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Welche Rolle nimmt der Priester in Nietzsches Genealogie der Moral ein?

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Einleitung

Friedrich Nietzsches Werk Zur Genealogie der Moral ist eine Streitschrift, die sich mit dem Ursprung und der Entstehung der Moral im historischen Sinne auseinandersetzt und diese im gesellschaftlichen Bezug seiner Zeit interpretiert. Aufgrund der wichtigen religiösen Dominanz der christlichen Kirche sowohl zu Nietzsches Lebzeiten als auch in der abendländischen Geschichte rückt die Analyse des religiösen Moralverständnisses in Nietzsches Augenmerk, dessen kritische Ansicht gegenüber der Moral gerade an der Beschreibung der Priesterrolle sichtbar wird. Vor allem, da der Priester als Vermittler zwischen den Welten dient. Aus diesem Grund möchte sich dieses Paper dem Priestertum in Zur Genealogie der Moral widmen und den Versuch wagen, die Bedeutung des Priesters für Nietzsche anzunehmen, um so der Klärung des allgemeinen Moralverständnisses Nietzsches beizutragen, obgleich diese Arbeit aufgrund der Komplexität des Themas dem nicht gerecht werden kann, und daher allenfalls eine Hilfe auf dem Weg zum Verständnis sein soll. Damit könnte sie wichtige Verständnislücken füllen.

Das asketische Ideal als Hauptthema der Dritten Abhandlung

Die dritte Abhandlung trägt den Titel „Was bedeuten asketische Ideale?“. Heit (2016) hebt hervor, dass Nietzsche ausdrücklich fragt, was asketische Ideale bedeuten und nicht was asketische Ideale im Allgemeinen sind. Es geht also nicht darum, die sprachphilosophische Geschichte der Askese und deren Ideale nachzuzeichnen, sondern vielmehr darum, den historischen Wandel dieser Ideale und deren Bedeutung für gewisse soziale Gruppierungen herauszuarbeiten. Heit (2016) meint, dass die dritte Abhandlung eine „Genealogie exemplarischer Typen entwickelt“, wobei der Begriff „Bedeutung“ hier auf die Vor- und Nachteile für diese Gruppierungen verweisen soll. Wortmann bewertet das asketische Ideal als „eigentümliche Motivation und den verborgenen Grund des Willens zur Wahrheit“ (2011: 94). Das asketische Ideal ist somit nicht unbedingt im klassischen Sinne mit „Verzicht“ zu übersetzen, sondern beschreibt die Möglichkeit, so zu sein, wie man sein möchte und welches Opfer man dafür bringen muss. So zeigt Nietzsche den Philosophen als maskiertes Wesen, welches seine philosophische Tätigkeit verstecken musste, um als Philosoph frei tätig zu sein (vgl. hierzu Wortmann, 2011: 94). Der Philosoph muss sich also verpuppen und diese Verpuppung identifiziert Nietzsche mit dem asketischen Ideal des Philosophen. Die Verpuppung ist aber im Grunde genommen ein Selbstbetrug, weil man sich mit der Maske dem eigentlichen Sein entsagt und dies wider der Vernunft der genannten Gruppierungen ist. Dies erweckt den Anschein, als handele es sich hier um eine Selbstkastration der Vernunft (vgl. hierzu auch Jauslin, 2004: 125). Denn andernfalls wäre die Philosophie „auf Erden gar nicht möglich gewesen […] ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein Selbst-Missverständnis“ (Nietzsche, 2017: 113). Das asketische Ideal des Philosophen ist jedoch nur eines von vielen asketischen Idealen, die Nietzsche vorstellt. Wichmann sieht, dass „Asketische Ideale […] insofern nihilistische Begriffe [sind], wie sie mit Entsinnlichung und Entwertung korrespondieren. Sie resubstantialisieren die nihilistische Entwertung, insofern sie sich auf ein transzendentes Versprechen berufen. Das asketische Ideal verspricht einen Zustand des Ausgleichs, der Ruhe oder der Reinheit jenseits der realen Auseinandersetzungen und Kräfteverhältnisse des menschlichen Lebens und Willens. Den tatsächlich wirksamen Herrschaftsformen wird ein imaginärer Zustand gegenübergestellt, der diese Herrschaftsformen transzendieren, sie aber auch verdecken und legitimieren soll.“ (1995: 55). Türcke (2017) kommt zu der Meinung, dass das Ideal als asketisch dargestellt wird, da jedes Ideal einen Verzicht an der Realität bedeute. Somit muss jedes wirkliche Ideal asketisch sein. Der Philosoph musste sich also verstecken, gar maskieren, um frei räsonieren zu können, aber indem er dieses Selbstmissverständnis auf sich nimmt, konnte er sein, wie er wollte, nämlich ein frei räsonierender Mensch.

Der Priester im asketischen Ideal

Besonders der Priester verfolgt ein asketisches Ideal, muss er doch etwas verteidigen, was noch nie jemand gesehen oder mit den Händen begriffen hat: Gott. Nietzsche kommt daher zum Schluss, dass der „asketische Priester […] schwerlich selbst nur den glücklichsten Vertheidiger seines Ideals abgeben“ (2017: 114) werde, weswegen „wir ihm noch zu helfen haben […] sich gut gegen uns zu vertheidigen als dass wir zu fürchten hätten, zu gut von ihm widerlegt zu werden“ (2017: 114 f.). Anders als der Philosoph, der lediglich seine Vernunft verbergen muss, um nicht für seine Einsichten von der Gesellschaft gelyncht zu werden (Analog zum Höhlengleichnis aus Platons Politeia), muss der Priester sich nicht verstecken. Er hat die Missstände der Gesellschaft in dieser Welt erkannt und nutzt seine Vernunft, um sich eine andere Welt zu kreieren, er ist der „fleischgewordene Wunsch nach einem Anders-sein, Anderswo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches“ (Nietzsche 2017: 119 f.). Beim Priester ist das asketische Ideal die Brücke zwischen der immanenten Erde und dem transzendenten Jenseits. Dieses Jenseits erhofft sich der Priester als Trost gegen die „missvergnügte[n], hochmüthige[n] und widrige[n] Geschöpfe“ (Nietzsche, 2017: 115) auf der Erde. Das Priestertum bildet für den Schwachen die einzige Möglichkeit, sich aus der Klasse der Unterdrückten, den Sklaven, zu befreien und gesellschaftlich aufzusteigen. Gleichzeitig hat er auch die Möglichkeit, auf andere direkt einzuwirken. Der Priester zeigt dem Kranken auf, dass seine Krankheit auf seine Schuld zurückzuführen ist, um ihn zu disziplinieren und so sein Ressentiment zu verändern. Das heißt nicht, dass der Kranke wirklich wegen seiner Schuld krank ist (siehe S. 129 wo Nietzsche klar macht, dass der Tatbestand und die Interpretation des Tatbestandes nicht identisch sein müssen). Vielmehr möchte er, dass sich ihr Ressentiment gegen die Anderen einstellt, weil man sich darüber bewusst wird, dass nicht nur die Anderen allesamt Sündiger sind, sondern man selbst ist auch Sündiger, „du selbst bist an dir allein schuld!“ (Nietzsche 2017: 128). Dabei kann der Priester nicht wirklich den Kranken im physiologischen Sinne heilen, „man dürfte selbst nicht einmal behaupten, dass der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe“ (ebda.). Vielmehr versucht der Priester die Rachegelüste der Sklaven zu zähmen, denn durch das von der Herrenrasse zugefügte Leid entsteht ein Ressentiment des Aufbegehrens. Der Priester kommt dabei nicht nur den Schwachen zugute sondern auch den Herren. Auch die Herren, so gewaltsam sie gegen die Schwachen vorgehen können, sind in ihrer Freiheit durch die Verpflichtung gegenüber ihren Ahnherren und durch soziale Bindung eingeschränkt. Das Verhältnis des Gegenwärtigen zu den Vorfahren gleicht einer vertraglichen Verpflichtung, da die Herren der Vergangenheit die Kaste verteidigt und aufrechterhalten haben und diese Leistung hat die zukünftige Generation zurückzuzahlen (Nietzsche, 2017: 81). Damit kommen die Herren auch nicht mehr an Gott vorbei, weil die Herren ihre Ahnherren gottgleich sehen, oder anders gesagt: die Ahnherren werden Gott (Nietzsche, 2017: 82). Der Priester kann damit nicht nur die Schuld des Sklaven erlösen, sondern auch zwischen dem Herren und Ahnherrn vermitteln.

Daher kommt Nietzsche zu der Überzeugung, dass es eigentlich nicht Gott und das Jenseitsverlangen ist, welches einen Menschen antreibt zum Priester zu werden. Vielmehr ist es der Wunsch im Kampf zwischen den Herrenrassen und Sklavenrassen zu überleben, weswegen der Priester selbst keiner Rasse angehört und sich keinem Stand zuordnet, bzw. über diese hinauswächst. Für Nietzsche gehört der Priester in keinen Rang und keine Kaste und hat somit das Klassendasein überwunden und die Bedürfnisse der bestehenden Klassen erkannt, was ihn in eine besondere Machtposition bringt. Paradoxerweise etabliert sich damit auf Dauer doch faktisch eine Priesterkaste. Nietzsche erkennt, dass Priester überall auf der Welt, egal an welchen Gott sie glauben, auf diese Weise1 kriegerischer oder gewaltsamer Opferung entgehen und durch die Entsagung eines zivilen Lebens ihr Heil finden. Durch die Überwindung aus dem Klassensystem schützt er sich davor, in einen Ständekampf gerissen zu werden, der Nietzsche ausdrücklich in „Herrenmenschen“ und „Sklavenmenschen“ zeigt und den Karl Marx als Kampf zwischen der „Bourgeoisie“ (Unterdrücker) und „Proletariat“ (Unterdrückter) identifizieren würde.

Der Beistand Gottes, der zur Erlangung des Paradieses führen soll, dient dem Priester also im allerersten Sinne der Selbsterhaltung und somit der eigenen Heilsfindung. Dabei ist „ein asketisches Leben […] ein Selbstwiderspruch“ (Nietzsche, 2017: 116). Der Priester ist dabei der einzige Asket, dem durch das Leben in diesem Selbstwiderspruch die Findung dieses Heils gelingt und damit der einzige, der in der Gesellschaft dauerhaft überleben kann. Letztendlich sieht Nietzsche dies auch als den Kern des asketischen Ideals: der menschliche Schutzinstinkt „welche[r] sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft“ (ebda.). Der Priester wird dabei so mächtig, dass er die Werte transformieren kann und wird damit zum Wertesetzer (Nietzsche, 2017: 117). Um zu dieser Einsicht zu gelangen, untersucht Nietzsche nicht nur den christlichen Priester, sondern schaut sich auch den Brahmanen als Symbolik für die asiatischen Religionsgemeinschaften und ganz besonders für die indische Gesellschaft an. Wenn der Priester lediglich ein Maskierter wäre, der Angst um seine Existenz hat, so muss dies nicht nur auf den christlichen Priester zutreffen. Tatsächlich ist aber gerade der Priester kein Maskierter, denn anders als der Philosoph, der sich tarnen muss, um nicht gelyncht zu werden, ist das Priestertum die einzige Möglichkeit, in der Gesellschaft zu überleben, ohne dem Konflikt von Herren und Sklaven zum Opfer zu fallen. Gleichzeitig kann der Priester aber besonders frei philosophieren, da er sich nicht verstecken muss. Auch der Brahmane geht davon aus, dass er einen Zustand entwickeln kann, in dem er nicht mehr verletzbar ist und damit unangreifbar wird. Nietzsche war dieses Bild nur allzu sehr bewusst, da er zwei Vedanta-Werke des Hinduismus in der Übersetzung von Paul Deussen vorliegen hatte (Ansell-Pearson in Nietzsche, 2003: 104). Der Asket genießt Schutz, was bei den Priestern am deutlichsten wird. Diese sind, anders als zum Beispiel die Philosophen, nicht so einfach zu enttarnen, weil sie im Dienste einer höheren Macht, nämlich eines „Reich[s] der Wahrheit und des Seins“ stehen, welches den Anderen verwehrt bleibt (Nietzsche, 2017: 117).

Letztendlich ist der Priester jedoch kein Arzt, der den Sündiger von seinen Leiden und Schmerzen alleine durch seine Absolution befreien kann, sondern allenfalls einer, der die „Unlust des Leidenden“ (Nietzsche, 2017: 130) wegnimmt. Damit bekämpft er nicht die Ursachen, sodass sein Triumph nicht in der Sache selbst liegt. Gleichzeitig führt diese Erkenntnis nicht dazu, dass der Priester überflüssig wird, denn gerade dem Priester sind einige Eigenschaften zu Eigen, die in der Gesellschaft substanziell sind. So ist der Priester der Erfinder des Trostes, und „wie erfinderisch hat er seine Tröster-Aufgabe verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er seine Mittel gewählt!“ (Nietzsche, 2017: 130). Nietzsche rechnet dem Christentum gerade die Vielfalt der Trostmittel an, und schaut auch hier wieder auf Religion im Allgemeinen. Er sieht, dass Religion ein psychologisch-moralisches Mittel ist, um die Traglast der Schwachen zu betäuben. Da die Starken und Mächtigen in der Lage sind, selbst über den Ablass und damit über Gnade zu entscheiden (Nietzsche, 2017: 63), und sich somit „Jenseits des Rechts“ stellen (ebda.), profitieren vor allem die Schwachen vom Priestertum. Das zeigt sich auch darin, dass es ursprünglich nur die Herrschenden und Unterworfenen gab und die Herrenklasse die alleinherrschende Schicht war. Der Priester, der nach außen hin die Menschen heilen kann und deswegen als „Heiland“ verehrt wird (Nietzsche, 2017: 130), in Wirklichkeit aber die Menschen nur Trösten kann, wird von einem Schwachen zu einem Starken. Somit siegt der Priester mit einer List, die ihn sogar über die Herrschenden stellt und diese dazu zwingt, ein Verhältnis mit ihm einzugehen.

Zwischen Irrtum und Gewalt

Nietzsche nennt verschiedene Faktoren, die zur Entstehung des Schmerzens führen, welche der Priester trösten muss. So nennt er die Kreuzung verschiedener Stände, und damit verschiedener genealogischer Abkommenheit, die fehlerhafte Emigration (zum Beispiel durch fehlende Anpassungsfähigkeit in verschiedenen Klimazonen), Alter und Ermüdung, falsche Diäten oder schwerwiegende Krankheiten wie Blutvergiftungen oder Malaria als Gründe, die einen solchen Schmerz herbeiführen können und zeigt dies an Beispielen wie der Ständemischung, dem Alkoholismus, dem Vegetarianismus, und dem dreißigjährigen Krieg (Nietzsche, 2017: 131). Bei all diesen Ereignissen macht sich ein großes Unlustgefühl breit, welches die Lebensqualität nach unten drückt. Gerade der Priester, der eine Fülle an Trostmöglichkeiten hat, wird damit zu einer unabdingbaren gesellschaftlichen Figur. Priester und Brahmanen werden unverwundbar, da ihr Trost in der jeweiligen Gesellschaft dringend benötigt wird. Als Tröstender der Sklavenrasse und gleichzeitig Klassenloser kann der Priester den Wunsch nach einem Sklavenaufstand besonders verstehen. Er selbst zähmt zwar das Ressentiment der Sklaven, aber er ist selbst nicht frei von ihm. Im Gegenteil, der Priester gehört stets zu den „ganz großen Hasser[n] in der Weltgeschichte“ und auch zu den Geistreichsten, denn „gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht“ (Nietzsche, 2017: 22). Dies erwächst aus der priesterlichen Ohnmacht, die eine zentrale Kehrtwende bei Nietzsche einleitet und den bisher eigentlich positiv betrachteten Priester zu einer abgrundgleichen Figur macht. Auch der Priester steht somit indirekt in Konflikt mit der Herrenrasse und könnte ein guter Verbündeter beim Sklavenaufstand sein, da er sich dann besonders als Wertesetzer gegenüber der Herrenrasse durchsetzen kann („Umwertung aller Werte“), ohne sich mit ihnen anlegen zu müssen. Gleichzeitig ist es ja gerade der Priester, der mit dem Leid der Welt seine Daseinsberechtigung aufrecht erhält. Solange er als Tröster gebraucht wird, kann er seine Macht halten. Man sieht also, dass auch der Priester in einem Irrtum lebt. Und trotzdem ist das asketische Ideal für ihn gleichbedeutend mit dem Priester-Ideal, da es für ihn das beste Ideal ist, obgleich es (so schreibt er in Ecce Homo) „das schädliche Ideal par excellence, ein Wille zum Ende, ein decadence idéal“ sei (zit. nach Höffe, 2004: 13). Es ist laut Nietzsche nicht das Ideal par excellence, weil Gott hinter ihm tätig sei, sondern weil es als einziger keinen Konkurrenten hatte, sodass es ihn an einem Gegenideal mangelte (ebda.). Nachdem also nun klar ist, was für eine Macht der Priester haben kann, stellt sich Nietzsche die Frage, ob die Verfügung über diese Gewalt es überhaupt wert ist, im Irrtum zu leben. Denn als Asket verneint man sich selbst, man versagt „seinem Ich den Glauben“ (Nietzsche, 2017: 117) und damit auch „sich selber seine Realität“ (ebda.). Nietzsche kommt zu der Erkenntnis, dass die Selbstverneinung eine „Vergewaltigung und Grausamkeit an der Vernunft“ (ebda.) sei, da die Selbstverneinung das eigene Sein ausschließt. Denn der Priester findet zwar sein eigenes Heil durch höchste Vernunft, kann aber die anderen nicht heilen, sondern nur trösten, indem er ihnen eine Wahrheit und Vernunft vorgaukelt, die es so nicht gibt. Sich aus vernünftiger Überlegung gegen die Vernunft zu entscheiden ist aus vernünftiger Sicht für Nietzsche „ganz und gar unbegreiflich“ (ebda.). Das liegt nicht zuletzt daran, dass der Priester eigentlich die objektive Vernunft gefunden hat, um diese jedoch zu leben, muss er sich in eine Dekadenz begeben, denn „der Mensch will lieber noch das Nichts wollen, als nicht wollen“ (Ecce Homo, zitiert nach Hausen, 2008). Während der Philosoph in Furcht lebt, was für Nietzsche negativ konnotiert ist, ist der Priester der Inbegriff desjenigen, der nach dem Wille zur Macht strebt. Letzteres ist bei Nietzsche positiv konnotiert. Der Wille zur Macht ist die Akkumulation der Kraft des Sich-Selber-Schaffens und letztlich der Freiheit. Der Priester ist ein vernunftsbejahender Freiheitssuchender.

Nietzsche und Kant – ein Gegensatz?

Georg Simmel (1906) hebt hervor, dass Nietzsche die Moral als eine Erfindung des Christentums verstanden habe, und sich damit gegen Kant auflehne, der nichts anderes als die Moral in Allem verstanden habe. Diese Selbsteinsicht Nietzsches bezweifelt Simmel jedoch, denn „Kant und Nietzsche sind beide Moralisten […]. Ihr Unterschied ist nur der, daß Kant ausschließlich die bestehende Moral zu formulieren sucht, während Nietzsche ihr, die zweifellos als »Moral« bestehen bleibt, einen neuen Inhalt geben möchte. Kant ist der Theoretiker, der das Gegebene erkennen will, Nietzsche der Moralprediger, der dies Gegebene praktisch reformieren will“. Nietzsche möchte zeigen, dass gerade der Priester ein Wertesetzer ist und in der Geschichte der Moral die Werte transformieren konnte und somit die Moral eine Erfindung der Kirche ist. Aber Nietzsche bedenkt dabei nicht, dass der Priester selbst der Moral nur einen neuen Inhalt gibt, die Bedingtheit der Moral aber eigentlich nicht leugnet. Auch ohne den Priester gäbe es ein Bedürfnis, dem Schmerz zu entkommen und auch ohne den Priester gäbe es die Notwendigkeit, dass die Herren ihren Ahnherren Tribut pflichten. Der Priester füllt lediglich diese Lücke, indem er den Schwachen Trost spendet und den Herren den Dialog mit ihren Ahnherren ermöglicht. Somit gelingt es Nietzsche nicht, die kantische Moral zu überlisten bzw. zu ersetzen. Er transformiert sie lediglich auf den Priester.

Fazit

Der Priester nimmt bei Nietzsche die Rolle eines Geflohenen ein, der aufgrund seines hohen Selbsterhaltungstrieb versucht, in eine Position zu kommen, in der er von möglichst allen respektiert wird und damit nicht mehr einer gesellschaftlichen Schicht oder Kaste angehört, bis sich eine eigene Priesterkaste bildet. In der Regel kommt der Priester ursprünglich aus der Sklavenkaste und hat daher sehr viel Leid und Unrecht erfahren. Da er in Gott einen Erlöser sieht, der einem von seinen Schmerzen befreien kann, widmet er sich der Religion, um sein Heil zu finden, was ihm auch gelingt. Auch wenn Nietzsche hier und da Einschränkungen macht, indem er die Heilsfindung nicht zwangsläufig von der Frage einer tatsächlichen metaphysischen Existenz abhängig macht. Allein das Streben danach führt dazu, dass der Priester sich entsprechend entwickelt. Und so kommt der Priester in seiner Rolle gar zu den höchsten Venunfteinsichten und hat das größte Streben nach dem Wille zur Macht, da ihn niemand davon abhält, seine philosophischen Gedanken zu entfalten. Vor allem für die Schwachen ist der Priester von besonderer Bedeutung. Der Priester kann den seelischen Schmerz der Menschen lindern und schafft es, ihnen die Heilung dessen vorzugauckeln, was ihn aber nicht zum Heiler macht. Dies bringt ihn jedoch in eine gesellschaftliche Position, die ihn unangreifbar macht und ihm das Überleben sichert. Seine sichere Position kann der Priester dadurch erlangen, dass die Herrenkaste in der Schuld der Ahnherren, die stets versucht haben die Kaste aufrechtzuerhalten, steht, und die Ahnherren sich in Gott widerspiegeln. Somit kann der Priester nicht nur den Schwachen, welche unter den Herren leiden, Trost spenden, sondern bezüglich den Herren ihre Schulden gegenüber dem Ahnherren vermitteln. Zwar kann der Priester in Gott seine Heilung finden, jedoch muss er das asketische Ideal immer weiter aufrechterhalten und im steten Irrtum leben, dass er ein Heiland sei, was er jedoch nur vorgibt, aber nicht ist. Obwohl der Priester der Einzige in der Genealogie der Moral ist, der es überhaupt schafft, sich dauerhaft dem Schmerz zu entziehen und die besten Heilungschancen hat, die er durch Gott und den Glaube an das Paradies findet, ist der Preis, den der Priester zahlt, sehr hoch. Denn der Priester verzichtet auf ein ziviles Leben mit Frauen und Kindern zu Gunsten seines Vernunftstrebens, ohne zu wissen, ob es das wohlgepriesene Paradies überhaupt gibt. Abschließend ist daher zu sagen, dass Nietzsche den Priester historisch analysiert hat und dabei den Versuch wagte, die Funktion der Priester weltweit einzuordnen. Nietzsche versucht dabei nicht, seinen eigenen Priester zu erschaffen, hält sich aber auch nicht an historische Ereignisse oder Fakten, sodass es sich hierbei um eine Verallgemeinerung und Herunterbrechung auf das Wesen des Priestertums handelt.

Anmerkungen

1 Gemeint sind hier die vermeintliche Klassenlosigkeit und die faktische Organisation in einer eigenen noch mächtigeren Klasse.

Literatur

Hausen, Dirk: Die Frage nach der Bedeutung asketischer Ideale am Beispiel der Künstler in Friedrich Nietzsches "Zur Genealogie der Moral". München: GRIN, 2008.

Heit, Helmut: Wissenschaftskritik in der Genealogie der Moral. Vom asketischen Ideal zur Erkenntnis für freie Menschen. In: Helmut Heit & Sigridur Thorgeirsdottir (Hrsg): Nietzsche als Kritiker und Denker der Transformation. Berlin: deGruyter, 2016.

Höffe, Otfried: Einführung in Nietzsches „Genealogie der Moral“. In: Otfied Höffe (Hrsg.): Klassiker Auslegen, Friedrich Nietzsche – Genealogie der Moral. Berlin: Akademie Verlag, 2004, S. 1-14.

Jauslin, Kurt: Ordnung schaffen. Lesarten zu Nietzsches Genealogie der Moral. In: Volker Gerhardt und Renate Reschke (Hsrg.): Antike und Romantik bei Nietzsche (Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Nr. 11). Berlin: Akademie Verlag, 2004.

Nietzsche, Friedrich: Zur Genealogie der Moral. Mit Nachwort von Volker Gerhardt. Stuttgart: Reclam, 2017.

Nietzsche, Friedrich: On the Genealogy of Morality. Edited by Keith Ansell-Pearson. Cambridge: Cambridge University Press, 2003.

Simmel, Georg: Nietzsche und Kant. Moral des Immoralismus (1906), online auf: http://www.textlog.de/6647.html (Stand: 28.03.2018).

Türcke, Christoph: Nietzsches Vernunftpassion: Aufsätze und Reden. Springe: Klampen Verlag, 2017.

Wichmann, Heiko: Genealogie bei Nietzsche – Zur Logik des Genetischen bei Nietzsche. Wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades eines Magister Artium dem Philosophischen Seminar des Fachbereichs Philosophie und Sozialwissenschaften an der Universität Hamburg. Hamburg, 1995.

Wortmann, Simon: "das Wort will Fleisch werden": Körper-Inszenierungen bei Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche. Stuttgart/ Weimar: Metzler, 2011.

Veröffentlicht am 12. Mai 2019

Politische und Philosophische Analysen

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