Читать книгу Ferien Sommer Bibliothek Juni 2021: Alfred Bekker präsentiert 19 Romane und Kurzgeschichten großer Autoren - A. F. Morland - Страница 37

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Als ich den Anruf um fünf Uhr morgens bekomme, bin ich groggy und nicht recht beisammen. Doch die Stimme meines Bruders reißt mich sofort aus der Müdigkeit. Wie nach einer kalten Dusche bin ich sofort wach.

„Mit Oma geht es zu Ende“, sagt die Stimme meines Bruders. „Mama hat versucht, dich zu erreichen, aber es nicht geschafft. Sie ist schon auf dem Weg zum Krankenhaus. Oma ist schwer gefallen und im Marienkrankenhaus. Ich hole dich mit dem Auto, okay? Bin in zehn Minuten da.“

Im Hintergrund höre ich das Auto. Seine Stimme klingt, als hätte er das Handy neben sich auf dem Beifahrersitz liegen und auf Freisprechen gestellt.

„So schlimm?“, frage ich.

„Ja. Zehn Minuten, ne?“

„Okay, bis gleich. Ich komme runter, dann musst du keinen Parkplatz suchen“, sage ich. „Ich lege auf, oder ist noch was?“

„Nein, mach, bis gleich.“

Ich ziehe mich schnell an. Ich werfe mir eine warme Jacke über und gehe hinunter zur Straße.

Da Sven noch nicht da ist, schreibe ich kurz Kathi und Isabella in die WG-Chat-Gruppe eine Nachricht, dass ich weg bin. Die haben ihre Handys über Nacht eh auf lautlos, aber dann werden sie morgens sehen, wo ich bin.

Dann hält Svens cremeweißer VW-Polo – na ja, inzwischen mit Grauschimmer, weil er lange nicht gereinigt wurde. Ich springe auf den Beifahrersitz und wir fahren los.

„Danke, dass du mich holst“, sage ich.

„Kein Ding“, erwidert er. „Mama ist bei ihr. Mit dem Zug wärst du eine Ewigkeit unterwegs, wenn der so früh schon fährt.“

„Was ist ihr passiert?“

„Sie ist nachts losgezogen und die Pflegerin, die Dienst hatte, war wohl auf’m Klo. Sie hat nicht mitbekommen, dass Oma weg ist, bis diese schon im Treppenhaus war und dann die Treppe runtergefallen ist. Da lag sie dann, ‘ne halbe Stunde. Konnte wohl nicht laut rufen. Ihr tat alles weh und sie hatte nur ein Nachthemd an. Im Treppenhaus ist es da ja immer arschkalt.“

Ich nicke.

„Jetzt ist sie im Krankenhaus?“

„Ja, in der Klinik. Sie hat Fieber und ihre Organe sehen nicht gut aus. Vielleicht ist sie deswegen nachts raus. Sie sagen, sie ist verwirrt. Vielleicht wird sie ja wieder“, fügt er hinzu und klingt hoffnungsvoll. Ich sage nichts dazu und nicke nur stumm.

Wir fahren auf der Autobahn nach Norden und kommen schließlich an der Klinik an.

Als wir das Zimmer betreten, zu dem man uns schickt, sitzt unsere Mutter auf einem Stuhl und weint. Das Fenster ist offen, ein kühler Wind weht herein. Oma liegt reglos da. Jemand hat ihr ein Handtuch unters Kinn gemacht, damit der Kiefer nicht herunterklappt.

Wir umarmen unsere Mutter. Eine ganze Weile weint sie stumm, bis sie erzählt, was passiert ist.

Wir sind nur etwa eine Viertelstunde zu spät gekommen, es ging sehr schnell. Oma ist kurz aufgewacht und habe ihr gesagt, dass alles gut werde. Dann sei sie einfach bewusstlos geworden.

Weder mein Bruder noch ich schaffen es groß, etwas zu sagen.

Das hier ist nicht der erste Tote, den wir sehen, aber es wird nicht leichter, im Gegenteil. Mit jedem wird es schwerer.

Wir sitzen zusammen mit unserer Oma, bis die Sonne vollkommen aufgegangen ist, und erzählen uns von früher: Erinnerungen, Momente, die uns im Gedächtnis geblieben sind.

Den Tod kann man nur besiegen, indem man das Leben feiert, denke ich.

Irgendwann kommt eine Krankenschwester und will Oma abholen. Erst gegen neun Uhr stimmen wir zu. Wir sind erschöpft.

Ich glaube, das härteste am Tod ist es, derjenige zu sein, der zurückbleibt. Stirbt man, ist es vorbei. Jenseits hin oder her, man ist fertig mit dieser Welt. Aber die, die man zurücklässt, die müssen damit zurechtkommen, mit all den losen Fäden, die unvollendet bleiben, an die nie wieder angeknüpft werden kann.

Wir begleiten unsere Mutter, als sie die Unterlagen unterschreibt, und fahren mit ihr noch ins Altersheim. Dort sammeln wir Omas Sachen ein, kündigen die Verträge und klären alles, während unsere Mutter beim Bestatter anruft und alles Weitere bespricht.

Ein paar Kisten, die wir erst einmal in Svens Auto laden, das ist alles, was von einem Leben übrig bleibt.

Das letzte Hemd hat wahrlich keine Taschen.

*

Sven und ich bleiben noch ein paar Tage bei unserer Mutter zu Besuch. Nach der Beerdigung hat man irgendwie ein besonderes Bedürfnis, die Nähe anderer Menschen zu spüren. Wenn jemand die Gemeinschaft für immer verlassen hat, bringt einen das oft näher zusammen.

Als ich dann einige Tage später am Abend in unsere WG in Münster zurückkomme, begrüßt mich Isabella.

„Mein aufrichtiges Beileid“, sagt sie und nimmt mich in den Arm. „Kathi ist auf einer Feier und kommt erst sehr spät wieder. Ich soll dich auch von ihr drücken und fragen, ob du was brauchst. Sie könnte auch herkommen.“

„Hat sie mir auch schon geschrieben. Ist nett, aber ... mir geht‘s gut. Wirklich“, wehre ich ab. Ich bringe meine Sachen in mein Zimmer und spüre Isabellas Blick auf mir. Es war alles ein bisschen viel die letzten Tage. Ich fühle mich, als müsste ich erst mal meine Gedanken ordnen. Mein Verstand neigt ein wenig dazu, wie ein rohes Ei zu reagieren: Immer wieder stoße ich auf Dinge, die mich an meine Oma und den Verlust erinnern und mit ihr ist auch das letzte bisschen meines Vaters weg. Darum hab ich es auch nicht länger bei meiner Mutter ausgehalten. Sven ging es genauso.

Während ich meine Tasche ausräume, klopft Isabella.

„Ja.“

Sie tritt ein und setzt sich auf den Sessel in meinem Zimmer. Ich erinnere mich noch, wie ich als Kind darin gesessen habe, und verdränge den Gedankengang. Er führt zu nichts. Es sind nur Erinnerungen.

„Willst du lieber allein sein, oder möchtest du was unternehmen?“

Ich zögere.

„Wollen wir einen Film sehen? Ich habe Kathis Erlaubnis, ihren Streaming-Account zu nutzen.“

Ich nicke schließlich.

„Okay“, stimme ich zu. Ich weiß nicht, ob ich in meinem Zimmer sein will. In Kathis Zimmer steht ein bequemes Sofa und ein großer Fernseher. Ein Film wird mich vielleicht ablenken.

Wir machen es uns also auf Kathis Sofa gemütlich.

„Ihr habt Star Wars gesehen?“, erkundige ich mich, als bei den kürzlich gesehenen Filmen „Die Rückkehr der Jediritter“ auftaucht.

„Ja, ich weiß, dass jeder sie kennt. Ich aber nicht. Sie sind schön, wie ein modernes Märchen. Kathi hat sie mit mir gesehen.“

„Ja, der Vergleich ist gut.“

„Wollen wir den schauen?“, erkundigt sie sich. Als nächstes wird uns „Fanboys“ empfohlen, auf Grundlage der bisherigen Filme, die sie und Kathi gesehen haben.

Ich überfliege mit ihr die Inhaltsangabe. „Roadmovie klingt gut“, stimme ich zu. Die Verschlagwortung als Comedy ist, glaube ich, auch genau das Richtige im Augenblick.

Es geht um einige Freunde, von denen einer sterben wird, was Anlass zu einer Odyssee quer durch die USA wird und für jede Menge Humor sorgt.

Als zwei der Protagonisten am Feuer sitzen und über den baldigen Tod des einen sinnieren, trifft mich ein Satz hart. Es geht um verpasste Chancen und darum, dass die Fehler dazugehören und wichtig für das Ganze sind.

Ich spüre, wie mir unwillkürlich die Tränen kommen. Ich sehe einen Moment hoch und unterdrücke das Weinen, doch dann heule ich hemmungslos. Ich habe seit Tagen nicht geheult, weder am Totenbett, noch bei der Beerdigung. Es war einfach keine Zeit und irgendwie habe ich geschafft, es zu verdrängen: Sie ist tot. Sie ist tot und kommt nie wieder. Ich kann gar nichts dagegen tun, ich bin völlig machtlos. Ich weine. Isabella macht den Film aus und nimmt mich in den Arm. Sie drückt mich an ihre Brust und streichelt mir über den Rücken.

„Está bien“, murmelt sie mit sonorer Stimme. Irgendwann beruhige ich mich und mir wird das Weinen unangenehm. Ich sehe sie an. Da ist nur Mitgefühl.

„Ich habe nur gerade begriffen, dass sie weg ist. Ich meine, sie ist wirklich ... sie ist fort. Ich meine, mein Vater ist schon vor Jahren gestorben. Ich kenne den Tod, ich beschäftige mich mit ihm aus wissenschaftlicher Sicht. Das nimmt ihm den Schrecken, dachte ich ... aber nun ist auch seine Mutter fort. Die Mutter meines Vaters ist weg. Damit ist irgendwie ...“, murmle ich, weil ich das Gefühl habe, mich rechtfertigen zu müssen. „Damit ist der letzte Rest von ihm fort.“

Sie nimmt meine Hand und lächelt mich aufmunternd an. „Nein, es ist noch immer etwas von ihm da, verdad?“

Ich muss unwillkürlich lächeln. „So habe ich das noch nicht gesehen.“

„Es ist ein toller Teil von ihm noch da. Erzähl mir von ihm.“

Während sie das sagt, nimmt sie mich wieder in den Arm.

Ich erzähle ihr von meinem Vater und meiner Oma. Wir reden stundenlang, bis draußen die Sonne aufgeht und wir uns erschöpft in unsere eigenen Zimmer begeben.

Den Film sehen wir erst am nächsten Tag zu Ende.

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