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2.3 Die italienischen Renaissancekünstler

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Nach dem Untergang Pompejis und des römischen Imperiums gerieten die perspektivischen Errungenschaften für lange Zeit in Vergessenheit. Erst 1200 Jahre später, nachdem sich die mittelalterlichen Stadtstaaten, Venedig, Mailand und Florenz gebildet hatten, erinnerten sich italienische Maler jener »griechischen Methode« und entwickelten sie peu á peu weiter, gefördert von den Viscontis, Sforzas und Medicis. Einer der ersten Maler an der Schwelle des Mittelalters zur Renaissance war Giotto di Bondone (1266–1337), den sein großer Lehrmeister Giovanni Cimabues (1240–1302) inspirierte, lebende Personen nach der Natur zu zeichnen. Beseelt von dem Wunsch, Flaches plastisch erscheinen zu lassen, postierte er seine Figuren in dreidimensionale Landschaften. Weil ihm aber die methodischen Voraussetzungen für eine perspektivisch korrekte Konstruktion noch fehlten, drittelte er den gesamten Bildraum nach Gutdünken mittels sogenannter »Transversalen«, wodurch seine naturalistischen Gemälde heute etwas steif wirken. Mit Giottos »Ansichten« unzufrieden probierten seine Schüler und Kollegen neue Möglichkeiten aus und näherten sich immer mehr der »richtigen Perspektive«.

Unter den übrigen italienischen Künstlern scheint allerdings nach wie vor große perspektivische Unsicherheit geherrscht zu haben. Denn in der kleinen Südtiroler Bergkapelle St. Helena von Deutschenofen entdeckte ich eine gemischt perspektivische Freskenmalerei. Neben halbwegs richtigen und umgekehrten Perspektivzeichnungen fanden sich sogar noch fehlerhafte Körperperspektiven. Während nämlich die Sitzbank Gottes linearperspektivische Züge trägt, sind die Schreibpulte der vier Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes umgekehrt perspektivisch gezeichnet und körperliche Details unrealistisch dargestellt. Diese christlichen Motive deuten auf eine Entstehungszeit um 1410 hin und wurden von unbekannten Malern der Bozener Schule geschaffen (Abb. 2–4, Farbtafel).

Hingegen machte Paolo Uccello (1397–1475) seine Sache schon recht ordentlich (Abb. 5). Im Übrigen wird von ihm berichtet, dass er, von den neuen Erkenntnissen besessen und selig, noch im Halbschlaf seiner enttäuschten Gattin zugeflüstert haben soll: »Welch herrliches Ding ist die Perspektive!« (l. c. Friedenthal 1989, S. 16). Aber sowohl Pierro della Francesca (1418–1492) als auch Andrea Mantegna (1431–1506) und viele andere haben ihren Anteil an der Weiterentwicklung der perspektivischen Methode.

Die richtige Zentral- oder Linearperspektive zeichneten jedoch erst Donatello (1386–1466), Lorenzo Ghiberti (1378–1455), Masolino (ca. 1383–1440) und Masaccio (1401–1428), wie sie von Filippo di Ser Brunelleschi (1377–1446) und Leon Battista Alberti (1404–1472) gelehrt wurde. Filippo di Ser Brunelleschi, der berühmte Erbauer der Florentiner Domkuppel von Santa Maria del Fiore, hatte sich einige Grundlagen dieser Methode von seinem Lehrer Paolo del Pozzo Toscanelli (1397–1482) angeeignet und führte um 1425 ein aufsehenerregendes Experiment durch: Auf eine Holztafel von circa 30 cm2 zeichnete er maßstabsgetreu das Florentiner Baptisterium (ehemals Saint Giovanni) und die Piazza neben einigen anderen Details und bohrte genau mittig durch die Tafel ein kleines trichterförmiges Loch. Ausgerüstet mit dieser Konstruktion und einem Spiegel von gleicher Größe, begab er sich in Begleitung einiger Freunde zum Dom – gegenüber dem Baptisterium – und postierte seine Utensilien innerhalb des mittleren Portals. Dann ließ er seine Versuchspersonen – eine nach der anderen – von der Rückseite des Bildes durch das Bohrloch auf den vorgehaltenen Spiegel blicken. Was sie da zu sehen bekamen, war eine kleine Sensation. Denn das gespiegelte Baptisterium wirkte aufgrund dieser Anordnung vollkommen plastisch. Anschließend konnten die Probanten das Spiegelbild mit dem Original vergleichen. Später wiederholte und variierte Brunelleschi dieses Experiment auf der Piazza della Signoria in Florenz.


Abb. 5: Die Jagd von Paolo Uccello, um 1460


Warum Brunelleschi für seine Darbietung gerade das Baptisterium wählte, wird immer sein Geheimnis bleiben. Es könnte jedoch sein, dass die zentrale Lage des Bauwerkes eine Rolle spielte, vielleicht aber auch dessen mythische Bedeutung. Denn in der Vorstellung der Florentiner hatte der einstige Marstempel, erbaut unter Kaiser Augustus (63 v. d.Zr.–14 n. d. Zr.), gewissermaßen Ewigkeitswert. Ewig sollte das Baptisterium existieren und ewig sollten die Menschen auch seines grandiosen Experimentes gedenken.

Der große Künstler hatte seine faszinierenden Spiegeldemonstrationen nicht dokumentiert, auch keiner seiner Zeitgenossen. Erst Antonio Averlino, alias Filarete (ca. 1400–1469), vermerkte in seinem 1460/62 erschienenen Traktat über die Architektur: »Und so glaube ich, dass der Florentiner Pippo di Ser Brunelleschi diese Art, den Plan (die Linearperspektive) zu machen, gefunden hat, der wirklich eine scharfsinnige und schöne Sache war; er hat gefunden, indem er bedachte, was man im Spiegel sieht« (l. c. Edgerton 2002, S. 113). Etwa 20 Jahre später äußerte sich Antonio di Tuccio Manetti (1423–1497), Brunelleschis Biograf, ausführlicher zu dem Experiment, auf den sich Giorgio Vasari (1511–1574) in seinen »Lebensgeschichten der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance« bezieht: »Filippo beschäftigte sich viel mit Perspektive, worin man damals gar keine Übung hatte und eine Menge Dinge falsch machte. Auf dieses Studium verwendete er einen großen Teil seiner Zeit, bis er eine vollkommen richtige Methode fand, nämlich die von Grundriß und Profil ausgeht und sich durchschneidender Linien bedient, eine fürwahr sinnreiche und der Zeichenkunst sehr nützliche Sache, an welcher Filippo ein solches Vergnügen empfand, dass er den Platz von S(aint) Giovanni mit allen den Abteilungen der schwarzen und weißen Marmorfelder an der Kirche in eine Zeichnung brachte, worin die entfernten Teile sich auf eine sehr zierliche Weise verkürzten … Brunelleschi stellte noch andere Gebäude und Plätze in dieser Weise dar, … und diese Zeichnungen erweckten den Geist anderer Künstler, welche sich sofort mit großem Studium hierauf wandten. Vornehmlich lehrte er diese Kunst dem Maler Masaccio, seinem Freunde, welcher damals noch sehr jung war und ihm viel Ehre machte durch das, was er darin leistete, wie die Gebäude in seinen Gemälden bezeugen« (Vasari 1980, S. 101f.).

Auch Leon Battista Alberti profitierte von Brunelleschis Perspektivstudien und widmete ihm sogar den Prolog zu seinem Traktat von »Della Pittura« aus dem Jahre 1436. Doch geht er insofern über seinen Zeitgenossen hinaus, als er dessen perspektivische Konstruktionen mathematisch fundierte. Bezug nehmend auf Euklids (ca. 360–280 v. d. Zr.) Lehre von den Sehstrahlen, konzipierte er ein geometrisches Modell, welches als »Sehpyramide« in die Geschichte der Perspektive eingegangen ist (Abb. 6). Demnach besteht die Sehpyramide aus dem Zentralstrahl, den äußeren und den mittleren Strahlen. Der Zentralstrahl – von Alberti als »Fürst der Strahlen« bezeichnet –, erstreckt sich rechtwinklig vom Augenpunkt auf die gesehene Grundfläche der Pyramide. Die äußeren Strahlen begrenzen die dreieckigen Seiten der Pyramide, während die mittleren Strahlen als sekundäre Licht- und Farbträger fungieren. Mit der letzteren Behauptung wechselt Alberti von einer geometrischen zur optischen Beschreibung seiner Konstruktion und vergleicht diesen Strahlentyp mit einem Chamäleon, dessen Farben sich genau wie die mittleren Strahlen der Pyramide der Umgebung anpassen. Schließlich verweist er noch darauf, dass mit zunehmender Entfernung vom Beobachter, die Licht- und Farbstrahlen, bedingt durch Ermüdung und Luftfeuchtigkeit, schwächer werden (vgl. Alberti 2010, S. 77). Auf dieses optisch interessante Phänomen werden wir anderenorts zurückkommen.


Abb. 6: Albertis Sehpyramide

Neben den bereits erwähnten Neuigkeiten Albertis enthält sein Traktat »Della Pittura« auch zwei spärliche Hinweise auf einige »Wunderdinge der Malkunst«, die er seinen römischen Freunden verraten habe (vgl. Alberti 2010, S. 83/95). Mehr gibt der Illusionist in dieser Schrift nicht preis.


Genaueres erfahren wir in seiner Biografie, wo es heißt: »Er schrieb kleine Abhandlungen über die Malerei und schuf mit malerischen Mitteln selbst unerhörte und die Betrachter unglaublich dünkende Werke, die er in einen kleinen Kasten einschloss und durch ein winziges Loch hindurch zur Schau stellte. Dort konnte man gewaltige Gebirge und riesige, eine ungeheure Meeresbucht einschließende Territorien sehen, außerdem den Blicken entzogenen, so weit entlegenen Gegenden, dass dem Betrachter die Sehkraft zu versagen drohte. Diese Werke nannte er »Demonstrationen«, und sie waren so beschaffen, dass Kenner und Laien gleichermaßen behaupteten, keine gemalten, sondern Naturerscheinungen zu sehen.

Es gab zwei Arten von Demonstrationen; die einen nannte er Tages-, die anderen Nachtdemonstrationen. Bei den Nachtdemonstrationen sieht man Arcturus, die Pleiaden, den Orion und andere funkelnde Sternenbilder, der Mond steigt über den steil ragenden Klippen und Bergen auf und beginnt zu leuchten, die Sterne, die den Tag ankündigen, glühen hell. Bei den Tagesdemonstrationen überstrahlt jener Glanz nach allen Seiten weithin den unermesslichen Erdkreis, der nach der (wie Homer sie nennt) früh geborenen Aurora aufleuchtet. Einige vornehme Griechen, die das Meer wie ihre Westentasche kannten, versetzte er in äußerste Bewunderung; denn als er sie dieses geformte Weltgebäude durch ein winziges Loch, wie ich es beschrieben habe, anschauen ließ, und sie fragte, was sie sähen, antworteten sie: ›Oh, wir sehen eine Flotte von Schiffen mitten in den Wogen, die vor Mittag bei uns sein wird, wenn sie nicht durch die Wolken und das drohende Unwetter, das in Richtung Sonnenaufgang treibt, in Bedrängnis gebracht werden sollte; ferner sehen wir, dass das Meer sich zu kräuseln begonnen hat, und es Anzeichen für eine dräuende Gefahr gibt, weil die Meeresoberfläche allzu stechende Sonnenstrahlen reflektiert« (Tauber 2004, S. 53).

Bis zum heutigen Tag lassen sich Albertis wunderbare Miniaturwelten nicht hinreichend erklären. Die einen vermuten die Verwendung einer »Camera obscura«, die anderen, die einer »Camera òttica«. Seiner Beschreibung ist jedenfalls zu entnehmen, dass es sich um eine Art von Guckkasten gehandelt haben muss, in dem dreidimensionale Bilder gespiegelt und beleuchtet wurden. Dabei könnte er an Brunelleschis »Spiegel-Gemälde-Kombination« angeknüpft haben, dessen Idee der Zentralperspektive er ja ebenfalls von ihm übernommen und weiterentwickelt hatte.


Die Camera obscura ist eine Lochkamera. Fallen Lichtstrahlen durch ein kleines Loch in eine Dunkelkammer, so erzeugen sie von einem Gegenstand ein umgekehrtes Bild auf der rückwärtigen Mattscheibe. Bekannt war dieses einfache Prinzip seit Aristoteles (384–332 v. d. Zr.). Versuche mit einer Camera obscura werden von Alhazen (965–1039) berichtet. Roger Bacon (1214–1292) und Vitellio (ca. 1225–1275) verwendeten die Lochkamera zur Beobachtung der Sonne. Leonardo da Vinci (1452–1519) untersuchte den Strahlengang der Camera obscura und stellte die Übereinstimmung mit dem Auge fest. Als Camera òttica bezeichnet man eine optische Kammer zur Betrachtung von gemalten Bildern.

Viele Autoren fokussieren die Entdeckung der Zentralperspektive auf Filippo di Ser Brunelleschi und Leon Battista Alberti unter Mitwirkung von Paolo del Pozzo Toscanelli. Im Prinzip ist dem zuzustimmen. Dennoch sollte man bedenken, dass alle drei Künstler am Ende einer langen Kette daran beteiligter Personen anknüpfen. Wir erinnern an die antiken Szenografiker, an Euklids optische Lehrsätze und die vielen Generationen von Malern, welche sich alle um eine perspektivisch korrekte Darstellung bemüht hatten. Als hilfreich scheint sich hierbei der Flachspiegel erwiesen zu haben; denn er lässt die parallelen Linien des Raumes konvergierend erscheinen. So heißt es bei Filarete: »Wenn du dies klarer zu sehen wünschst, nimm einen Spiegel und sieh hinein. Du wirst klar sehen, dass es so ist. Aber wenn dasselbe deinem bloßen Auge gegenüberstünde, würden sie (die Orthogonalen im Raum) dir nicht anders als parallel erscheinen« (l. c. Edgerton 2002, S. 122). Diesen gravierenden Unterschied visualisiert zu haben, ist im Wesentlichen das Verdienst Brunelleschis, als er auf der Piazza des Baptisteriums sein berühmtes Spiegelexperiment durchführte. Aufgrund dieser Vorzüge für die perspektivische Malerei erhob Leonardo da Vinci den Spiegel zum »Lehrmeister des Malers«.


Flachspiegel wurden damals in Venedig hergestellt. Sie bestanden aus Kristallglas und einer Quecksilberschicht. Da sie sehr teuer waren, konnten sich nur reiche Künstler oder Mäzene solche Luxusartikel leisten.

Um sich diese technischen und künstlerischen Erfahrungen der Vorfahren zunutze machen zu können, bedarf es einer multiplexen Persönlichkeit, spezieller Fertigkeiten und förderlicher Institutionen. All diese Voraussetzungen sind bei den talentierten Renaissancekünstlern häufig gegeben. Vielfach werden ihnen Wissbegierde, Beobachtungsgabe, Vorstellungskraft und zeichnerische Fähigkeiten nachgesagt. Berühmte Multitalente sind beispielsweise: Brunelleschi: Goldschmied, Maler, Bildhauer und Architekt; Alberti: Mathematiker, Maler, Architekt, Bildhauer, Musiker und Schriftsteller sowie apostolischer Abbreviator des Papstes; Toscanelli: Arzt, Mathematiker, Optiker, Astronom, Geograf und kartografischer Wegbereiter des Kolumbus auf dessen Seeweg nach Indien; Leonardo da Vinci: Maler, Anatom, Bildhauer, Ingenieur, Festungsbauer; Gerolamo Cardano (1501–1576): Arzt, Mathematiker, Philosoph, Schriftsteller, Ingenieur u.a. m. Für heutige Verhältnisse sind diese konträren Berufskombinationen kaum mehr vorstellbar. Aber damals waren Wissenschaft und Kunst noch nicht getrennt und nur »Allseitige«, wie sie von Jacob Burckhardt (1891–1974) genannt wurden, sie hatten eine reelle Chance, im Dienste der Höfe und Kirchen lukrative Aufträge zu bekommen. Und diese beiden Institutionen waren es vor allem, welche die Künste nachhaltig förderten: zur Ehre Gottes, des Papstes und seiner Kirche sowie zum ewigen Gedenken der Toten und zum Eigennutz.

Der vielseitig gebildete Künstler ist also das Ideal und Markenzeichen des »goldenen Quattrocento«, in dem Philosophie, Wissenschaft und Kunst noch eine Einheit bilden. Jede Disziplin lehrte die andere, lernte von der anderen. Man wollte wissen und immer mehr wissen – das düstere Mittelalter hinter sich lassen – und große Entdeckungen machen. Fachidioten hatten damals keine Konjunktur. Insofern scheint Raffael von Urbino (1483–1520) »Schule von Athen« nicht nur die griechische Antike als Ursprung der europäischen Kultur zu personifizieren, sondern auch die interdisziplinäre Geisteshaltung seiner Zeit (Abb. 7, Farbtafel). 1510–1511 zentralperspektivisch als Fresko in der Stanza della segnatura (Unterschriftensaal) des Vatikans gemalt, gruppieren sich links von Platon und rechts von Aristoteles und um Diogenes herum, Philosophen, Astronomen, Mathematiker, Historiker, Politiker und Maler der alten und der neuen Zeit.

Wie kam es zu dieser Aufbruchstimmung? Warum liefen italienische Künstler gerade im 15. Jahrhundert zu solchen Höchstformen auf? Folgt man Vasaris Erklärung, so begann alles mit dem Niedergang der italienischen Künste infolge der großen Verheerungen der Kriege im Mittelalter. Die florentinischen Machthaber besannen sich und engagierten griechische Maler, welche die schönen Künste wieder zu neuem Leben erwecken sollten (vgl. Vasari 1980, S. 5/22). Schließt man sich Hans Baron (1900–1988) an, dann waren »es die traumatischen Wirkungen der Florentiner Kriege mit Mailand und Neapel im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts …, die die neue Psychologie der perspektivischen Wahrnehmung« begünstigten. Samuel Edgerton (1926∗) wiederum betont den Einfluss der ptolemäischen »Cosmographia«, welche damals in Italien auftauchte. Dessen kartografisches Gittersystem (Längen- und Breitengrade) habe nämlich eine proportional korrekte Darstellung der damals bekannten Welt ermöglicht und stelle »ein Verbindungsglied zwischen der Kartographie des Quattrocento und den Malereien« her, »die die Linear perspektive hervorbrachten« (vgl. Edgerton 2002, S. 85/88). Die Erneuerung der schönen Künste scheint demnach folgenden Verlauf genommen zu haben:

1. Nach dem Niedergang der italienischen Kunst wuchs eine institutionell geförderte Künstlergeneration heran, die an griechische Traditionen anknüpfend sich zunehmend naturalistisch orientierte.

2. Damit einher ging das Studium der antiken Schriften, besonders Euklids »Elemente«, Vitruvs zehnbändiges Werk »De architectura« und Ptolemäus’ »Cosmographia«, wodurch eine Zusammenschau von Geometrie, Optik und Kunst befördert wurde.

3. Vor allem von den Florentinern wurde die perspektivische Maltechnik vorangetrieben. Denn von den 26 berühmtesten Renaissancekünstlern, deren Leben und Werk Vasari beschreibt, stammten allein 14 aus Florenz, alle anderen aus dem Umland und Venedig.

4. Begünstigt wurde die Entwicklung der Perspektivmalerei durch die interdisziplinäre Orientierung der Künstler und durch vielfältige Einflüsse aus Wissenschaft und Technik.

5. Möglicherweise zwang die Neuerung, Porträts nach der Natur zu malen, zu einer dreidimensionalen Sichtweise.

6. Von der perspektivischen Porträt- zur perspektivischen Landschaftsmalerei und von da zur modernen Zentralperspektive bedurfte es dann nur noch zwei weiterer Entwicklungsschritte.


Statt von »förderlichen Institutionen« sprechen manche Leute vom vorherrschenden Zeitgeist. Eine bestimmte Erfindung sei ermöglicht worden, weil die Zeit dafür reif gewesen ist. Schon am Beispiel der »Perspektive« lässt sich nachweisen, dass sich Entwicklungen über Jahrtausende hin erstrecken und nur Kulturvölker, obere Gesellschaftsschichten und herausragende Einzelpersonen daran beteiligt sind. Insofern ist davon auszugehen, dass künstlerische, wissenschaftliche, politisch Interessierte und ruhmsüchtige Persönlichkeiten im Verein mit einschlägigen Interessengruppen neue Entwicklungen vorantreiben.

Noch weitere Entwicklungsfaktoren sind zu berücksichtigen. So besann man sich im Quattrocento auf den sophistischen Menschen, seine Individualität, sein Erscheinungsbild, seinen Charakter, seine Ansichten, kurz, man interessierte sich für die »Persönlichkeit«. Nach außen machte sich das innere Empfinden der Individualität durch differenzierende Gesichtszüge, Autobiografien und Charakterdarstellungen bemerkbar. Es war die Wiedergeburtsstunde der Individuation.


Bei Alberti findet man sogar eine direkte Bezugnahme auf Protagoras (481–411 v. d. Zr.): »Und da uns der Mensch unter allen Dingen am Vertrautesten ist, meinte vielleicht Protagoras mit seiner Aussage, der Mensch sei Muster und Maß aller Dinge, dass alle ›Akzidentien‹ der Dinge durch den Vergleich mit den ›Akzidentien‹ des Menschen erkannt werden« (Alberti 2010, S. 91/92). Alberti macht allerdings keine Quellenangabe über diesen »Homo mensura« Satz.

Einher ging damit die Entwicklung einer individuellen Sichtweise. Land und Leute wurden aus der Sicht des Malers spezifiziert. Standort und Sichtweise bestimmten Ausschnitt und Inhalt seiner Gemälde. Von seiner Staffelei blickte er durch ein »offenes Fenster« auf eine räumliche Welt, entlang einer Fluchtlinie bis zum Fluchtpunkt am endlichen Horizont. Unendliche Distanzen konnte man sich damals kaum vorstellen. Aber es reichte schon eine einfache mathematische Raumvorstellung, um linearperspektivisch zeichnen zu können und die wurde von Leon Battista Alberti gelehrt.

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