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Tocqueville und die Demokratie in Amerika, Teil 3: Die Allmacht der Mehrheit

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Die Zusammenfassung bezieht sich auf Alexis de Tocquevilles „Über die Demokratie in Amerika“. Alle Seitenzahlen beziehen sich auf die Reclam-Ausgabe (Nr. 8077) von 1985.

Nachdem Tocqueville herausgearbeitet hat, dass die Demokratie unaufhaltsam, ihr Wesen aber keineswegs nur gut, sondern hoch gefährlich sein kann, geht er auf das Mehrheitsprinzip der Demokratie ein. Die von ihm deklarierte „Allmacht der Mehrheit“ ist im Grunde genommen eine Tyrannei der Mehrheit, denn die Minderheit muss sich der Mehrheit unterwerfen, was sogar so weit geht, dass sich die Vorstellung ausbreitet, dass der Mehrheitswille moralisch gut sein muss, weil sonst würde er ja nicht von der Mehrheit vertreten werden. Damit bekommt die Mehrheit eine Allmacht, der Abgeordnete muss sich dem Mehrheitswillen beugen, um wiedergewählt zu werden (S. 139-142). Tocqueville scheint die Abstrusität des Mehrheitswillens als umzusetzender Wille begriffen zu haben, denn nur weil eine Mehrheit etwas gut findet, muss der Wille nicht unbedingt moralisch gut oder gar wünschenswert sein. Möglicherweise haben Minderheiten bessere Vorschläge, die jedoch durch die Mehrheit unterdrückt und auf Dauer unterjocht werden können, sodass Minderheiten überhaupt gar kein Gehör mehr finden. Tocqueville war also das diktatorische Element der Demokratie, welches sich einschleichen kann, nur allzu bewusst.

So stellt Tocqueville auch schnell fest, dass in den Vereinigten Staaten ein sehr ungünstiges Demokratiemodell gewählt wurde: der stetige Wechsel der Repräsentanten macht die Demokratie sehr unbeständig, die Mehrheit ist die einzige wahre Macht, der es zu gefallen gilt und die gesetzgebende Gewalt ist keiner Rechenschaft schuldig und kann tun und lassen was sie will. Die stetigen Repräsentantenwechsel führen zu schnellen Änderungen in Gesetzen und damit ist Recht und Politik sehr unbeständig (S. 143 f.). Tocqueville findet den Gedanken, dass die Mehrheit alles tun kann, was sie will sehr abscheulich, aber er denkt auch, dass es durchaus eine natürliche Grenze gibt: „Das Recht eines jeden Volkes findet seine Grenze an der Gerechtigkeit“ (S. 145).

Die Mehrheit ist wie ein einziges Individuum, welches Interessen und Ansichten verfolgt, die den Interessen eines zweiten Individuums (der Minderheit) entgegenwirken (S. 145). Die Mehrheit kann also nicht nur als ein Zusammenschluss, sondern als eine Einheit verstanden werden, sodass Tocqueville die Macht der Mehrheit personifiziert. Er fragt sich daher: Wenn ein König seine Macht missbrauchen kann, warum soll das dann nicht auch die Mehrheit können? Genau darin sieht er die Gefahr, weil er Allmacht generell für gefährlich hält. Und so macht Tocqueville nicht die äußerst große Freiheit den Amerikanern zum Vorwurf, sondern die große Schwäche gegenüber der Tyrannei. Wenn man dort ein Unrecht erfährt, hat man nicht so einfach die Möglichkeit es abzuwenden, da man sich an niemanden wenden kann, der nicht im Dienste der öffentlichen Meinung steht und ihr nicht gehorchen würde (S. 146 f.). Als Lösung für dieses Problem schlägt Tocqueville eine effektive Gewaltenteilung vor. Diese schützt vor der Tyrannei und würde das System entflechten (S. 148).

Was die Gedankenwelt Amerikas angeht, so kommt er zum Schluss, dass es kein Land auf der Erde gäbe, welches „weniger geistige Unabhängigkeit“ (S. 151) habe, wie die USA. Zwar droht einem Intellektuellen in einem absolutistischen Staat die Verfolgung, doch kann er trotzdem auf das Volk hoffen. Kann er nicht auf das Volk hoffen, dann vielleicht auf aristokratische Kreise oder andere Schichten, kurz gesagt, es gibt immer eine Zufluchtsmöglichkeit, die Platz für Meinungsaustausch bietet. In den USA gibt es zwar eine breite und freie Möglichkeit der Diskussion, aber diese beschränkt sich auf einen von der Mehrheit gezogenen Kreis. Alles was jenseits dieses Kreises liegt kann nicht besprochen werden und wer sich wagt darüber hinauszudenken bekommt weder Ruhm noch politischen Einfluss, da er sich der Mehrheit – die ja den ganzen Staatsapparat stellt und kontrolliert – widersetzt hat. Die Freiheit in der Diskussion geht also auf Kosten des Gedankenspektrums, welches von der Mehrheit definiert wird und aus der sich wiederum eine Unfreiheit etabliert (S. 151 f.).

In Europa dachten viele, dass die amerikanische Demokratie aufgrund von Schwäche zu Grunde gehen würde, da die Monarchien viel stärker seien, aber Tocqueville attestiert genau das Gegenteil: eher geht Amerika auf Grund seines Despotismus zu Grunde, denn die Mächte dort sind stärker und zentralisierter wie in den europäischen absolutistischen Staaten (S. 157 f.).

Die Mäßigung der Tyrannei der Mehrheit erweist sich als schwer. Jedoch gibt es in Amerika einen Vorteil: so ist zwar das Regierungswesen zentralisiert, nicht aber die Verwaltung. Nur wenn Regierung und Verwaltung zentralisiert sind, herrscht eine absolute Macht. In Amerika beschränkt sich die absolute Macht nur auf das Regieren selbst, nicht auf deren Ausführung, da der Regierende nicht jeden Beamten lenken kann. Als wichtiges Element zur Einschränkung der ungezügelten Demokratie sieht Tocqueville die Juristen. Sie fürchten sich weniger vor Tyrannei denn vor Willkür und so stecken in ihnen die aristokratischen Neigungen, u.a. der Autorität und Ordnung, aber gleichsam vertreten sie die Interessen des Volkes und damit der Demokratie, sodass sie ein gesellschaftliches Bindeglied sind. Eine gesellschaftliche Ordnung ist ihnen wichtiger wie spontane Neigungen der Mehrheit, aber die Garantie des Rechts und der Schutz vor Willkür ist ihnen gleichermaßen inhärent (S. 159-166). Während in Frankreich der Jurist ein Gelehrter ist, der seine eigene Vernunft einbringt, um dazulegen, was man besser machen solle, fußt das englische und amerikanische Recht auf Präzedenzfälle und damit stets auf die Auslegung alter Anwendungen, was sich als so komplex erweist, dass der amerikanische Jurist eine eigene Klasse einnimmt, auch wenn er dafür seine eigene Vernunft verleugnen muss: denn er mag die Gesetze nicht weil sie gut, sondern weil sie alt sind. So wagt er sich höchstens das Werk seiner Vorfahren zu ergänzen, statt altes Recht durch ein neues (vielleicht besseres) zu ersetzen. Die besondere Rolle kommt dem Juristen in Amerika dadurch zu, dass es dort keinen Adel gibt und das Volk die Prunkvollen verachtet, sodass nur der Jurist aus der aristokratischen Klasse erhalten bleibt (hier etwas freier zusammengefasst, vgl. S. 167 ff.). Da der Jurist das konservative Element bedient, ist die juristische Körperschaft die Einzige, die die Demokratie im Zaum halten und ihrer Allmacht entgegenwirken kann (S. 169). Zum Schluss dieser Ausführungen geht Tocqueville noch auf die Geschworenenbanken ein. Er stellt heraus, dass diese ein primitives Mittel aus barbarischen Zeiten sei, als es noch nur um Tatsachenbehauptungen ging. Mit der Fortschrittlichkeit des Rechts ist die Geschworenenbank ein höchst problematisches Instrument geworden. Jedoch sieht Tocqueville in ihr keine rechtliche sondern politische Institution, denn die Geschworenen stellen eine Mehrheit dar, so wie die Mehrheit des Volkes (S. 172-177). Ich möchte ergänzen, dass Tocqueville vielleicht denkt, dass wenn man aus einer arbiträren Masse verschiedene Menschen als Geschworene auswählt, so wird auch hier der Wille der Mehrheit durchsickern, da er ja in der Gesellschaft bereits mehrheitlich verbreitet ist und damit öfter vorkommt, auch wenn Tocqueville dies nicht ganz genau so ausgeführt hat. Er erkennt meines Erachtens jedoch die große Gefahr ganz direkt: Wenn die Mehrheit sowohl regiert als auch sanktioniert, dann fällt die Geschworenenbank mit der Idee der Gerechtigkeit zusammen (siehe S. 177). Und obwohl die Geschworenenbank eine so große und umfassende Macht erhält sieht Tocqueville auch sämtliche Vorteile darin: So dient die Geschworenenbank der praktischen Erziehung und die Menschen lernen verantwortungsvoll zu handeln. Auch werden sie nicht übermütig urteilen, denn sie wissen, dass auch sie einmal auf der Prozessbank sitzen könnten, während ihr Nachbar vielleicht mit an der Urteilsfindung beteiligt ist. Die Geschworenenbank schärft das Urteil des Volkes und verleiht ihm eine Richterwürde und Tocqueville geht so weit sie als eine kostenlose Schule zu betrachten, in der man über seine Rechte belehrt wird (S. 177 ff.). So stellt Tocqueville heraus, dass er zwar nicht weiß, ob diese Institution dem nützt, der einen Prozess hat, aber sie nützt seiner Ansicht nach auf alle Fälle jenen, die über den Prozessausgang zu entscheiden haben (S. 179).

Die demokratischen Völker leben von den Überzeugungen aus der Masse heraus. Das heißt, es gibt nicht viele Einzelmeinungen fußend auf eigenen Untersuchungen, sondern stattdessen schließt sich die Mehrheit blind der massentauglichen gängigen Meinungen an und vertraut ihnen. Die geistigen Quellen suchen die Demokraten innerhalb der Menschen, sodass man nicht darauf hoffen darf, dass sie an Gott glauben oder aus der Kenntnis Gottes schöpfen werden. Daher wird es nur eine sehr kleine Menge wahrhafter Gelehrter geben, während der Großteil des Volkes dumm bleibt und nicht in der Lage sein wird, die Gelehrten und ihre Erkenntnisse zu verstehen (S. 219-222). Ich möchte anmerken, dass dies mitunter wohl einer der Gründe war, warum die religiösen Institutionen und die demokratischen Revolutionäre verfeindet waren, wo sie doch im Grunde denselben Grundgedanken der menschlichen Gleichheit (vor Gott sind alle gleich) hatten. Auch hat Tocqueville hier die Fatalität der Wissenschaft vorausgesagt, denn statt vernünftigerweise weiterhin mit Gott zu argumentieren, ist es heute in einigen wissenschaftlichen Zirkeln verpönt, etwas auf die Autorität Gottes zurückzuführen. Dass dies für unsere heutige Gesellschaft alles andere als gesund ist und daraus folgenschwere Probleme auftreten hat also Tocqueville schon erahnt, wenn auch sein Gedankengang hier von mir vervollständigt wurde.

Individualismus und Egoismus sind eng miteinander verknüpft, wenn auch an sich verschieden. Der Egoismus ist etwas negativ behaftetes, dass es schon immer gab. Der Individualismus dagegen ist ein demokratisches Phänomen, welches unweigerlich in den Egoismus mündet. In der klassischen aristokratischen Gesellschaft kannten die Familien ihre Ahnen und waren ihrer Herkunft verpflichtet. Zudem hatte man eine enge Verknüpfung mit Menschen, für die man seine Interessen zurücksteckte und mit Menschen, die etwas für einen selbst zurückgesteckt haben (MIT-MENSCHEN). Letztendlich führte die ständige Abhängigkeit dazu, dass man sich selbst vergaß. Der Individualismus dagegen kappt diese Bande und verwischt die Spuren der traditionellen Familien (S. 238 ff.). Nach einer demokratischen Revolution sind die individuellen Triebe am stärksten ausgeprägt, da sich alle Leidenschaften auf den Trümmern der alten Ordnung zementieren können und man sich einer Größe bewusst wird, die die Gesellschaft spaltet. Jene, die gerade erst die Freiheit erworben haben, haben Angst sie wieder zu verlieren. Andere wiederum sehen, dass sich die Interessen ihrer einstigen Mitkämpfer gewandelt haben (S. 241 f.). Man könnte sagen, dass sich die erste Generation über ihre Leistung bewusst ist und diese immer ihren Nachkommen vorhalten wird, gleichzeitig aber durch diesen Erfolg so hochmütig wird, dass sie denken, man könne die Revolution stets wiederholen, was in der Angst mündet, dass jemand anderes hochmütig genug sein könnte, die Freiheit wieder wegzuholen [Ergänzung des Tocqueville’schen Arguments durch den Verfasser]. Es herrscht also Angst und Misstrauen. Amerika hat laut Tocqueville jedoch den Vorteil, dass es keine demokratische Revolution gab, denn die Menschen waren von Anfang an gleich und so werden alle künftigen Generationen auch als Gleiche geboren (S. 241). Ich würde es mit marxistischen Worten wie folgt umreißen: es gibt kein Klassenbewusstsein.

Jede Form des Despotismus, und dazu zählt auch der demokratische Despotismus, sieht den Egoismus als besonders nützlich an, denn man vergisst dabei sich unter Gleichen zu verständigen und die Selbstbeschäftigung und Kleinlichkeit wird gar als Staatstugend gepriesen. Würde dagegen das Volk regieren, sähe es, dass man gar nicht so unabhängig von anderen Menschen ist, wie man es zu glauben vermag. Der Individualismus würde dadurch gezügelt werden. Das zeigt sich auch in den Wahlen, in denen man zwar den Gegner zu bekämpfen versucht, auf der anderen Seite aber die Interessen seines Nächsten berücksichtigt, um gewählt zu werden und damit seine eigenen Leidenschaften freiwillig aufgibt (S. 241-244).

Um Tocqueville kurz zusammenzufassen: Er entstammte aus dem französischen Adel und war Empiriker. Als solcher beurteilte er, was er sah. Als Adliger war er natürlich gegen die Demokratie und er hat sich als solcher verdient gemacht, die Gefahren der Demokratie aufzuzeigen, sodass zukünftige demokratische Staaten diesen Übeln vorbeugen und zu entgehen versuchen können. Auch wenn er selbst die Demokratie nicht mag, sieht er jedoch, dass sie unaufhaltsam ist und dass man sie folglich akzeptieren muss. Die Gleichheit aller Menschen in der Demokratie, die égalité de chances, bietet für Tocqueville sowohl Vorteile wie Nachteile. Gerade am Beispiel Amerikas sieht man, dass die Chancengleichheit zu einer Verstumpfung führt, in der eine wildgewordene, ungebildete Masse über die Vernünftigen herrschen und sie unterdrücken kann. Umgekehrt sieht er aber auch, dass das Volk durch die Übertragung an Macht lernen kann, Verantwortung zu übernehmen und sich für andere einzusetzen.

Veröffentlicht am 28. Juni 2018

Politische und Philosophische Analysen

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