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Heraklit von Ephesos: Gnomische Spruchweisheiten als Stilmittel

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Heraklit von Ephesos lebte um etwa 520-460 v.Chr. in Ephesos, welches damals im südwestlichen Kleinasien lag und zu Ionien gehörte. Geschichtlich ist über ihn wenig bekannt, wohl sind aber 125 Sprüche erhalten, die als echt gelten. Dies sind in der Gesamtheit mehr als von den „Sieben Weisen“ zusammen. Sein Leben und Anekdoten über ihn sind in Diogenes Laërtius im neunten Buch zu finden. Zudem sind seine Aphorismen, von denen wir heute nicht wissen, ob sie mal Teil ganzer Werke waren oder von Anfang an als Gnomik gedacht waren, im Diels/Kranz gesammelt. Im Laufe der Zeit erhielt er den Beinamen „Der Dunkle“, da seine Sprüche oft sehr prägnant und dadurch nicht direkt greifbar, somit mysteriös und verborgen, sind. Die Abstraktheit ist aber dem Umstand geschuldet, dass uns die Sprüche des Heraklit nur aus anderen Werken bekannt sind. In welchem Kontext die Aussprüche einst standen ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, sodass das heutige Heraklitverständnis zwangsläufig mit einer Entfremdung des historischen (uns nicht wirklich bekannten) Heraklit einhergeht. Dennoch zeugen die erhaltenen Fragmente eine Tiefgründigkeit und sind sowohl rätselhaft als auch paradox. Aus diesem Grund gibt es nicht die eine Lesart, sodass Heraklit in viele Richtungen interpretiert werden kann, die allesamt zulässig sind. Einige Sprüche bestehen dabei nur aus wenigen Worten, wie z.B. sein πάντα ῥεῖ. Die breite Auslegungsmöglichkeit hat Heraklit dabei besonders bei den Metaphysikern bekannt gemacht. Platon nahm die Flussmetapher in seinen Dialog Kratylos auf. Explizit geht er auf Heraklit jedoch auf bemerkenswerte Weise im Theaitetos ein, indem es um Wahrheit und Wissen geht. Über die Frage der Wahrheit der Heraklit’schen Sprüche lässt Platon durch Sokrates fordern: „Wir müssen also näher darauf zugehen […] und dieses schwebende und bewegliche Dasein noch einmal betrachtend daran klopfen, ob es ganz klingt oder zerbrochen.“ (Platon, Theaitetos, 179 d). Die Sprüche müssen also auf ihren Wahrheitsgehalt genau untersucht werden, wobei Sokrates’ Gesprächspartner Theodoros einwendet, dass „wenn du einen etwas fragst [gemeint sind die Einwohner von Ephesos], so ziehn sie wie aus ihrem Köcher rätselhafte kleine Sprüchlein hervor und schießen diese ab; und willst du denn darüber wieder eine Erklärung wie es gemeint gewesen, so wirst du von einem andern ähnlichen getroffen von ganz neuer Wortverfertigung“ (Platon, Theaitetos, 180 a). Die Ephesier weichen Fragen also gerne aus, und benutzen Heraklits Sprüche zur Rechtfertigung in allen möglichen Situationen, was ein Gespräch mit ihnen erschwert. Problematisch wird diese Beschreibung jedoch insofern, dass sie nicht historisch verstanden werden kann, da zu diesem Zeitpunkt schon einige Zeit seit Heraklits Tod vergangen war. Daher lassen sich zwei Schlüsse folgern. Entweder war Heraklits Werk schon zu Platons Zeiten nur noch fragmentarisch erhalten bzw. wurde aus dem Kontext herausgelöst aphoristisch überliefert. Oder zweitens, die Gnomik liegt in der ionischen Philosophie, sodass die ionischen Spruchweisheiten ein bewusstes Stilmittel waren.

Schaut man auf die Lehrinhalte des Heraklit, so scheinen die Sprüche nicht arbiträr oder lapidar daherzukommen. Vielmehr lässt sich ein philosophisches System ergründen. Wie alle Vorsokratiker ging es Heraklit um die Ursache der Welt (ἀρχή). Daher lässt er sich zu den Naturphilosophen (φυσικοί) zählen. Er nahm dabei das Feuer als Grundelement an, welches er mit dem λόγος gleichsetzte (DK 22 B 30 & DK 22 B 31). Gerade der λόγος spielt bei Heraklit eine zentrale Rolle, da nicht jeder den λόγος als solchen erkennt und somit nicht zur tieferen Einsicht zu gelangen scheint. Diese Erkenntnis zeigt sich durch Gegensätze und Einheit (Fleischer, 2001: 14). So scheint Heraklit eine Dualismenlehre entwickelt zu haben. Parallel würden ähnliche Strömungen in Ostasien auftauchen, was aber eher Zufall sein mag. Denn überall auf der Welt haben sich Philosophen zu diesem Zeitpunkt auf die Suche einer ἀρχή gemacht. Die Annahme von Gegensätzen lässt sich aus der reinen Empirik folgern: so kann Wasser lebensspendend und gleichzeitig tödlich sein. Dass eine Sache mehrere Zwecke und Ursachen mit sich bringt, hat auch schon Heraklit beobachtet (Fleischer, 2001: 15). Heraklit vertritt dabei die radikale Proklamation des Werdens und Vergehens allen Seins, welches er in seinen Gegensätzen ausdrückt, wobei die Gegensätze für Heraklit eine höhere Einheit ausmachen, sodass zwei Gegensätze im Grunde genommen ein höheres Ganzes bilden (Barbarić, : 79 f.; s. auch den Begriff der „Identität“ bei Fleischer, 2001: 14).

Eines von Heraklits berühmtesten Beispielen, welches die Abwechslung von verschiedenen Gegensätzen zu einer höheren Ebene kennzeichnet, lautet: „Nicht auf mich, sondern auf den Logos hörend, ist es weise zuzugestehen, daß alles eins ist“ (DK 22 B 50). Dabei wird der Spruch oft mit „Alles ist eins“ verkürzt. Interessant ist hierbei der Begriff λόγος, der von einigen Übersetzern mit Wort oder Sinn übersetzt wird, aber neben Wort auch eigentlich den Verstand bezeichnet und dadurch gerade durch seine Nicht-Übersetzung sich in das Heraklit’sche Gedankengut einfädelt, da es sich hier eindeutig um einen Terminus technicus handelt, welcher seine Philosophie auszeichnet. [*] In gleicher Weise kann man auch den Spruch „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ (frei nach DK 22 B 53) sehen, wobei Krieg im Orginaltext durch das Wort πόλεμος repräsentiert wird, was auch Streit bedeuten kann. Dabei kann durch den Krieg eine neue Ordnung geschaffen werden, da das Alte zerstört und an seine Stelle etwas Neues und Fortschrittlicheres gestellt wird. Dabei ist aber Krieg auch zerstörerisch und elendig. So kann zwar etwas Neues nach einem Krieg entstehen, aber ich denke, dass der negative Effekt des Krieges doch zu stark überwiegt. Anders dagegen sieht es aus, wenn man das Wort mit Streit oder Disput ersetzt. Dabei kann es sich hierbei auch um eine Auseinandersetzung handeln, die harsch ausgetragen wird. Denn gerade Streitereien und Reibereien sorgen dafür, dass der Status quo geändert wird, vor allem, wenn er unkonventionelle Mittel verwendet und dadurch die öffentliche Aufmerksamkeit und Meinung beeinflussen kann. Dies kann zum Beispiel durch eine konstruktive Provokation entstehen. Auf diese Weise kann eine lebhafte Diskussion angefacht werden, die zu einer Weiterentwicklung, sozusagen einer Synthese der Spannungsverhältnisse führt und damit eine neue höhere Ebene, gar Einheit, bildet. Der eigentliche Spruch ist jedoch länger und ausführlicher: „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen macht er zu Göttern, die andern zu Menschen, die einen zu Sklaven, die andern zu Freien“ (DK 22 B 53). Im ganzen Spruch wird wieder der Gegensatz deutlich, wobei die Gewinner des Krieges gottgleich verehrt werden, während die Verlierer zu Sklaven werden. Dies ist vor allem der Fall, wenn man nicht Streit sondern Krieg im klassischen Sinne als Lesart vorzieht. Denn Krieg steht für Machtgeilheit, Neid und Habgier, sodass die Sieger sich im Ruhme baden und den Unterworfenen gar jeglichen Sadismus vordiktieren können, wie es die Kriege in frühsten Zeiten gezeigt haben, in denen die Verlierer wortwörtlich versklavt, körperlich ausgebeutet und erniedrigt wurden.

Sieht man dagegen „Streit“ als passendere Übersetzung für πόλεμος, kann man die Quellen derselben bei Kant finden. Kant nennt 1784 nämlich drei Motive (Ehrsucht, Habsucht und Herrschsucht), die alle negativ besetzt sind. Ich finde jedoch, dass deren Drang eine Gegenreaktion hervorruft und somit im Hegel’schen Sinne sich These und Antithese gegenüber stehen, die in einer Synthese durchaus einen Fortschritt bewirken. Auffällig ist jedoch, dass Kant den Streit selbst nicht als solchen benennt, ihn wohl aber als „Antagonismus“ (Kant, 1784, 4. Satz) erkennt. Kant war gegen den klassischen Krieg und für die Bewahrung des Friedens, was sich in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) deutlich zeigt. Mit diesem vertragsähnlichen Werk hat er sich der Völkerverständigung verdient gemacht und zur Ideenlehre im Aufbau internationaler Organisationen, wie z.B. dem Völkerbund, beigetragen. Man kann Heraklits Gegensätzlichkeiten jedoch vor allem als metaphysisches Weltprinzip ansehen, sodass diese zwei extremen Gegenspieler, ähnlich wie yin und yang wirken und sich rein in der Natur bzw. durch die Natur offenbaren. Heraklit wird heute oft aus einer Heidegger’schen Perspektive gesehen und in eine phänomenologische Seinsphilosophie interpretiert. Dabei besteht jedoch allzu sehr die Gefahr, dass Heraklit in ein zu modernes Licht gerückt wird, welches seiner Zeit nicht gerecht wird.

Anmerkung:

[*] Wie schwer es auch in anderen, aber analogen, Kontexten erscheint, den λόγος adäquat zu übersetzen zeigte Goethe in seinem Faust am Beispiel des ersten Satzes des Johannesevangeliums. Siehe hierzu die Primärquelle in Dietrich Gondosch, Martha Helmle, Gregor Paul: Lehrbuch der Philosophie, Teil 1: Begriffe, Methoden, Disziplinen. Frankfurt am Main 1980, S. 106.

Literatur:

Damir Barbarić: Wiederholungen: Philosophiegeschichtliche Studien. Tübingen 2015.

Diels/ Kranz (DK): Die Fragmente der Vorsokratiker. Hildesheim 1951.

Margot Fleischer: Anfänge europäischen Philosophierens: Heraklit, Parmenides, Platons Timaios. Würzburg 2001.

Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: Berlinische Monatsschrift, November 1784, S. 385-411 (online abrufbar: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-3506/1, aufgerufen am 14.11.2016)

Platon: Theaitetos. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher. In: Platons Werke VI. Bearbeitet von Peter Staudacher. Darmstadt 1970.

Veröffentlicht am 10. Juli 2019

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