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Karsten Wanders ging seiner Mutter aus dem Weg, so gut er konnte. Er wollte nicht ständig hören: „Tu dies. Tu das... Sieh dich an, wie du aussiehst... Wie kann man sich nur so gehenlassen? Warum suchst du dir nicht einen anderen Job?“ Er wollte das alles nicht hören, wollte seine Ruhe haben und seinen Stoff.

Das Geld, das er aus Mutters Schatulle genommen hatte, fehlte noch immer. Er konnte es nicht zurückgeben, er verdiente ja nichts mehr.

Barbara Wanders sah ihn manchmal tagelang nicht. Sie klagte Harald Häussler ihr Leid, war dankbar, dass er ihr zuhörte, kam mit ihren Problemen immer weniger alleine klar und war froh, mit jemandem, der sich ehrlich dafür interessierte, reden zu können. Sie merkte immer deutlicher, wie sehr sie eine Schulter brauchte, an die sie sich lehnen konnte.

Es war Abend. Barbara Wanders befand sich in Haralds Wohnung. Er hatte eine Riesenpizza kommen lassen, und sie hatten sie sich geteilt.

„Wir haben einander kaum noch was zu sagen“, seufzte Barbara Wanders.

„Ich werde mit Karsten reden“, versprach Harald Häussler.

„Er wird dir noch weniger zuhören als mir.“

„Vielleicht treffe ich den richtigen Ton.“

Barbara schüttelte den Kopf. „Du bist nicht sein Vater. Du bist niemand für ihn. Er wird von dir nichts annehmen. Wenn du anfängst zu reden, macht er die Schotten dicht und denkt an etwas anderes.“

„Manchmal kommt bei solchen ,Von Mann zu Mann Gesprächen' aber doch etwas heraus“, meinte Barbaras Kollege.

Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wollte sie ein hässliches Bild verscheuchen. „Er lässt sich treiben, lässt sich gehen. Alles ist ihm egal. Er will nur seine Ruhe haben und nichts von Arbeit wissen.“

„Wenn ich Glück habe, kann ich ihn neu motivieren und aus seiner Lethargie reißen.“

„Das wäre schön, aber ich glaube nicht, dass du das schaffst.“

Harald nahm ihre Hand und sah ihr tief in die veilchenblauen Augen. „Tust du mir einen Gefallen?“

„Welchen?“

„Fang endlich an, ein wenig positiver zu denken“, bat der Mann. „Du hast lange genug schwarz gesehen, warst lange genug eingesponnen in diesen düsteren Kokon aus Trübsal und Tristesse. Es ist Zeit, dass du dich daraus befreist, Barbara. Fang wieder an zu leben.“ Er streichelte sanft ihre Wange. „Du hörst es bestimmt nicht gern, aber ich muss es dir trotzdem sagen: Du bist für deinen Jungen kein Vorbild. Du lebst nicht. Du vegetierst bloß dahin. Öffne endlich wieder die Augen für das Schöne, hab keine Hemmungen mehr, das.Leben zu genießen. Du brauchst dich dessen nicht zu schämen. Das ist kein Verrat an deinem toten Mann. Es steht dir zu. Es ist das Recht der Lebenden zu leben.“

Barbara sah ihn an, und ein Gefühl, das sie sich schon lange nicht mehr erlaubt hatte, strömte in ihr Herz. „Ach, Harald... Du lieber, treuer, guter, geduldiger Freund“, flüsterte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Er zog sie zu sich, und sie ließ es geschehen. Sie sank in seine Arme, und es tat unbeschreiblich gut, ihn so nah zu spüren. Barbara war des Kämpfens müde.

Sie konnte, wollte nicht mehr. Immerzu hatte sie sich nach dem tragischen Unfall ihres Mannes bemüht, stark zu sein, den Unbilden den Schicksals zu trotzen.

Es war ihr anfangs mehr schlecht als recht gelungen. Erst nachdem sie ihr Alkoholproblem gemeistert hatte, war sie mit ihrem Leben etwas besser zurande gekommen. Aber gelebt hatte sie seit Jens Wanders’ Tod nicht mehr, und geliebt erst recht nicht. Sie wusste schon gar nicht mehr, wie schön es war, mit einem Mann zusammen zu sein. Eine wunderbare Wärme ging von Harald aus. Barbara fühlte sich in seinen Armen sicher und geborgen. Ihr Herz klopfte ungestüm gegen die Rippen, und sie sehnte sich nach einem zärtlichen Kuss von ihm.

Es war falsch gewesen, sich so lange zu sperren, das begriff Barbara in diesem Augenblick. Sie sah ein, dass sie allein nicht stark genug war, den Stürmen des Lebens zu trotzen, dass sie einen Mann an ihrer Seite brauchte, der ihr Halt gab und auf den sie sich blind verlassen konnte, wenn es turbulent wurde.

Als Haralds Lippen ihren Mund berührten, zuckte sie wie elektrisiert zusammen. Aber sie löste sich nicht von ihm, sondern schloss die Augen und gab sich ganz den himmlischen Gefühlen hin, von denen sie durchflutet wurde.

Es ist das Recht der Lebenden, zu leben und zu lieben, dachte nun auch sie, während die Wogen der Leidenschaft über ihr zusammenschlugen und sie für eine kurze Zeitspanne all ihre Sorgen vergessen ließen.

Der Arztroman Lese-Koffer Mai 2021: 16 Arztromane

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