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Heute ist ein voller Tag für mich und zudem ist es diesen Sommer echt warm. Ich glaube, es ist vielleicht zu warm gewesen in den letzten Tagen. Die Leute werden noch bekloppt.

„Wie oft reden Sie mit Ihrem verstorbenen Mann noch?“, frage ich und klappe mein Notizbuch auf. Zwar läuft das Aufnahmegerät mit, doch ich mache mir zusätzlich gern Bemerkungen.

„Nicht so oft“, setzt sie an und trinkt aus ihrer Kaffeetasse mit dem ACDC-Aufdruck. Dann hält sie inne und legt den Kopf etwas schief, fixiert etwas in der linken Ecke über mir und wird nachdenklich.

„Nein, inzwischen eigentlich jeden Tag“, sagt sie dann langsam. Es ist ihr unangenehm, das sehe ich.

Ich versuche, eine offene Atmosphäre zu wahren. Ich bin Kulturanthropologe, kein Richter. Mich interessiert ihr Verhalten. Das „warum“ beschäftigt mich, nicht ob es richtig ist.

„Also, ich fasse das nochmal für mich zusammen“, sage ich und sie nickt dankbar, dass ich die Stille unterbreche. „Ihr Mann starb vor drei Jahren. Seit nun sieben Monaten sind Sie Kundin von REMEMBER, richtig?“

„Nein, seit elf Monaten bin ich das. Meine Mutter hatte damals bei REMEMBER für meine Oma bereits einen Account angelegt und ich kannte das Prinzip also. Wir schreiben uns immer mal wieder“, sagt sie fröhlich.

Ich nicke, mehr zu mir selbst als zu ihr, und mache mir eine Notiz.

„Fehlt Ihnen nicht die Intimität mit Josh?“, frage ich direkt heraus. Ihre Ohren werden rot, was ich bei einer erwachsenen Frau bei dieser Frage irgendwie unangemessen finde. Aber das muss man hinnehmen, darum stelle ich die Frage auch direkt. Mein Leitfadeninterview wurde sowieso schon durcheinandergebracht, weil sie in den Themen gesprungen ist. Aber der Themenkomplex blieb bisher unbeantwortet.

„Darüber möchte ich nachdenken“, sagt sie kurz.

Ich nicke. „Natürlich. Wenn Ihnen das Thema zu unangenehm ist, können wir es auch aussparen.“

„Wie sehen das denn Ihre anderen Interviewpartner?“, fragt sie. Ich halte inne. Das ist jetzt dünnes Eis, das ist mir klar. Ich könnte ihr sagen, was andere Interviewpartner gesagt haben, und damit womöglich ihre Antwort vorformen. Im Gegensatz zu Soziologen, die meistens viele Fragen stellen, um möglichst quantitative Daten zu bekommen, arbeite ich qualitativ. Das heißt, ich interviewe wenige Leute sehr umfassend, gebe ihnen Raum, über Dinge zu reden und stelle manchmal eine Frage nicht direkt, um zu sehen, ob und vor allem wie gewisse Themen angesprochen werden.

„Nun, das Thema habe ich bisher in jedem Interview besprochen“, sage ich in der Hoffnung, dass sie nicht nachbohrt, sondern als Botschaft mitnimmt: Auch andere haben darüber geredet.

Es scheint zu funktionieren.

„Er fehlt mir. Ich meine, nicht nur Josh ... auch der Sex. Das Kuscheln, das ... Umarmt werden, wenn man nach Hause kommt. Selbst wenn er mir einen Klaps auf den Hintern gab ...“, sagt sie nun.

Wieder mache ich mir eine Notiz. „Sie haben seit seinem Autounfall vor drei Jahren keine neue Beziehung begonnen?“, frage ich auf Verdacht.

Sie nickt. „Ja, nein ... da waren zwei Kerle, ich ... einer war ein One-Night-Stand, der andere ... das waren nur wenige Wochen. Ich weiß, dass Josh tot ist. Aber ... ich fühlte mich nicht gut. Sie waren nicht er, wissen Sie? Sie sind nicht so, wie er ist ...“, sagt sie.

Wieder eine Notiz von mir: Sie spricht in der Gegenwart von ihm.

Das Gespräch geht noch etwas weiter, bevor sie zu einem Termin muss und ich mich von ihr verabschiede.

Danach sitze ich im Café M vor meinem Laptop und höre über Kopfhörer das Interview. Ein Kaffee steht neben mir und wird kalt.

Linda Hövelmeyer, sie war meine vierte Interviewpartnerin. Ich habe noch einige vor mir, aber es zeichnet sich ein deutliches Muster ab. Es geht gewissermaßen um eine Beobachtung des Alltags der Menschen und mein Abschlussarbeitsthema ist, wie Menschen heute mit dem Tod umgehen. Seitdem vor zwei Jahren Firmen wie REMEMBER auf den Markt kamen, glaube ich, hat sich da was verändert.

Ich bekomme eine Kurznachricht, die mich in meinen Gedanken unterbricht: ein Foto von unserem Waschbecken. Ich weiß sofort, was Kathi will.

Zum Foto hat sie nur zwei Sätze geschrieben: „Ich bin gegen ein plüschiges Waschbecken, Max! Letztes Mal war freundlich, noch einmal, dann lasse ich demnächst Tampons rumliegen.“

Ich grinse, weil ich mir ihr wütendes Gesicht vorstelle, während ich den Text lese. Ich habe mir heute Morgen in der Eile zwar den Bart rasiert, den Rasierer aber nur schnell ins Waschbecken geleert. Leider habe ich vergessen, die Haarreste wegzumachen. Kathi ist da immer etwas empfindlich, was Sauberkeit angeht. Ich antworte mit: „Drohung verstanden, kommt nicht wieder vor. ‘Tschuldige!“

Ich weiß, dass sie mir nicht lange böse ist. Sonst kann man es kaum aushalten, in einer WG zu leben. Dann widme ich mich wieder meiner Arbeit. Ich ordne meine Notizen und beginne zu schreiben:

Die Firma REMEMBER bietet einen besonderen Dienst an. Ihr ist es keineswegs als erstes gelungen, maschinelles Lernen zu nutzen, um einen brauchbaren Chatbot zu erschaffen. Derartige Technologie existiert seit vielen Jahren, wenn auch so manche Servicefunktion eher leidlich durch einen Chatbot erledigt werden konnte. Hingegen begann die Firma REMEMBER mithilfe eines Mustererkennungs-Algorithmus aus den schriftlichen Hinterlassenschaften Verstorbener, den Chatbot zu füttern, sodass er den Duktus, Satzbau und Ausdruck des Verstorbenen annahm und somit die Illusion eines Gespräches mit dem Verstorben entstand. Firmengründer P. Jorgenson schuf die erste Version dieser Software nach dem Tod seiner Frau beim Amoklauf von Utoya und machte später ein erfolgreiches Unternehmen daraus.

Ich halte inne, trinke einen Schluck Kaffee und denke nach. Dann ergänze ich:

Eine wesentliche Voraussetzung für diese Art der Dienstleistung ist natürlich, dass durch ein Leben der Textproduktion über Social-Media-Seiten, Chatverläufe und das Erschaffen von eigenen Inhalten genügend Grundlage für den Chatbot geschaffen werden kann. Erst dadurch gibt es die Möglichkeit der Verwertung für REMEMBER.

Mein Handy klingelt und reißt mich aus meinen Gedanken.

Ich weiß nicht, ob ich es gut finde, dass Leute bei diesem Dienst all die Daten ihrer Verstorbenen abgeben, nur um dann mit einem Chatbot zu schreiben so wie mit dem Verstorbenen. Mein Handy klingelt erneut. Ich drücke die Erinnerung weg und klappe den Laptop zu. Ich muss weiter.

Es ist später Nachmittag und ich habe noch eine Verabredung. Darum schwinge ich mich auf mein Fahrrad und eile nach Hause.

Dort angekommen sehe ich, wie Isabella ins Bad huschen will. In der Tür stehend hält sie inne.

„Bin in fünf Minuten fertig“, sagt sie.

„Ich auch“, erwidere ich und eile in mein Zimmer.

Da lasse ich meinen Rucksack samt Laptop stehen und wechsle mein Hemd gegen ein Dropkick Murphys-T-Shirt.

Die Bostoner Band ist eine meiner Lieblingsbands und ich habe sie leider noch nie live gesehen, weil ihre wenigen Deutschlandkonzerte entweder zu weit weg stattfanden oder zu schnell ausverkauft waren.

Dieses Mal allerdings nicht. Dieses Jahr gibt es auf dem Münsteraner Schlossplatz mal nicht David Garrett, sondern Dropkick Murphys, und ich bin dabei. Isabella hat von mir vor einigen Wochen Musik bekommen, als sie sich dafür interessierte, was Kathi und ich so hören und gleich zugesagt, mich zu begleiten.

Als ich in den Flur komme, steht Isabella schon da und bindet sich gerade die Turnschuhe. Sie hat einen kurzen Rock an und ein T-Shirt der kubanischen Band Orishas. Die habe ich wiederum durch sie kennengelernt, auch wenn mein Schulspanisch sich schwer damit tut, spanischen Rap zu hören und dann noch zu verstehen.

Ihre langen glatten Beine nehmen mich kurz in ihren Bann. Isabella reißt mich aber aus meinen Gedanken, indem sie mich an die Uhrzeit erinnert.

Wir beeilen uns, zum Konzert zu kommen.

Ein Großteil des Schlossplatzes ist abgesperrt. Wir haben diesmal die Fahrräder gleich zu Hause gelassen und fahren mit dem Bus zum Landgericht. Von da aus sind es nur noch wenige Dutzend Meter, bis wir an den Absperrungen sind.

Ein bulliger Kerl, dessen Kopf nahtlos in die Schultern überzugehen scheint, kontrolliert unsere Karten, bindet uns kleine Papierbändchen um das Handgelenk und schon sind wir drinnen.

„Willst du was trinken?“, frage ich Isabella. „Noch ist es nicht so voll.“

Ich deute auf die drei Bierwagen, die am Rand des Platzes verteilt sind und bisher kaum frequentiert werden. Da es warm ist, wird sich das sicher bald ändern.

„Gern“, sagt sie. Wir besorgen uns jeder eine große Cola und entscheiden uns für einen Stehplatz, der zwar mittig liegt, aber etwas weiter hinten.

„Das ist mir sonst zu laut“, erklärt Isabella.

Wir sind früh dran und ich lasse mir von ihr erzählen, wie ihr Seminar so läuft. Sie berichtet mir von ihrer schwierigen Professorin, als ihr etwas in den Sinn kommt. „Brauchst du noch Allgemeine Studien?“

„Wieso?“

„Weil ich im Wintersemester eine Vorlesung zur Bioethik mache, die ist freigegeben für Allgemeine Studien. Wenn du mit mir dahin willst“, sagt sie und schiebt schnell hinterher: „Es sind vielleicht Themen, die dich auch interessieren: Experten, die zu Abtreibung, Genmanipulation und so aus verschiedenen Blickwinkeln sprechen. Soll gut sein.“

„Wegen der Themen geh ich vielleicht hin“, sage ich und zwinkere ihr zu, als ich hinzufüge: „Vielleicht aber auch, damit wir uns noch öfter sehen.“

„Stimmt, man sieht sich gar nicht so oft, obwohl man zusammen wohnt“, sagt sie und zwinkert zurück.

Die Vorband betritt die Bühne und beendet damit erst mal jede weitere Kommunikation.

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