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Der Kontraktualismus des John Rawls im Überblick

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Der Kontraktualismus ist eine auf Vertragswerke – also Kontrakte – basierende Philosophietheorie, die auch als Vertragstheorie oder Gesellschaftsvertrag bekannt ist. Obgleich es Vertragstheoretiker seit der Antike gibt und in der Neuzeit von Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau aufgegriffen wurden, ist der moderne Kontraktualismusbegriff vor allem durch die Kritik John Rawls an ebendiesen geprägt. Ausgangspunkt der neuzeitlichen Vertragstheoretiker ist der Naturzustand. Vor allem Rousseau bemängelte, dass sowohl Hobbes‘ als auch Lockes Naturzustand jeweils als real-angenommener Naturzustand oder zumindest als theoretisch existenten Naturzustand, wenn auch im Gedachten, proklamiert wird. Zudem bildet Hobbes den Naturzustand, indem er die bürgerliche Gesellschaft in einen vorrangigen Naturzustand projiziert und damit zivilisatorische Entwicklungen ohne Hinterfragung übernimmt.1 Und gerade Locke rechtfertigt die Vereinnahmung von Ländern „primitiver“ Völker mit ihrem Leben im Naturzustand und damit, dass diese Völker aufgrund mangelnder Veredelung noch keine Eigentumsverhältnisse als solche kennen würden.2 Rousseau dagegen greift heraus, dass der Mensch niemals im Naturzustand vorkam und daher jede Form des Naturzustandes lediglich gedacht werden kann.3

All die genannten Theorien, einschließlich Rousseaus, haben jedoch den Nachteil, dass der Naturzustand als etwas vormenschliches angenommen wird, was wiederum bedeutet, dass der Mensch durch den Naturzustand bereits in seinem Bewegungsspielraum prädestiniert ist, da er vormenschlichen Regeln unterworfen wäre. Genau hier setzt Rawls ein, der von einer original position (Urzustand) spricht und kein dem Menschen vorangegangenes Konstrukt darstellt. Ganz im Gegenteil, „It is designed to be a fair and impartial point of view that is to be adopted in our reasoning about fundamental principles of justice. In taking up this point of view, we are to imagine ourselves in the position of free and equal persons who jointly agree upon and commit themselves to principles of social and political justice.”4 Die Möglichkeit eines fairen Ausgangspunktes, indem die Vernunft maßgeblich ist, kann nur angenommen werden, wenn der Mensch selbst am Anfang steht und den Ausgangszustand schafft. Rawls nimmt dabei den Schleier des Nichtwissens zur Grundlage. Da der Urzustand niemals wirklich existiert hat und lediglich ein hypothetisches Experiment ist, nimmt Rawls an, dass in diesem Zustand der Schleier des Nichtwissens stehen solle, um die gesellschaftlichen Normen zu definieren. Der Schleier des Nichtwissens ist ein ebenfalls rein hypothetisches (und praktisch nicht plausibles) Konstrukt, indem man davon ausgeht, dass jeder Mensch sich seiner Identität nicht bewusst ist. Das bedeutet, er weiß nichts von seinem Geschlecht, seiner Herkunft oder Religion. So wird der interessenbehaftete Mensch von seinen Partikularinteressen gesäubert, denn wenn er nicht weiß, ob er zu den Starken oder Schwachen gehört, wird er eine Lösung anstreben, welche pareto-optimal ist (also selbst noch dem Schwächsten einen Vorteil bringt), denn jeder Mensch könnte ja selbst zu den Schwächsten gehören, oder anders ausgedrückt: Ich selbst könnte ja zu den Schwachen gehören, also setze ich mich auch für die Schwachen ein. Damit verteile ich alle moralischen Standpunkte fair und gerecht, da ich nicht von eigenen Interessen eingeschränkt werde, die mich an deren Eingeständnis hindern würden. Daraus kann der Mensch letztlich eine Vertragstheorie der gerechten Verteilung von Gütern entwickeln. Dabei rücken zwei Normen in den Vordergrund. Erstens das Prinzip der gleichen Freiheit (principle of equal liberty), welches jeder Person das gleiche Recht auf das umfassendste Gesamtsystem eingesteht und somit alle Zugriff auf die gleichen Grundfreiheiten haben. Zweitens das Differenzprinzip (difference principle), wonach soziale und ökonomische Ungleichheiten so beschaffen sein sollen, dass sie noch zum größten Vorteil der am schlechtesten Gestellten sind (Pareto-Optimalität).

Dieses durch und durch deontologische Prinzip bringt erhebliche Probleme mit sich. Zum einen handelt es sich hier nur um ein gedachtes Konstrukt. Da es aber unmöglich realisierbar ist, wird es nicht möglich sein, mit diesem Experiment die Gesellschaft gerechter zu machen. Weder das Prinzip der gleichen Freiheit noch das Differenzprinzip sind praktikabel, da die Partikularinteressen immer mitschwingen werden. Da jeder Mensch von seiner Identität weiß, werden die Mächtigen stets verhindern, ihre Macht zu verlieren und auf die Expansion ihres Machteinflusses bauen. Damit werden Normen auch weiterhin so normiert, dass sie den Starken und nicht den Schwachen helfen. Dies gilt auch für den Sozialbereich und bei Umverteilungen – am Ende trifft es immer die in der Mitte.

Peter Carruthers geht sogar noch weiter und überträgt die Rawls’sche Vertragstheorie auf Tiere. Haben Tiere im Urzustand eine moralische Relevanz? Scheinbar nicht. Denn das Normensystem des Kontraktualismus setzt rationale Akteure als Subjekte der Interaktion voraus. Da Tiere selbst keine rationalen Akteure sind, können sie keine direkten Rechte für sich beanspruchen. Auch das Stellvertreterargument, in dem jemand für die Tiere spricht, scheitert daran, dass niemand wirklich genau sagen kann, welches Interesse ein Tier in einer bestimmten Situation hat. Daher können Vertreter tierlicher Interessen im Urzustand nur zugelassen werden, um sicherzustellen, dass die Tiere einen moralischen Status haben, indem sie vor Folter und willkürlichem, vermeidbarem Leid geschützt werden.5 Das Problem bei Carruthers zeigt sich jedoch in dem Text aus dem Sammelband von F. Schmitz, indem Carruthers davon ausgeht, dass der Akteur sich bei Vertragsschluss doch faktisch schon auf seine vorherigen moralischen Überzeugungen stützt. Das ist insofern problematisch, da es vor dem Urzustand keine Moral gibt. Der Vertrag dient ja gerade der Schaffung der Moral; anders als bei den klassischen Philosophen, wo der Mensch von Anfang an – selbst in einem nur gedachten Naturzustand – von der Moral des Naturzustandes bestimmt wird. Das bedeutet auch, dass nach dem Durchexerzieren der Moralbegründung am Ende herauskommen könnte, dass unsere derzeitige Moral nicht haltbar ist und eigentlich ganz neue effizientere Normen etabliert werden müssten. Würde man von vorneherein davon ausgehen, dass das Experiment nur die bestehende Moral affirmieren soll, so wäre der ganze Gedankengang völlig unnötig, da er dann von vorneherein von unseren Moralannahmen bestimmt und gelenkt wird und damit als Nachweis der Sinnhaftigkeit unseres Moralsystems unzulässig ist – da er nichts aussagt. Daher lässt sich allerhöchstens eine indirekte moralische Relevanz von Tieren verteidigen. Es stellt sich dann desweiteren die Frage, inwiefern Rawls in der Anwendung letztlich noch Sinn macht, denn der Mensch muss sich des Mensch-Seins bewusst sein, um seiner Selbst als rationaler Akteur bewusst zu sein und als Mensch mit Bewusstseinsfähigkeit wird er immer auf seine Interessen bedacht sein. Vor allem wenn er weiß, dass es ihm in seiner derzeitigen Position gut geht – auch wenn er nicht wüsste, wer er ist – würde er wenig Interesse daran haben etwas zu ändern, solange es ihm gut geht (da er ja nicht wüsste, ob eine Veränderung der Position dazu führt, dass es ihm nicht mehr so gut ginge). Rawls versucht jedoch seine These zu verteidigen, indem er sie als politisch und nicht-metaphysisch klarstellt. Sein politischer Liberalismus darf nicht mit den Werten des metaphysischen Liberalismus vermischt werden. Das bedeutet, dass sie schon gar nicht mit der Ethik in Kontakt geraten darf. Denn man wird nie einen gesamtgesellschaftlichen Konsens in Moral, Religion und Philosophie finden. Werden diese drei Fragen von der Politik gelöst führt dies zu Unterdrückung. Wird ein demokratisches Forum darüber entscheiden und eine vermeintlich wahre Meinung zum Diskurs gestellt führt dies zwangsläufig zu Unfrieden in der Gesellschaft. 6 Auch Kompromisse und ein kleinster gemeinsamer Nenner sind höchst problematisch, da sie jeweils die Aufgabe von tiefwurzelnden eigenen Überzeugungen, die mitunter ein Teil der Identität sind, fordern würden. Auch Interessenparteien könnten Rawls‘ Politikbild nicht gerecht werden, da sie stets zu schwach wären um ihre Agenden umzusetzen und folglich ein zu geringes Potential für policy-seeking hätten. Das ist fast selbsterklärend, da Klientelparteien stets nur einen kleinen Teil der Bevölkerung erreichen. Umgekehrt sind Catch-all-parties, also Volksparteien äußerst ungeeignet, da sie sich nur auf das office-seeking konzentrieren und versuchen möglichst viele Ämter zu bekleiden, wobei die Inhalte verloren gehen. Dass Parteien ideologischer oder dogmatischer Strömungen für Rawls ebenso ausgeschlossen sind ergibt sich aus dem oben genannten fast von selbst, da sie die freie Meinungsbildung (public reason) einschränken.7

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Rawls‘ Grundmodell sehr verstrickt ist. Zum einen entwickelt er eine Vertragstheorie, die die rationale Moral des Menschen begründen und zu einer pareto-optimalen Situation führen soll. Auf der anderen Seite soll letztlich die Ethik von der Politik getrennt werden, weswegen er sich für einen politischen Liberalismus entscheidet, der für alle politischen Lager annehmbar ist. Allerdings lässt sich aus dem Rawls’schen Kontraktualismus eine Tierethik ableiten, die den moralischen Wert der Tiere und daraus deren Interessen bzw. Rechte definiert. Demnach haben laut Carruthers Tiere keine moralische Relevanz, da sie ihre Interessen nicht artikulieren können und lediglich rationale Akteure eingebunden sind (wobei auch nicht-rationale Akteure der Species Mensch – z.B. Kinder – durch Stellvertreter berücksichtigt werden). Daraus lässt sich schlussendlich folgern, dass man im Rawls’schen Kontraktualismus nur moralisch-bedingte Rechte genießen kann, wenn man selbst in der Lage ist, moralischen Pflichten nachzukommen (vgl. Kant).

Literatur:

1 Für Hobbes Naturzustand siehe Thomas Hobbes: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1989, S. 99.

2 Für Lockes Naturzustand siehe John Locke: Über die Regierung. Stuttgart: Reclam, 1974, S. 5-7.

3 vgl. Jean-Jacques Rousseau: Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes. 1754. Gemeinfrei verfügbar; Timo Schmitz: The dilemma of natural law in an organised society (8 June 2017). In: Timo Schmitz: Selected English Articles, 2014-2017. Berlin: epubli, 2020.

4 Samuel Freeman: Original Position. Stanford Enyclopedia of Philosophy, 2014. https://plato.stanford.edu/entries/original-position/, aufgerufen am 15. Mai 2018.

5 s. Peter Carruthers: Kontraktualismus und Tiere. In: Ursula Wolf (Hrsg.): Texte zur Tierethik. Stuttgart: Reclam, 2008, S. 78-91; Peter Carruthers: Warum Tiere moralisch nicht zählen. In: Frederike Schmitz (Hrsg.): Tierethik: Grundlagentexte. Berlin: Suhrkamp, 2014, S. 219-242.

6 s. John Rawls: Political Liberalism. New York: Columbia University Press, 1999.

7 s. Rawls, 1999; John Rawls: A Theory Of Justice. Cambridge (Massachusetts): Harvard University Press, 2009.

Veröffentlicht am 15. Mai 2018

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