische Fortschritte

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Bis zum nächsten Perspektivwechsel sollten noch Jahrmillionen vergehen. Noch kämpfte Homo sapiens ums nackte Überleben. Erst als seine existenziellen Bedürfnisse einigermaßen gestillt waren und der Druck des Daseins nicht mehr allzu sehr auf seinen Schultern lastete, konnte er sich anderen Dingen zuwenden. Unter anderem widmete er sich der Kunst des Malens. In dieser neuen Disziplin musste er vor allem lernen, sich von seinem Motiv abzuwenden und seiner magischen Zeichnung zuzuwenden sowie seine »Augen-Hand-Koordination« zu verbessern. Nach einigen Tausend Jahren fleißiger Übung war er dann in der Lage, sein bevorzugtes Jagdwild auf die Felswände seiner Höhlen zu bannen. Doch fehlten ihm noch weitere Fertigkeiten.


Die naturalistischen Jagdszenen der paläolithischen Höhlenmaler sind vorwiegend in der Seitenansicht gezeichnet. Zudem müssen sie – wie noch heute die südafrikanischen San – ein vorzügliches Gedächtnis gehabt haben; denn sie malten nicht am lebenden Objekt, sondern bei Fackelschein in dunkeln Höhlen.

Mehr als 30.000 Jahre vergingen, ehe der nächste Perspektivwechsel erfolgte. Es handelt sich um den Wechsel von der zweidimensionalen Seitenansicht zum räumlichen Bildsehen, den zuerst die griechischen und dann die italienischen Künstler vollzogen. Das war nicht nur eine bewundernswerte künstlerische Leistung, den Raum ins Bild zu holen, sondern auch ein komplizierter Wahrnehmungsprozess. Denn der natürliche Gegenstand entspricht keineswegs dem künstlichen Gegenstand. Um nämlich einen einfachen Würfel darzustellen, muss man seine rechtwinkligen Linien verzerren und verkürzen; um einen Teller rund erscheinen zu lassen, muss man ihm eine ovale Form geben; um ein Tier oder einen Menschen zu porträtieren, muss man seine Proportionen nach allen Regeln der Kunst verändern. Davon war schon in früheren Kapiteln die Rede. Auch auf zwei kardinale Termini kommen wir zurück, welche uns diese Problematik noch deutlicher vor Augen führen soll. Es handelt sich um zwei Seiten der Wahrnehmung. Die eine Seite kannten schon die antiken Griechen unter dem Begriff »Logos«, der bekanntlich die Fähigkeit entspricht, das »Was der Dinge« zu erfassen. Ich habe sie oben als »Was-Facette« bezeichnet. Hierbei richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf den Gegenstand in seiner Bedeutung für uns, indes uns die andere Seite der Wahrnehmung, die »Wie-Facette«, die Strukturen und Farben usw. bewusst macht. Beide Facetten sind nicht voneinander zu trennen, doch getrennt voneinander zu betrachten. Der Schwenk von einer zur anderen Sichtweise ist nicht einfach, weil man vom eigentlichen Gegenstand absehen und die Konstanzmechanismen (Größen-, Farben-, Helligkeitskonstanz) ausschalten muss. Wer es einmal ausprobiert hat, wird verstehen können, warum es solange gedauert hat, bis die Zentralperspektive entdeckt werden konnte. Und manche Völker haben sie bis heute noch nicht in ihrem Wahrnehmungsrepertoire aufgenommen.

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