Читать книгу Ferien Sommer Bibliothek Juni 2021: Alfred Bekker präsentiert 19 Romane und Kurzgeschichten großer Autoren - A. F. Morland - Страница 35

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„Ach, was ist das denn für eine Unordnung?“, sagt Oma, als sie vom Tisch aufsteht und an ihrer Kommode vorbeikommt. Darauf verteilt liegen lauter Schachteln und Dosen, Fotos, Postkarten und einige Notizbücher verstreut. „Wart ihr das?“

„Nein, das war schon so, als wir gekommen sind“, erkläre ich.

„Hmm“, brummt unsere Oma und schaut mich und Sven streng an. „Na, dann war es vielleicht eine vom Personal. Wenn sie klauen wollten, da ist nix. Das hab ich gut versteckt. Muss man aufpassen, die haben hier einige Polen arbeiten.“

Sven will etwas sagen, doch er schweigt, als sich unsere Blicke treffen. Die Diskussion müssen wir jetzt nicht führen, denke ich.

Für sie sind „die Polen“ immer eine Gruppe, die man kritisch beäugen muss, so wie früher auf dem Rittergut. Ein Teil von ihr hat, glaube ich, auch nie verwunden, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg von ihrem Grund und Boden vertrieben wurden, mit nicht mehr Besitz als dem, was sie tragen konnten.

Ich glaube, für eine junge Frau ist das auch etwas, das sich einbrennt. Das Leid des Zweiten Weltkriegs ist dann für sie nur abstrakt gewesen, aber die Enteignung wird persönlich genommen.

„Na ja“, brummt sie, während sie die Fotos wieder wegräumt. „Ah, schaut mal.“

Sie bringt eine Dose Fotos mit und setzt sich wieder zu uns. „Da haben wir früher gelebt“, erklärt sie. „Ich war ja noch eine junge Frau, fast ein Mädchen. Damals war man ja erst viel später volljährig“, erklärt sie und reicht uns Fotos. „Das hier“, sagt sie dann und reicht andere Fotos, „das ist bei meiner Mutter. Ihre Eltern hatten ein großes Stadthaus in Reval. Da kam sie her, sie war eine Deutschbaltin. Wir haben damals einige Wertsachen dort versteckt. Auf dem Gut in Pommern waren die nicht sicher. Reval hatte aber einen wichtigen Hafen und mein Vater wurde dann ja doch noch zum Kriegsdienst eingezogen. Er war Offizier im Zweiten Weltkrieg, aber weil er gegen die Nazis war, hat man ihn erst spät einberufen.“ Sie seufzt und holt weitere Fotos aus der Dose.

„Er mochte Hitler nicht. Keine ehrbare Familie ... dem Kaiser war er in den Ersten Weltkrieg gefolgt, aber einem österreichischen Taugenichts, dem konnte er nichts abgewinnen.“

Die Geschichte kenne ich ein wenig, auch von meinem Vater, der ja noch sehr viel mehr mit meiner Oma und meinem Opa erlebt hat. Meine Urgroßeltern, die Eltern meiner Oma, waren Monarchisten, die mehr ein Problem mit der Herkunft der Nazi-Elite hatten als mit der faschistischen Ideologie. Aber bei Staufenberg wird ja auch oft vergessen, dass er mitnichten eine parlamentarische Demokratie errichten wollte durch den Sturz Hitlers. Meistens gibt es wenig Schwarz und Weiß, aber viel Grau.

„Hier, das ist das alte Klavier“, sagt sie. „Da ist auch das Wappen der Sabiles drauf, unser Schiff. Wir waren immerhin immer im Handel tätig.“ Sabile ist ihr Mädchenname, das Rittergut hieß ebenfalls so.

„Ist das das Klavier mit dem Gold?“, frage ich. Sie schaut mich erst irritiert an, dann nickt sie.

„Ja, ja. Aber wir haben es dagelassen“, erinnert sie sich diesmal. „Wir konnten nur ein wenig mitnehmen, das wir im Koffer eingenäht hatten. Goldbesitz war unter den Nazis nicht gewollt, aber mein vater hat mühevoll alles in einem doppelten Boden versteckt, im Klavier. Er hat immer gewusst, dass der Krieg nicht gut enden würde. Er war so traurig, als sie ihn eingezogen hatten.“ Sie sieht nachdenklich auf die Fotos. „Er hatte dieses Zittern, bei Gewitter. Kriegszittern nannten wir das immer. Wenn es donnerte, dann ging er manchmal in den Keller, wo man es nicht so hörte. Mama sagte immer, dass er dann zu sehr an den Ersten Weltkrieg denken musste. Sie ist dann oft zu ihm in den Keller gegangen. Ich hab mich mal runtergeschlichen“, sagt sie in verschwörerischem Tonfall, „und gesehen, wie sie ihn im Arm gehalten hat. Er hat geweint. Als er gesehen hat, dass ich da war, hat er mich ganz fürchterlich geschlagen.“ Sie schüttelt den Kopf. „Er hatte es nicht leicht mit uns.“

Dann sieht sie auf einmal zur Uhr. „Sollte es nicht gleich Essen geben? Ich muss etwas essen, damit ich eine Stunde später meine Pillen nehmen kann. Die eine für das Herz und die andere ... für die Knochen, oder?“

„Die hast du genommen, als wir gekommen sind“, beruhigt sie Sven.

Sie mustert ihn skeptisch. „Sicher?“

„Ganz sicher, Oma. Die Pflegerin war auch dabei. Sollen wir sie holen, dann kannst du sie fragen.“

„Ach was, die denkt, ich bin bescheuert. Nein. Nur dass ich die Pillen nicht vergesse“, sagt sie entschieden. „Doktor Korthuus hat gesagt, die sind wichtig.“ Das war ihr alter Hausarzt. Der ist aber schon seit fast sieben Jahren nicht mehr ihr Arzt. Das müssen wir ihr aber jetzt nicht nochmal erklären.

Sie sieht nachdenklich aus dem Fenster.

„Was wohl aus dem Haus geworden ist?“, fragt sie nachdenklich.

„Meinst du dein und Opas Haus?“, erkundige ich mich. Sie schüttelt den Kopf.

„Nein, das hab ich verkauft. Das weiß ich. Für mich war das allein zu groß. Aber das Haus in Reval.“

„Das heißt heute Tallinn“, erinnert sie Sven, „nicht mehr Reval.“

„Hab mich nie dran gewöhnen können“, erwidert sie. „Mein Vater hat das Haus geliebt. Wir haben da seit neun Generationen gelebt. Aber am Ende des Krieges mussten wir ganz schnell weg, bevor die Russen kamen. Ich war ja noch klein, aber das war furchtbar“, sagt sie und ihr Blick scheint in die Vergangenheit zu reichen, als sie an mir vorbeisieht.

Mein Opa hat immer gesagt, dass sie es wegen dieser Fluchterfahrung in früher Kindheit immer gehasst hat, weite Reisen zu unternehmen. Er musste mit ihr den Urlaub immer im Voraus planen.

„Sollen wir mal schauen, ob wir herausfinden, wer da nun wohnt?“, erkundigt sich Sven.

„Ach nein. Das ist schon so lange her. Da lebt jetzt sicher eine andere Familie. So ist das im Leben. Man ist eigentlich immer nur zu Besuch.“

Wir unterhalten uns noch eine Weile weiter, bis sie erschöpft wirkt.

Wir helfen ihr, die Fotos wieder wegzuräumen und lassen sie allein. Sie möchte sich etwas hinlegen. Von allein würde sie uns vermutlich nie rauswerfen, auch wenn sie erschöpft ist, also behaupten wir, dass wir noch Termine haben.

Auf dem Weg die Treppen des Pflegeheims herunter unterhalten Sven und ich uns noch. Das Heim ist in Osnabrück, ich bin mit dem Zug von Münster aus hier, er mit dem Auto direkt von seiner Arbeit aus.

„Man hatte ja auch Geduld mit uns“, sagt Sven.

„Hö?“, brumme ich, weil er den Satz ganz unvermittelt sagt. „Was meinst du? Du springst auch schon in deinen Gedanken.“

„’tschuldige. Also, na, uns musste man auch mal beibringen, mit welchem Ende man den Löffel in welches Loch im Gesicht führt.“

„Dir vielleicht, ich war ein Naturtalent“, erwidere ich. Sven lacht.

„Ich werd Mama danach mal fragen.“

„Eeehm, besser nicht“, erwidere ich und klopfe ihm auf die Schulter. „Ich nehm den Bus zum Bahnhof. Bis die Tage, ja?“

„Wir schreiben“, nickt er.

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