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Natur und Kultur in Genderfragen - Eine Gegenkritik zur Kritik einer Leserin

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Vor kurzem habe ich ein paar kritische Anmerkungen einer Leserin zu meinen Artikeln „Über die Gleichberechtigung“ und „Prinzipien der Homosexualität und Transgender im Judentum“ bekommen, die so spannend und anregend waren, dass ich mich entschlossen habe, diese Anmerkungen aufzunehmen und eine Gegenkritik zu schreiben, um mein philosophisches System zu erweitern. Denn ich denke, dass die Anmerkungen so fruchtvoll waren, dass sie nicht nur mich, sondern auch meine Leserschaft zum Nachdenken anregen werden.

Besonders aufgestoßen war der Leserin in meinem Artikel „Über die Gleichberechtigung“ der Satz, indem ich schreibe, dass die Stärke des Mannes in einem gewissen Moment von Vorteil sei, während in der nächsten Sekunde die Durchsetzungskraft einer Frau triumphiere. Die Leserin fragt mich, warum ich hier klassische Stereotype der Geschlechterrollen aufgreife, da ich hier nur eine pseudonatürliche Verschiedenheit herstelle. Ich kann diesen Einwand sehr gut nachvollziehen, jedoch sollte hier hervorgehoben werden, dass ich mit der Sprache spiele. In der Vergangenheit wurden gewisse Attribute als männlich oder weiblich aufgefasst und so eine Ungleichheit geschaffen. Ich legitimiere diese Ungleichheit keineswegs, noch gehe ich von irgendeiner Art der Verschiedenheit aus, wie ich 2014 in meinem Artikel „Understanding a woman – A man’s perspective“ herausgestellt habe. Vielmehr gehe ich davon aus, dass jedwede Form des Geschlechts eine soziale Konstruktion ist und diese Konstruktion zur Sozialisation genutzt wird, wodurch sich dann faktisch Unterschiede einstellen, die aber nicht angeboren, sondern der Erziehung geschuldet sind. Da nun, wie ich 2014 herausgestellt habe, in der Geschichte dem Manne starke Attribute zugeschrieben wurden, der Frau dagegen eine natürliche Schwäche vorgeworfen wurde, entsteht (wie nun 2018 hinzugefügt) ein dualistisches Weltbild. Genau dieses dualistische Weltbild greife ich in meinem sprachlichen Spiel auf, indem ich erst den starken Mann portraitiere, der scheinbar natürlich herrscht, um dann als Gegenspieler der Frau den eigentlichen Triumph zuzusprechen, mit der Einschränkung, dass es eine natürliche Konkurrenz der Geschlechter gibt, die ich aber später ganz auflösen werde. Denn ich habe dieses Sprachspiel komplett durchgespielt, indem ich die Stereotype aufgreife und eine Balance aufzeige, in der mal der Mann und mal die Frau (zum Beispiel in einer Partnerschaft), das Ruder an sich reißen. Die Frage war nun, nach welchem Kriterium? So nenne ich als Kriterium die jeweilige Fähigkeit. Und zwar nicht die Fähigkeiten einer Frau oder eines Mannes, sondern des jeweiligen Individuums, da Geschlechterfähigkeiten (wie 2014 herausgestellt) reine mind-constructions sind. Genau an diesem Punkt überkomme ich jegliche geschlechtliche Zuordnung in dem ich sage: mal führt der Mann und mal die Frau, und der andere ordnet sich unter. Wieso? Nicht weil der Partner Mann oder Frau ist. Sondern weil der Partner in der Situation die bessere Kompetenz aufweist, nur um in einer anderen Situation dem Anderen die bessere Kompetenz zuzusprechen. Es handelt sich also um ein deliberatives Prinzip, welches eine natürliche Balance, unabhängig vom Geschlecht, etabliert. An andere Formen der Sexualisierung, zum Beispiel genderfluiden Menschen habe ich damals fälschlicherweise nicht gedacht. Da aber jeweils der Vernünftigere in einer Situation das Sagen hat und der Andere sich unterordnet und da das Geschlecht für den situativen Vernunftgrad keine Rolle spielt, lässt es sich über jegliches binäres Verständnis hinausdenken.

Weiterhin merkt meine Leserin an, dass ihr meine Vorstellung vom natürlichen Gleichgewicht nicht gefällt, da Natur kulturbedingt vom Menschen definiert werde und dies deswegen kein geeignetes Argument für diese Diskussion sei. Meine Leserin scheint hier sehr platonisch vorzugehen, indem sie die natura (φύσις) qua Erziehung mit der cultura gleichsetzt. Obgleich Platon beide Sphären auch zu trennen weiß, indem die menschliche Seele von Natur aus ungezügelt ist und man sich durch Kultivierung aneignen solle, dass das λογιστικόν über das ἐπιθυμητικόν siegt. Dies ist bei Platon nicht nur der Vernunftbegriff, sondern auch seine grundlegende Prämisse zur Gerechtigkeit. Letzteres ist der Akt an sich, also, dass man die vernünftige Entscheidung umsetzt. Tatsächlich geht Demokrit davon aus, dass die Erziehung so selbstverständlich wird, dass sie von der Kultur zur δεύτερη φύση, also zur zweiten Natur, wird. Wie sehr ich dem Begriff Kultur entgegenstehe, habe ich in meiner ausführlichen Kulturkritik (vor allem im Jahr 2016) immer wieder zum Vorschein gebracht. Es ist für mich kein Tabuwort, denn es gibt Situationen, wo ich es der Einfachheit halber verwende, aber erst durch den Kontext bekommt es eine Bedeutung, denn der Sinn der Kultur ist leer. Kultur bedeutet nichts. In vielen Situationen lässt sich der Begriff mit einem viel trefflicheren Begriff synonymisieren, denn der Kulturbegriff an sich sagt heutzutage überhaupt nichts mehr aus. Das bedeutet nicht, dass ich nicht mit Demokrit übereinstimme, dass der Mensch sich künstlich eine zweite Natur erzeugt, denn die παιδεία wird irgendwann zur Gewohnheit - dem ἦθος, dem habitus. Insofern prägt unsere Erziehung uns sehr und durch viele verschiedene Einflüsse eignen wir uns eine Mentalität an. Letzteres ist das, was wir meistens fälschlicherweise mit Kultur meinen. Und auch wenn diese scheinbar zu einer zweiten Natur wird, so ersetzt sie doch die Natur überhaupt nicht. Unser Bild der Welt konstruieren wir uns im Kopf. Es gibt Menschen, die können immer noch nicht das dritte Geschlecht akzeptieren, da sie so in ihrer Welt verharrt sind, dass sie aus dieser einfach nicht herauskommen – sich gar darüber lustig machen. Diese beschränkte Wahrnehmung darf nicht den Betroffenen allein angekreidet werden, denn wir alle sind beschränkt. Unsere Wahrnehmung ist sehr beschränkt und sorgt dafür, dass wir über uns eigentlich gar nie hinauswachsen. Nietzsche versucht dieses Problem zu lösen, indem er eine höhere Einsicht zulässt, die im Übermenschen mündet. Dabei handelt es sich um eine höhere Einheit ganz im Sinne Hegels: der Übermensch ist eine Synthese aus den widerstreitenden Thesen. Ein neuer Typus sozusagen. Auch im Buddhismus hat der Erleuchtete seine Schranken überwunden. Das heißt nicht, dass er jetzt die absolute Wahrheit kennt, im Gegenteil, er ist sich dieser Ohnmacht bewusst und kann ganz gut damit umgehen – ganz im Sinne Sokrates‘ scio me nescire. Da dieses natürliche Gleichgewicht schlussendlich nicht vom Geschlecht, sondern vom Individuum, ja der persona agens abhängt, ist es – sofern wir eine deliberative und stets räsonierende Gesellschaft etablieren – das vernünftigste Prinzip. Da die Natur unabhängig vom Menschen existiert, kann der Mensch diese nicht definieren. Höchstens kann er seine Scheinwelt verbegrifflichen, die dann zu seiner zweiten Natur wird – einer Scheinnatur, die er nicht mehr hinterfragt.

In meinem Artikel „Über die Gleichberechtigung“ schrieb ich, dass die historische Versklavung der Frau aus einem biblischen Irrtum begangen wurde, der verstanden werde müsse. Wobei ich natürlich hier mit „verstehen“ auf nachvollziehen referieren möchte, denn man muss die Geschichte verstehen, um den Umstand aus heutiger Sicht erklären zu können. Meine Leserin weist nun explizit daraufhin, dass verstehen nicht mit akzeptieren gleichzusetzen sei. An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich auf den historischen Umstand hinweisen. Wir können die Geschichte nicht ändern, aber wir können versuchen sie zu verstehen – das bedeutet nicht, dass wir diese Umstände heute akzeptieren oder sogar legitimieren, aber nur wenn wir die Fehler der Geschichte verstehen, können wir aus ihnen lernen. Ich kann der Leserin nicht verübeln, dass man einen falschen Eindruck bekommt, wenn ich das Wort verwende, denn wenn man im Deutschen sagt „Du musst mich verstehen“ impliziert man, dass man akzeptiert werden möchte. Verstehen kann somit entweder das reine Nachvollziehen oder eine wohlwollende Akzeptanz bedeuten. Im historischen Kontext sollte verstehen aber wirklich nur das reine Verständnis über den Sachverhalt und nicht deren Legitimation beinhalten. Die Wertung eines Sachverhaltes soll daher nach dem Akt des Verstehens erfolgen.

Schließlich geht meine Leserin auf folgenden Satz ein: „Deswegen muss sich in der Gesellschaft nicht das Bewusstsein des Rechts der Gleichheit, sondern die Gewichtung der Gleichheit etablieren und das Recht nur die Garantie sein.“ Sie schreibt mir, dass dieser Ansatz sehr vernünftig sei und sie diese Meinung teile. Sie hat jedoch Bedenken, dass die Umbenennung des Gesetzestextes nicht die Einstellung der Menschen ändern würde, obgleich sie sich eine Änderung der Einstellung in der Gesellschaft wünsche. Damit hat sie selbstverständlich Recht. Die reine Umbenennung eines Gesetzestextes verändert nicht die Einstellung der Menschen, aber es gibt ein wichtiges Gut, welches die Einstellung durchaus ändern kann, und zwar die Bildung, die Erziehung – die educatio. Also jenes, was vorhin als παιδεία bezeichnet wurde. Im weiten Sinne umfasst es die Sozialisation. Die παιδεία wird dabei beim Menschen durch Nachahmung gefestigt, sodass sich eine Gewohnheit (ἦθος) einstellt, die zur zweiten Natur wird. In anderen Worten: Wenn man den Menschen zur Gleichgewichtung erzieht, wird diese selbstverständlich. Dabei wird man jedoch leider auch Rückschläge einstecken müssen. Denn würde Erziehung einen universellen Menschen formen, würde es tatsächlich eine Kultur geben. Diese gibt es aber nicht, denn jeder Mensch wird einzeln durch seine Umgebung geformt. Und so wachsen in Deutschland Kinder auch in antiprogressiven Familien auf. Verfassungsfeindliches Gedankengut radikalgesinnter Menschen macht nicht vor der Indoktrinierung der Kinder halt. Dem müssen wir uns bewusst sein.

Gehen wir nun zu den Anmerkungen meiner Leserin zu meinem Artikel „Prinzipien der Homosexualität und Transgender im Judentum“. Die Leserin hat korrekt erkannt, dass die biblische Version in Genesis 2:18-24 dem Kugelmenschenmythos aus Platons Symposion stark ähnelt. In meinem Artikel „La sexualité comme réunion de l’âme“ (2019) hebe ich genau diese Ähnlichkeit hervor, verweise aber auf die unterschiedliche Bedeutung innerhalb der Texte. In Genesis teilt Gott den androgynen Menschen, da nur sein eigener Teil ein geeigneter Helfer ist, während alle anderen Lebewesen nicht auf seiner Stufe stehen können und dem Menschen somit dienen sollen. Die Frau aber wird als gleiches Lebewesen dem (dadurch ebenfalls neugeschaffenen) Manne zur Verfügung gestellt – beide sind ebenbürtig. Im Kugelmenschenmythos dagegen wird der Mensch als Strafe geteilt, denn der Mensch versuchte immer mächtiger zu werden und durch seine Teilung konnte er den Göttern nicht mehr gefährlich werden. Beide Texte gehen von einer gemeinsamen Seele aus: man hat ein Stück von sich verloren und muss es wieder finden. Findet man sein Gegenstück, kann man durch sexuelle Verschmelzung die Seele vereinigen. Hier kommt der nächste Punkt meiner Leserin, denn sie bemängelt, dass es sich hierbei immer nur um heterosexuelle Beziehungen handelt. Platon berücksichtigt tatsächlich auch homosexuelle Paare in seinem Mythos. Bezüglich der biblischen Interpretation dagegen sollen hier erst einmal einige wichtige historische Punkte zur Textgrundlage erwähnt werden. In Genesis 1:27 schöpft Gott den Menschen aus der staubigen Erde, denn das ist die Herkunft des Wortes „Adam“. Dabei wird er als dualistische Einheit erschaffen, und zwar ausdrücklich als זכר und נקבה. Der Mensch wird als Abbild Gottes erschaffen, sodass man auch stets ein androgynes Gottesbild annahm, bis die Geschichte irgendwann Gott auf dubiose Weise maskulinisiert hat. Tatsächlich nutzt auch das Hebräische das generische Maskulinum, da es kein neutrales grammatisches Geschlecht im Hebräischen gibt. Dies hat der Maskulinisierung natürlich lange Rückenwind gegeben. Ein drittes Geschlecht war in diesem Dualismus nicht vorgesehen. Dies scheint nicht ungewöhnlich gewesen zu sein für die ältesten Vorstellungen unserer Zivilisation, denn es gab noch keine Psychologie oder Geschlechteranalyse.

In der skandinavischen und norddeutschen Mythologie wird die Schöpfung des Menschen beschrieben, indem Odin an einer Küste zwei Bäume jeweils in Mann und Frau verwandelt. In der mitteldeutschen Mythologie ging man davon aus, dass die ersten Kinder aus Bäumen herauswachsen, was sich mit der baltischen Mythologie decken dürfte. Dabei nahm man in Mitteldeutschland Birken oder Apfelbäume als Quelle an. Inwiefern die Baumart mit der Geschlechterentwicklung zu tun hat ist mir jedoch nicht bekannt. In der kasachischen Mythologie hat der Weltenbaum goldene und silberne Blätter. 1 Zufall? Denn im Glaube der Zhuang – einem Tai-Volk – besitzt die Blumenmutter (die oberste Göttin) einen himmlischen Garten in denen goldene und silberne Blumen wachsen – aus den Goldenen werden Jungen, aus den Silbernen Mädchen. 2 Hier hat das Geschlecht gar eine karmische Wirkung und somit auch eine Wertung: Jungen als Belohnung und Mädchen als Strafe. Ein drittes Geschlecht ist in all diesen Überlieferungen scheinbar nicht (explizit) vorgesehen, wenn ich mich nicht irre. Das bedeutet aber nicht, dass sich in der Geschichte, so fluide sie nämlich ist, jenseits davon überall auf der Welt nicht dennoch ein viel gefächerteres Geschlechterbild etabliert hat. Das wussten auch schon die Babylonier, die ein drittes Geschlecht kannten und in ihrem Epos vermittelten. Dort gab es in der Mythologie Mann und Frau, aber die Göttin ordnete an, ein drittes Geschlecht zu erschaffen. Im indopakistanischen Raum gibt es die Hijras, in Samoa die Fa’afafine und in der traditionellen Sphäre der südwestlichen Tai die Kathoey. Die amerikanischen Ureinwohner kennen ein „Two-Spirit-People“-Prinzip. 3 Anspielungen auf ein drittes Geschlecht findet man auch schon in alten Hindu-Texten, was also zeigt, dass sich eine solche Vorstellung in Babylonien und im indopakistanischen Raum sehr früh ausgebildet hat. In Samoa entstand das dritte Geschlecht durch einen Frauenmangel, indem man Männer als Frauen aufzog und sie so behandelte. Dies zeigt einmal mehr, dass das Geschlecht eine reine Erziehungssache ist. Die Geschichte ist voll von Beispielen in denen nicht Intersexuelle, sondern eindeutig männliche oder weibliche Menschen, zu einem dritten Geschlecht anerzogen wurden, welches sich dann auch als völlig normal etablierte 4. All dies zeigt, wie willkürlich jedwede Geschlechterzuordnung eigentlich ist, und dass es sich nur um eine Konstruktion im Geiste handelt, die Norm also nur im Geiste der Menschen gemacht ist. Deswegen bin ich zuversichtlich, dass sich eine selbstverständliche Toleranz für Intersexuelle in Deutschland etablieren wird, wenn die nächsten Generationen im Bewusstsein einer Geschlechtervielfalt erzogen werden. Auch wissen die wenigsten, wie Intersexuelle überhaupt aussehen, also das es sich hier um ein primäres Geschlechtsmerkmal handelt, und eben nicht um eine durch Genderwahn etablierte Scheinkategorie.

Auch aus dem biblischen Dilemma hat man sich zu befreien versucht. So hat schon Kalonymus ben Kalonymus im Mittelalter neben Cisgender-Identitäten auch Transgenderidentitäten beschrieben. Dabei legte Kalonymus in seinem Werk „Der Prüfstein“ einen wichtigen Grundstein für das darauffolgende jüdische Geschlechterverständnis. Es stimmt, dass er die Binarität nicht auflöst, denn es bleibt bei „männlich“ und „weiblich“, aber er lässt Schattierungen zu. Während vorher hauptsächlich Männer mit männlicher Seele und Frauen mit weiblicher Seele ganz selbstverständlich existierten, benennt er die beiden Typen und ergänzt sie um Männer mit weiblicher Seele und Frauen mit männlicher Seele. Auch wenn sich die Seelen nur „verrannt“ haben, lassen sich mit dieser Interpretation ganz neue Spielzüge durchspielen. In den darauffolgenden Jahrhunderten wurde dann diskutiert, wie diese „Abnormalität“ nur möglich sei, sodass sich auf Dauer eine neue Norm etablierte, indem man also ungültige Abweichungen anerkannte und tolerierte, sodass es mit der Zeit keine Abweichungen mehr waren. So hat zum Beispiel Josef Kaaro in der Frührenaissance mit der Seelenwanderungslehre weiter experimentiert, indem er nach der Ursache suchte, warum männliche Seelen in den „falschen“ Körper rennen. Er selbst zog wieder karmische Konsequenzen. Das dürfte aber eher der Zeit geschuldet sein, in der er lebte. Und auch wenn die frühen jüdischen Texte scheinbar rein binär waren, ganz wie in den ersten Genesiskapiteln nahegelegt wird, so hat auch das Judentum Hinweise auf weitere Geschlechter, die sich ab circa dem 1. Jahrhundert nach Christus bis ins 16. Jahrhundert fest etablierten. Insgesamt gibt es 149 Verweise in der Mischna und im Talmud und 350 Verweise in der Midrasch (Exegese) und den jüdischen Gesetzen, in denen auf androgyne Menschen verwiesen wird. 5 Auch kennen diese Texte Intersexuelle (Tumtum) und Menschen, die (teils) auf natürliche Weise im binären System das Geschlecht wechseln (Aylonit/ Saris). 6

Aber ich verweise hier gerne nochmal auf meinen Artikel „Über die Gleichberechtigung“. Für mich spielt es keine Rolle, wie viele Geschlechter es gibt, denn Geschlecht ist stets konstruiert. Mit anderen Worten: Es bedarf überhaupt nicht einer Geschlechterzuordnung. Der Mensch ist schlichtweg Mensch! Deswegen ist ja die Gleichgewichtung aus meiner Sicht besser als jede Gleichberechtigung – der Mensch ist immer gleich viel wert, egal wer er ist! Er hat nicht nur das Recht gleich behandelt zu werden, sondern die Gleichbehandlung ergibt sich von selbst, da sie intrinsisch gut ist und keinen normativen Vorstellungen mehr unterliegt (auch wenn die Etablierung des Bewusstseins dessen ein normativer Prozess ist). Ich denke, dass wir noch einen weiten Weg vor uns haben. Denn um die Gleichgewichtung effektiv zu etablieren, muss man sich dem konstruktivistischem Weltbild bewusst werden: Rollen und Erwartungen – all das ist nur konstruiert, genauso wie das Geschlecht selbst. Stattdessen appelliere ich im Umgang mit Menschen an die Vernunftherrschaft – man soll in einer Freundschaft, Beziehung, etc. – also im kleinen sozialen Rahmen – dem Vertrauen, der in der konkreten Situation die beste Kompetenz besitzt. Je größer die Einheiten werden, desto komplexer werden die Sachverhalte und eine Vernunftherrschaft kann nur noch durch die Deliberation aller aufrechterhalten werden (vgl. Habermas‘ deliberative Demokratie/ Schmitz‘ Neuer Konstruktivistischer Kommunismus). Abschließend möchte ich anmerken, dass die feste Einstampfung in Geschlechter sicherlich auch dessen geschuldigt ist, dass der Mensch gerne versucht, alles in Ordnung und Gesetze zu fassen. Dabei hat der Mensch erkannt, dass die Natur eine göttliche Ordnung darstellt, aber das bedeutet nicht, dass er diese Ordnung auch wirklich versteht. Er schafft sich so seine eigene Ordnung, die an der göttlichen Ordnung vorbei geht, sich wohl aber an ihr orientiert und ist stolz darauf, etwas erkannt zu haben ohne zu erkennen, dass er eigentlich nichts erkannt hat.

Quellennachweise:

[1] ____: Comparing Soul Trees and Trees of Life. Japanese Mythology, 2014. https://japanesemythology.wordpress.com/2014/07/26/comparing-soul-trees-and-trees-of-life/, aufgerufen am 21. Mai 2019.

[2] siehe hierzu auch: Li Jingfeng: Das Epos der Zhuang-Nationalität in China – Genese, Überlieferung und Religion. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, 2012.

[3] Fabian Goldmann: Drittes Geschlecht – Mann und Frau waren nie die Einzigen. Zeit Online, 1. Januar 2019. https://www.zeit.de/kultur/2018-12/drittes-geschlecht-rechtliche-anerkennung-mann-frau-vielfalt-akzeptanz, aufgerufen am 2. Januar 2019.

[4] ebda.

[5] ____: More Than Just Male and Female: The Six Genders in Classical Judaism. Sojourn Blog, 1. Juni 2015. http://www.sojourngsd.org/blog/sixgenders, aufgerufen am 21. Mai 2019.

[6] ebda.

Veröffentlicht am 21. Mai 2019. Der hier veröffentlichte Text enthält einige Änderungen und Ergänzungen.

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