Читать книгу Ferien Sommer Bibliothek Juni 2021: Alfred Bekker präsentiert 19 Romane und Kurzgeschichten großer Autoren - A. F. Morland - Страница 42

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„Seid ihr noch immer nicht fertig?“, frage ich und klopfe an die Tür des Badezimmers.

„Gleich“, kommt es doppelt daraus hervor. Ich seufze, mehr kann ich nicht tun. Mein Zombie-Kostüm habe ich schon an, die alte zerschnittene Kleidung sieht klasse aus. Was aber noch fehlt ist das Make-up. Auf meinen Arm habe ich bereits eine hervorragende Schnittwunde gemalt, an meinem Bein habe ich eine Art Fertigwunde kleben. Die ist mehrheitlich aus Kunststoff und durch die darum aufgerissene Hose sieht sie ziemlich echt und widerlich aus. Was noch fehlt ist ein bisschen Schmink-Magie von Kathi in meinem Gesicht, um mich untot aussehen zu lassen. Blass habe ich mich schon selbst geschminkt. Dazu noch eine schöne Schnittwunde im Gesicht oder am Hals, die Kathi hinzufügt. Sie kann wahre Wunder vollbringen.

Ich bin ziemlich zufrieden mit mir, denn ich habe meine Masterarbeit gestern binden lassen und abgegeben. Die muss natürlich noch bewertet werden und das Prüfungsamt muss ein Zeugnis ausstellen, aber in einigen Wochen bis Monaten bin ich dann komplett fertig und bis dahin frei.

Endlich wird die Badezimmertür aufgeschlossen und Isabella und Kathi kommen heraus. Kathi trägt ein Piratenkostüm, das allerdings ziemlich viel Bauch zeigt. Offensichtlich soll sich der Unisport auszahlen und wir sollen das auch alle sehen. Isabella ist perfekt geschminkt, als wäre sie zum mexikanischen Día de los Muertos unterwegs. Ihre Haare sind straff zurückgekämmt und sie trägt einen Haarreif, der rote Kunstrosen enthält, die ihr zum Schädel geschminktes Gesicht noch fremdartiger aussehen lassen.

Kathi sieht auf die Uhr und winkt mich ran.

„Los, ich mach dir noch schnell einen Schnitt ins Gesicht. Die ersten kommen sicher gleich.“

„Ach was, wenn du zwanzig Uhr sagst, kommen die ersten eh nicht vor halb neun. Niemand will der erste bei einer WG-Party sein und helfen aufzubauen, und niemand will letzter sein und aufräumen“, sage ich und setze mich auf den geschlossenen Klodeckel. Kathi fängt sofort an mit ihrer Zauberei und nach vielleicht zehn Minuten darf ich das Ergebnis im Spiegel bestaunen: Ich sehe aus, als hätte ich eine üble Platzwunde an der Schläfe und bin ungesund bleich.

„Gefällt’s dir?“, fragt sie und ich nicke.

„Sieht übel aus“, sage ich und zwinkere ihr zu.

„Dann stell schon mal das Bier auf den Balkon“, weist mich Kathi nun an.

Währenddessen füllt Isabella Chips und Salzstangen in diverse Schüsseln und verteilt sie in der Wohnung.

Dann klingelt es, die ersten Gäste sind da. Während Isabella sie begrüßt, mache ich die Musikanlage an und starte die Playliste des Abends. Über den Laptop läuft eine Spotify-Liste von Kathi, die sie extra hierfür zusammengestellt hat. Mir gefällt es, da unter all dem Pop-Kram auch basslastige House-Musik bis hin zu einigen Nu Metal-Liedern dabei sind.

Als ich in den Flur komme, sind schon die nächsten Gäste da. Tim Kellows hat seine geliebte Bierbong mitgebracht. Ich kann den Kerl und das Ding nicht leiden, aber irgendwen wird er sicher schon finden, den er heute Abend damit druckbetanken kann.

Ich gehe durch die Räume. In fast allen Zimmern stehen Bluetooth-Lautsprecher, sodass die Musik überall bis auf dem Klo zu hören ist.

Kurz überlege ich noch, dort auch eine Box hinzustellen, doch dann beginnt das Lied „Shoot to Thrill“, was so gar nicht in ihre Playliste passt, und während Kathi an die Tür eilt, an der es schon wieder klingelt, greift Isabella meine Hand. Sie zieht mich ins Wohnzimmer und wir beginnen zu tanzen, bevor kein Platz mehr dafür sein wird. Ich muss gestehen, ich bin nicht der Typ dafür. Sich einfach so entspannt der Musik hinzugeben, das ist eigentlich nichts für mich. Doch die Kombination meiner Lieblingsband und dazu Isabella, dem kann ich kaum widerstehen.

Wir geben uns der Musik hin und für einige Minuten existieren nur wir. Unsere Blicke treffen sich.

Jetzt, denke ich, jetzt ist vielleicht gut.

„Sag mal, Isabella“, sage ich und trete näher.

„Ey, du musst Isabella sein. Ich sach mal Isa, ne?“, fragt Tim, der ins Wohnzimmer kommt.

Sie nickt, wir hören auf zu tanzen. Das Lied endet. Tim ist verkleidet als Avocado. Er hat ein Stück grüne Pappe ausgeschnitten, das ihn von vorne aussehen lässt wie eine Avocado auf Beinen. Dort, wo der dicke Kern der Avocado wäre, ist ein Loch in der Pappe, sodass sein Bauch rausschaut.

„Kennt ihr Bierbong in Kuba?“, fragt er und hält den Schlauch mit Trichter stolz hoch. „Willste mal probieren?“

„Wie soll das funktionieren?“, fragt sie skeptisch.

„Du bekommt das eine Ende des Schlauches in den Mund und in den Trichter wird Diverses gleichzeitig reingeschüttet. Du musst es schaffen, das schneller zu trinken, als sie kippen“, erkläre ich ihr. Sie sieht mich an, als wäre ich bescheuert.

„Jo, habt ihr sowas nicht bei den Kommunisten?“, fragt Tim und wirkt ehrlich etwas überrascht. „Ich dachte, bei dem Wetter dort ist man partyfreundlich. Oder seid ihr eher Kiffer. Rastafaris, ne?“

Sie schüttelt den Kopf. „Rastafaris sind auf Jamaica. Das ist zwar in der Karibik, aber so sehr kubanisch wie du Österreicher“, sagt sie spitz, doch Tim merkt offensichtlich nicht, dass er was Falsches gesagt hat.

„Ach, okay. Ne, ihr dürft ja auch nix miteinander zu tun haben, oder? Ihr seid doch noch ‘ne Diktatur.“

Ich weiß nicht, ob ich lachen soll oder eingreifen.

Das Lied „Molotov“ von Seeed strebt im Hintergrund seinem Höhepunkt zu.

„Genau“, sagt Isa nur und verlässt das Wohnzimmer.

„Was hat’enn die?“, fragt Tim an mich gewandt. Das Lied endet und es beginnt irgendwas Basslastiges, das ich nicht kenne.

Ich zucke die Schultern. Ich glaube nicht, dass es sich lohnt, ihm das zu erklären. Außerdem ist er ein Freund von Kathi. Nicht sehr sozial von mir, muss ich zugeben, aber Kathi und ich machen das so wie manche Eltern: Es gibt unsere Freunde und es gibt deine beziehungsweise meine. Man ist nicht für die des anderen zuständig.

Es klingelt wieder an der Tür.

„Machst du?“, ruft Kathi zu mir und ich nutze die Gelegenheit, von Tim wegzukommen.

Als ich den Türöffner für die Haustür unten betätige, kommen gleich neun weitere Leute ins Treppenhaus.

Nachdem ich fast alle begrüßt habe, ist auch Kathi im Flur und ich frage leise: „Sag mal, wie viele haben eigentlich zugesagt?“

„Keine Ahnung.“

„Wie viele hast du eingeladen?“

„Hmm, die üblichen.“

„Sag ‘ne Zahl, Kathi.“

„Ist doch egal.“

„Komm schon.“

„Okay, so sechzig Leute? Vielleicht den ein oder anderen mit Partner?“, sagt sie. „Aber die kommen doch eh nicht alle. Es ist Halloween. Da gibt es so viel Auswahl, wo man hin kann.“

Ich verkneife mir jedwede Bemerkung. Es ist eh zu spät, die Leute sind eingeladen. Ich glaube nicht, dass die alle gut in die Wohnung passen. Jetzt sind schon zwanzig Gäste da und es wird langsam voll. Ich suche Isa und finde sie zusammen mit Alina und Lara, zwei Freundinnen von Kathi.

Mein Kommilitone Joshua findet mich. Er ist als Rotkäppchen verkleidet. Er trägt ein weißes T-Shirt, eine Weste, die eindeutig seiner Freundin gehört und eng sitzt, und dazu einen roten Rock, der bis zu seinen Knien reicht, sowie ein rotes Kopftuch, das mich irgendwie an meine Oma erinnert. So eines hat sie bei der Gartenarbeit früher getragen.

„Geschlecht ist ja nur ‘n Spektrum, was?“, begrüße ich ihn mit Handschlag und er lacht.

„Es ist Halloween“, sagt er. Ich grinse.

„Das heißt der Kerl, der sich als kleines Mädchen verkleidet, damit willst du den Leuten Angst machen?“

„Hey, du musstest ja auch nichts an dir ändern. Kaputte Klamotten und blasse Haut, du siehst aus wie immer.“

„Ich bin ein Zombie“, sage ich mit allem Ernst, den ich aufbringen kann, und versuche pikiert auszusehen.

„Ach, scheiße, ja jetzt, wo du es sagst“, erwidert Joshua und bindet sich sein Kopftuch neu. „Boah, ich hätte nix auf den Kopf nehmen sollen. Ehrlich, hier drin ist Affenhitze und ich dachte, ich bin clever, indem ich was anziehe, das die Beine und den Arsch freilässt.“

Ich sehe nach unten zum Rock und wieder zu ihm. Er grinst und zwinkert. Ich schüttle den Kopf.

„Ich frage nicht. Ich will’s nicht wissen. Wehe aber dir, du setzt dich mit dem nackten Arsch auf irgendwas in dieser Wohnung“, sage ich in gespieltem Ernst.

„Jetzt weißt du, wieso das Kostüm zu Halloween passt. Dein persönlicher Horror.“

Er lacht und ich hole ihm ein Radler. Ich weiß, dass er sonst kaum was mag von dem, was wir da haben.

„Haste gehört, dass die Republikaner ehrlich Trump nominiert haben?“, fragt er mich. Ich nicke.

„Ist ja schon einige Monate ein Presse-Feuerwerk. Ich glaube, die deutschen Journalisten gehören selbst zu sehr zum Bildungsbürgertum, um zu verstehen, was die Republikaner und deren Wähler in Trump sehen“, sage ich.

„Ich denke, sie hätten jeden nehmen können. Ich meine, bei der letzten Wahl hat Obama nur knapp gewonnen, der Rust-Belt ist bald republikanisch hoch zehn und gegen Clinton? Ich glaube, da könnte ‘ne Strohpuppe gewinnen.“

„Bin froh, dass ich zwischen den beiden nicht wählen muss“, stimme ich zu und wir stoßen an.

„Und ich erst. Ich meine, ich bin sonst Demokrat, aber die Clinton ... Ich weiß nicht, was schlimmer im weißen Haus wäre, sie oder der Clown.“

Alina hat nun auch Joshua bei mir entdeckt und da sie sich zuletzt nur noch mit Isabella unterhalten hat, kommen die beiden nun zu uns rüber.

„Habt ihr eigentlich wieder Eintopf gemacht?“, fragt sie und ich nicke. „Kathi und Isa haben zwei verschiedene gemacht, stehen in der Küche.“

„Dann hol ich mir mal was“, sagt Alina und Joshua fügt hinzu: „Da komm ich mit.“

Die beiden verschwinden und Isabella und ich sind für einige Minuten allein, wenn auch diverse andere Leute um uns herum sind.

„Magst du Alina?“, frage ich. „Du hast sie vorher noch nicht gekannt, oder?“

„Doch, ich hab sie einmal in der Uni getroffen. Sie studiert ja Psychologie“, erwidert Isabella. Sie seufzt. „Sie hat uns gerade alles davon erzählt, wie toll ihre Ernährungsumstellung ist und dass ihre weißen Flecken auf den Nägeln nur von einem Zinkmangel kamen, weil sie da nicht drauf aufgepasst hat. Ich wusste nicht mal, dass man das haben kann!“

„Du hast es nicht mit Vegetarismus?“, frage ich. Sie zuckt die Schultern. Es ist irgendwie seltsam, mit einem Totenschädel dieses Gespräch zu führen, Blumen auf dem Kopf hin oder her.

„Hier ist das ja wohl ein großes Thema: wofür man verantwortlich ist, was man darf und was nicht“, sagt sie. Ich nicke.

„Vielen ist es wichtig, was sie mit ihrem Leben anfangen, was sie in der Welt tun. Aber was denkst du?“, hake ich nach.

„Ich finde das schwierig. Immerhin weiß ich, wie es ist, wenn es nichts zu Essen gibt, weil mal wieder die Wirtschaft nicht richtig funktioniert und es einige Tage nichts gibt. Ich meine wirklich gar nichts, weil nichts da ist. Es gibt dann auch mal keinen Strom oder eben kein Essen. Für mich nur einige Tage, weil meine Eltern privilegiert sind, für andere gibt es länger nichts. Manchmal gibt es aber auch länger nur sehr wenig von allem. Man kann einige Tage ohne Essen leben, aber der Hunger beginnt, dich fertigzumachen, wenn er deine Gedanken kontrolliert. Deswegen finde ich es schwer, mir vorzustellen, dass man gute Lebensmittel verschmäht, nur weil das Schwein nicht glücklich genug war“, sagt Isabella nachdenklich. Ein Ruck geht durch sie, als würde ihr klar, dass sie sehr viel von sich preisgegeben hat. „Aber das muss man sich vielleicht erlauben können“, fügt Isabella hinzu. Kathi kommt in diesem Moment hinzu.

„Was muss man sich erlauben können?“

„Ach, was man essen will“, sagt Isabella. „Und was nicht.“

„Boah, fang du jetzt nicht auch an. Alina reicht mir.“

„Dafür schwärmt die sehr von deinem vegetarischen Eintopf“, sage ich. „Betont sie jedes Mal.“

„Ja, weil sie nicht kochen kann und will, aber auch piemelig hoch zehn ist und dazu vegetarisch sein will. Da bleibt echt nicht viel übrig! Das Rezept hab ich aus dem Netz, aber selber will sie das nicht kochen“, empört sich Kathi. „Ohne die Mensa wäre die doch längst verhungert.“

„Schnell, hol einer neues Bier“, ruft Tim aus dem Flur und jemand eilt an uns vorbei auf den Balkon, wo die Bierkästen stehen.

Tim hat offensichtlich im Flur jemanden zum Druckbetanken mit seiner Bierbong gefunden.

Isabella ist inzwischen in eine Unterhaltung mit einer Freundin verwickelt, die offensichtlich auch Kathi kennt. Währenddessen kommt Johanna Matiri zu mir herüber. Sie ist eine untote Elfe. Ich glaube, sie hat ihr Kostüm, das sie sonst zum LARP trägt, einfach zweckentfremdet.

„Hey, Max“, begrüßt sie mich und anschließend die anderen. Langsam wird es immer voller, inzwischen platzt die Wohnung aus allen Nähten. Es müssen bereits fünfzig Leute in der Wohnung sein. „Kann ich dir was zu trinken holen?“, frage ich sie und sie nickt.

„Ein Bier, egal was für eins.“

Ich mache eine Geste in Richtung Isabella, ob sie auch etwas zu trinken will. Sie schüttelt den Kopf.

„Okay, sind auf dem Balkon. Moment“, sage ich zu Johanna.

Sie folgt mir und als wir in die kalte klare Luft der Nacht heraus auf den Balkon kommen, kann man sich deutlich besser verstehen. Jemand hat die Musik lauter gedreht, aber durch die ganzen Stimmen ist es unfassbar laut in der Wohnung.

„Ah, Luft“, sagt sie und atmet demonstrativ ein.

Auch ich atme tief ein und genieße die kalte Luft.

Drinnen ist sie schon ziemlich verbraucht. Ich lasse die Balkontür eine Weile auf, während ich ihr ein Bier reiche und mir selbst auch noch eines nehme. Ist das schon mein viertes?, überlege ich. Hab ich vergessen, aber langsam sollte ich mal was essen.

Ich verdrücke mich in die Küche und besorge mir etwas vom Eintopf, den Kathi gemacht hat. Er schmeckt großartig, auch wenn ich zu den Leuten gehöre, die es makaber finden, dass sie Würstchen mit Mandelblättchen so arrangiert hat, dass es aussieht, als hätten wir bei den Snacks einen Teller abgeschnittene Finger. Vom anderen Fingerfood nehm ich allerdings schon. Soll ja nichts wegkommen.

Ich meine, einerseits ist das toll, Halloween und so ... aber andererseits kann ich mich erst nicht überwinden, davon zu essen. Dann nehm ich doch einen der abgeschnittenen Finger.

Da die drei Plätze an unserem kleinen Küchentisch gerade frei sind, setze ich mich mit Johanna hin und esse.

„Kennst du das?“, fragt Johanna, während wir essen. „Wenn du einen absurden Gedanken hast, ihn aber konsequent zu Ende denkst?“

„Klar“, erwidere ich. In diesem Moment setzt sich Isabella zu uns, auch mit etwas vom Eintopf.

„Hey“, sagt sie und zwinkert mir zu. „Na, was ist das Thema?“

„Absurde Gedanken“, sage ich.

„Was für welche?“, fragt Isabella und sieht neugierig von mir zu Johanna. Ich schaue ebenfalls zu Johanna, weil sie das Thema aufgebracht hat.

„Ach ... okay. Also: Genau genommen ist man nie in der Gegenwart. Wenn man über etwas nachdenkt, dann darüber, was man gleich tun wird oder was gewesen ist. Aber ich kann nie denken ‚jetzt mache ich das‘. Der Augenblick, das Jetzt ist immer der Moment des Handelns, des Agierens und nie des Denkens. Darum leben wir zwar in der Gegenwart, aber wir können nicht in ihr denken. Wenn wir denken, handeln wir in dem Moment nicht. Also gibt es kein Denken im Jetzt ...“, sagt sie und hält inne, als sie Isabellas Blick sieht.

„Das klingt hoffentlich nicht so verrückt, wie ich denke“, fügt Johanna hinzu und ich schüttle den Kopf.

„Nee, aber das klingt wie etwas, über das ich nachdenken muss, um zu entscheiden, ob es klug oder banal ist“, sage ich und Johanna lacht.

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich es verstanden habe“, sagt Isabella. „Nochmal langsam, bitte.“

Johanna wiederholt ihren Gedanken, diesmal etwas umständlicher formuliert, aber dafür deutlicher.

Isabella nickt langsam.

„Ich würde es bei klug einsortieren“, sagt sie mit einem Blick zu mir. „Nicht banal.“

„Das freut mich“, sagt Johanna, doch bevor sie mehr sagen kann, kommt ein Kerl zu uns, der, glaube ich, Thomas heißt. Die beiden begrüßen sich unter viel Hallo.

„Sollen wir mal kurz frische Luft schnappen?“, frage ich Isabella.

„Wie meinst du?“

„Kurz vor die Tür“, sage ich. „Frische Luft.“

„Gern.“

Sie geht voraus, ich folge ihr auf den kleinen Balkon.

„Wie findest du es?“, frage ich Isabella.

„Die Party? Schön. Etwas voll“, sagt sie. „Als wir getanzt haben ...“

„Ja?“

„Wolltest du da ...“, sagt sie und kommt näher an mich heran.

Ich hebe die Augenbrauen. Will sie, dass ich sie küsse?

„Noch weiter tanzen?“, sagt sie schließlich.

Verdammt, denke ich. Das gerade, das war so ein Moment, und ich hab ihn verpasst!

„Vielleicht“, erwidere ich und lege meine Arme um sie.

„Du bist nicht wie Männer, da wo ich herkomme.“

„Ist das gut oder schlecht?“, frage ich. Unsere Gesichter kommen sich immer näher.

„Dort, wo ich herkomme, sind Männer weniger ... rücksichtsvoll. Ich meine das gut“, sagt sie und unsere Gesichter berühren sich beinahe.

Bevor ich etwas sagen kann, küsst sie mich.

Ich würde lügen, wenn ich behaupte, dass sie nicht schneller war als ich.

Der Kuss ist lange. Sie schmeckt nach einer Mischung aus Schminke und Bier und doch ist es eine Ewigkeit, die wir einfach so verbringen, nur im Kuss versunken.

Als der Kuss endet, sehen wir uns noch weiter in die Augen.

Ein Teil von mir will nicht weg, will nie aufhören, sie so im Arm zu halten. Wenn es einen perfekten Moment gibt, dann ist er das hier und dann will dieser Augenblick in Ewigkeit gedehnt werden.

„Ich denke, ich liebe dich“, sage ich. „Ich war in dich verliebt, als du vor meiner Tür standest.“

„Te quiero también“, sagt sie und hat dabei diesen schnurrenden Akzent, den sie immer bekommt, wenn sie Spanisch spricht. „Du bist mir gleich aufgefallen.“

„Wieso hast du nichts gesagt?“, frage ich.

„Du doch auch nicht“, erwidert sie und zwinkert. „Außerdem ... ich wusste nicht, ob das klug ist. Ich bin im Austausch hier. Mich zu verlieben, macht alles komplizierter.“

Ich halte inne. „Und jetzt? Siehst du das immer noch so?“

„Jetzt denke ich, dass es keine Rolle spielt, was ich will. Mein Herz hat entschieden.“

Ich küsse sie erneut, diesmal noch länger.

So verbringen wir eine ganze Weile.

„Wir sollten wieder auf die Party gehen“, sagt Isabella schließlich. „Kathi kann ja nicht allein die ganze Zeit Gastgeberin sein.“

„Nein, stimmt schon“, sage ich. „Dann lass uns gehen.“

„Wir machen später weiter“, sagt sie und mustert mich. „Ich nehme an, mein Make-up ist ähnlich ruiniert wie deines“, sagt sie.

„Es geht“, beruhige ich sie und als wir reingehen, reiche ich ihr mein Handy und sie benutzt die Selfie-Funktion als Spiegel.

Schnell sind wir beide wieder in Gespräche verwickelt und bis auf einen kurzen Tanz schaffen wir es bei der Feier nicht mehr, Zeit miteinander zu verbringen. Doch mein Herz schlägt heftig und ich fühle mich beschwipst.

Die Feier geht noch einige Zeit weiter. Es ist kurz nach sechs, als der letzte gegangen ist und notdürftig aufgeräumt wurde.

Isabellas Zimmer ist als erstes von Bierflaschen und Essensresten befreit worden, sie verabschiedet sich und verschwindet ins Bad, während ich mit Kathi noch mein Zimmer und dann ihres aufräume.

„Nacht“, ruft Isabella und wechselt vom Bad in ihr Zimmer, während Kathi gerade mit einem Lappen noch eine Stelle wischt, auf der Bier ausgelaufen ist. Isabella hatte angeboten zu helfen, doch ihre Pupillen reagieren nur noch langsam und sie ist leicht geblendet. Ich glaube nicht, dass sie sich noch lange auf den Beinen halten kann.

„Nacht“, rufen wir beide.

Isabella kommt noch an meiner Zimmertür vorbei und haucht mir mit der Hand einen Kuss herüber. Ich zwinkere ihr zu. Wir sind beide ziemlich fertig und ich dürfte ziemlich nach Bier stinken. Mehr als den Luftkuss gibt es, denke ich, heute nicht mehr.

„Lass es doch“, füge ich an Kathi hinzu, als Isa weg ist und ihre Tür schließt. „Das Bier ist morgen immer noch da und klebrig.“

„Ja, aber ich will nicht, dass es über Nacht schlimmer wird.“

Kathi klingt dabei wie eine Katze, leicht fauchend. Das wird sie immer, wenn sie angetrunken ist.

„Kathi, das ist Linoleum. Wenn einer drauf stirbt, bekommst du die Flecken noch immer weg“, sage ich, doch sie wischt energisch weiter.

Währenddessen ziehe ich meine Tagesdecke vom Bett. Eigentlich ist das eine alte Decke, die ich vor WG-Partys immer über mein Bett werfe. Langfristig verteilen sich eh alle in allen Räumen, sodass auch Leute auf meinem Bett sitzen, und ich will dann irgendeine Decke darüber haben.

Darunter ist mein Bett sauber und sieht unangetastet aus.

„Was sollte der Luftkuss eigentlich?“, fragt Kathi nun ganz unschuldig.

„Wieso?“

„Weil ich ihn gesehen habe und der sah nicht nach guten Freunden aus.“

„Ach? Eher nach Mitbewohnern?“, frage ich.

„Ne, eher nach Liebe. Wie lange geht das schon so?“

„Wieso?“, frage ich. „Geht es dich denn etwas an?“

Ich lasse sie zappeln und kann in ihren Augen sehen, dass ihr das nicht gefällt.

„Boah, jetzt sag schon. Ihr himmelt euch seit Monaten an. Läuft da was? Sie behauptet nein.“

„Habt ihr darüber geredet?“, frage nun ich überrascht.

„Ja, sie wollte wissen, wie das bei uns im Land mit dem Frauenarzt ist, ob die Pille bezahlt wird und da konnte ich nicht mehr an mich halten und habe halt gefragt. Ihr seht euch sowieso auf eine Weise an, dass man doch denken muss, da läuft was!“, sagt Kathi nun lachend. „Also, wie lange? Ich wohne mit euch, ich habe ein Recht, es zu erfahren.“

„Du meinst eher, wir haben kein Recht auf Geheimnisse vor dir“, sage ich grinsend und Kathi zieht einen Schmollmund.

„Vielleicht auch das, ja.“

„Seit heute Abend“, gebe ich ihr endlich die Information, die sie wollte.

„Waaas?“

„Seit heute Abend, da haben wir uns das erste Mal geküsst. Ich denke also, ja, wir haben da jetzt was miteinander.“

„Na endlich“, kann sich Kathi nicht verkneifen zu sagen. „Dass es so lange gedauert hat. Darum sah euer Make-up am Mund so verschmiert aus. Ich dachte schon, beide meiner Mitbewohner können nicht essen, ohne sich einzusauen.“

„Na danke.“

Ich beherrsche meine Gesichtsmuskeln und gehe einfach. Inzwischen fühle ich mich ziemlich groggy, egal ob vom Alkohol oder der späten Stunde: Das ist keine Unterhaltung, die ich mit meiner Mitbewohnerin noch lange so früh morgens führen will.

Ich gehe ins Bad und wasche mir das Make-up ab und mache mich fertig fürs Bett. Als ich fertig bin, klopfe ich kurz an Kathis halb offene Tür.

„Ist frei. Nacht.“

„Nacht, danke“, sagt sie und ich schließe endlich meine Zimmertür und falle erschöpft in mein Bett.

Ferien Sommer Bibliothek Juni 2021: Alfred Bekker präsentiert 19 Romane und Kurzgeschichten großer Autoren

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