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Im Bett neben mir liegt niemand. Das macht mich misstrauisch. Wo ist meine Frau? Ich richte mich auf und muss tief einatmen. Irgendwie fühle ich mich voll, schwerer als erwartet. Ich stehe wankend auf. Dabei fallen mir meine runzeligen Hände auf.

Ich muss gestern bei der WG-Feier mehr abbekommen haben, als ich dachte, Gott sehen die alt aus. Ich sollte mich morgen mal eincremen, Kathi hat sicher irgendwas Nützliches für die Hände. Isabella macht das ja auch. Aber ich hab da nicht immer die Nerven zu, zum Eincremen und diesem ganzen Gedöns. Jeden Morgen auch noch mit dieser Creme einschmieren, sodass man keinen Sonnenbrand bekommt? Jetzt erst fällt mir auf, dass dies nicht mein Bett ist. Es ist ein Doppelbett mit klinisch weißen Bezügen – so welche habe ich doch gar nicht.

Ich sehe mich um.

Irgendwas ist falsch, das wird mir langsam klar. Es sind nicht die Einzelheiten des Raumes. Die Kommode ist von Uropa, der Schrank von mir aus der WG, der Raum aber nicht. Die Komponenten des Raumes sind mir alle bekannt, doch das Gesamtbild ist falsch. Dieser Raum, seine Anordnung und seine Form ist mir komplett fremd. Wo zur Hölle bin ich?

„Isabella? Kathi?“, rufe ich zaghaft. Ich trete ans Fenster. Es ist warm, das Fenster steht auf Kipp. Draußen ist ein Strand, Palmen. Wieso zur Hölle Palmen?

Ich bin mir jetzt zumindest sicher, dass das hier nicht mehr das Münsterland ist. Wenigstens etwas, bei dem Gewissheit herrscht, denke ich.

Eine alte Frau betritt den Raum.

„Hallo, mein Sonnenschein“, sagt eine vertraute, warme Stimme.

Dieses Timbre würde ich überall auf der Welt wiederfinden. Mit so einer Stimme kann man mir auch das Telefonbuch vorlesen und ich würde trotzdem unweigerlich über sie herfallen wollen: meine geliebte Isabella. Allerdings ist sie alt, viel zu alt – mindestens dreimal so alt, wie sie sein dürfte.

„Querido. Ich weiß, du denkst, ich bin alt“, sagt sie und lächelt etwas traurig. Das kann man immer an ihren Augen sehen.

„Die Überraschung sieht man dir nicht an“, sagt sie freundlich und deutet auf einen kleinen Tisch und zwei Stühle mit Blick zum Meer. Dort gehen die Fenster bis zum Boden herab. „Bitte, setze dich.“

„Ich stehe lieber“, sage ich wahrheitsgemäß. Mein Rücken zwickt ganz schön. Habe ich mir was ausgerenkt?

„Dann zieh dir doch etwas an und wir machen einen Spaziergang. Es ist herrliches Wetter.“

Ich gehe zum Schrank, wähle T-Shirt und Hose. Das Shirt ist vom Dropkick Murphys-Konzert im Schlosspark. Es schlackert ganz schön. Ich sehe an meinem Körper hinab. Ich bin alt.

Immer noch misstrauisch machen wir uns auf den Weg. Der Strand ist herrlich. Einige Asiaten sind mit ihren Kindern dort.

„Wieso bin ich alt?“, frage ich Isabella. Sie lacht freundlich und ohne Häme.

„Weil du alt bist.“

„Aber ich weiß, wie ich gestern ins Bett ging. Da war ich noch nicht mal dreißig!“

Sie nickt, fordert mich damit auf, mehr zu sagen. „Wir beide haben ...“ ich zögere. Dann weiß ich es wieder. „Wir beide haben uns geliebt, es war ein langes Wochenende. Die Kinder waren bei deiner Schwester, damit wir mal etwas Ruhe hatten.“

Sie lächelt, scheint in Erinnerungen abzusinken.

„Kinder? Was?“

„Welches Jahr haben wir?“, fragt sie dann unvermittelt.

„2016 natürlich“, erwidere ich wie aus der Pistole geschossen. Dann habe ich ein ganz übles Gefühl. „Haben wir nicht, oder?“

„Nein, haben wir nicht“, stimmt mir Isabella zu und nimmt meine Hand. Ihre Hand ist runzelig, genau wie meine. Vorsichtig erfühle ich die Falten. Sie lächelt. „Du bist dreiundachtzig Jahre alt. Wir leben seit vier Jahren in Thailand, jedenfalls die meiste Zeit. Das Klima bekommt uns beiden besser, vor allem mir wegen meines Asthmas. Außerdem ist es nicht so teuer hier.“

„Wie alt bin ich?“, frage ich und sehe in ihren Augenwinkeln etwas aufblitzen: Eine einzelne Träne, die sie wegblinzelt. Diese wunderschönen braunen Augen.

„Du hast eine Form von Alzheimer. Das heißt, du vergisst Dinge. Mal mehr, mal weniger. Gestern wusstest du morgens noch alles.“

Ich will widersprechen doch ein Teil von mir weiß, dass sie recht hat. Irgendwo, weitab des rationalen Denkens, fühle ich die Wahrheit. Ich merke, wie ich weinen möchte, ob der verlorenen Jahre. Doch ich bin einfach nur stumm, unbeweglich. Sie nimmt mich in den Arm, meine geliebte Isabella.

„Erzähl mir, was ich vergessen habe“, flüstere ich.

Sie lächelt. Obwohl ich es nicht sehen kann, kann ich es hören, als sie spricht: „Aber gerne doch.“

*

Mein Wecker plärrt und ich wache auf. Desorientiert liege ich in meinem Bett – meinem richtigen Bett, und das elektrische Kreischen meines Weckers schraubt sich in meinen Verstand. Ich habe geträumt, meine Güte, so realistisch habe ich schon seit Jahren nicht mehr geträumt!

Ich schalte den Wecker aus und überlege, welcher Tag ist.

Gestern, das Konzert ... es ist spät geworden. Wir haben noch lange geredet über Gott und die Welt ... Mein Verstand arbeitet langsam. Warum muss ich denn so früh raus, denke ich, und es fällt mir sofort wieder ein. Heute habe ich noch ein Interview für meine Masterarbeit. Während ich aufstehe und unter die Dusche gehe, grüble ich über den Traum. Das war bizarr, selbst für einen Traum. Habe ich Angst, was zu verpassen?

Ich mag Isabella. Das weiß ich schon lange. Ich glaube, sie mag mich auch ... ich muss nur noch den richtigen Moment abpassen, mit ihr darüber zu reden. Oder soll ich sie einfach küssen? Ich glaube, heutzutage bekommt man da eher eine Anzeige, allerdings, glaube ich, wäre Isabella da eher etwas handgreiflicher und würde mir schlicht eine ballern. Ich muss mal Zeit finden, mit ihr allein über uns zu reden.

Es ist erstaunlich, wie schwer sowas ist, obwohl man zusammen wohnt! Zudem muss auch die Stimmung irgendwie passen ... Ich seufze. Irgendwie war das in der Schule noch leichter: Willst du mit mir gehen? Ja, nein, vielleicht?

Ich spiele diverse Szenarien in meinem Kopf durch, während ich mich vor dem Badezimmerspiegel rasiere und fertigmache, bis ich dann endlich so weit bin und mit meinem Rucksack auf dem Rücken losziehe zu einem weiteren Interview für meine Arbeit. Beim Fahrradfahren denke ich über das Vergessen nach. Ich glaube, in meinem Traum ging es darum, alles zu vergessen, was man hatte. Oder ging es darum, dass es alles vorbei ist und man es nicht erlebt hat?

Ich muss eine Gelegenheit finden, mit Isabella zu reden.

Der Herbstwind fährt mir durch meine Jacke und lässt mich frösteln.

Was, wenn sie wieder nach Hause geht? Würde das funktionieren?

Nach einer kurzen Fahrradfahrt bin ich in Coerde. Die hässlichen Türme der Nachkriegszeit ragen hinauf in den Himmel. Ich klingel bei Tim Greveus und treffe ihn oben an der Treppe im dritten Stock.

„Kommen Sie rein“, sagt er. „Kaffee?“

„Nein, danke, gerade nicht“, erwidere ich und wir setzen uns an seinen Küchentisch. Die Wohnung ist klein, aber ordentlich und gepflegt.

„Also, ich hab deinen ... ich duze mal, wir sind ja gleich alt, ne?“, fragt er und ich nicke. „Also, du suchst Leute, die REMEMBER nutzen.“

Ich nicke und hole mein Handy raus, mit dem ich das Gespräch aufnehmen will. Ich erkläre Tim Greveus, wie das Interview abläuft. Natürlich führe ich nicht genau aus, wie ein Leitfadeninterview funktioniert, und dann beginnt er auch bereits zu erzählen.

Er war von Anfang an Kunde von REMEMBER und hat regelmäßig mit seinem Vater geschrieben, einem hiesigen Lokalradiomoderator. Er berichtet mir eine Weile davon, wie es in der Anfangszeit war, als er Kunde wurde.

„Es war gruselig und doch so schön“, sagt Tim nun. „Ich meine ... Ich hab ihm immer so geschrieben, wie es im Leben weitergeht bei mir. Dass ich jetzt einen eigenen Job habe, dass ich mich von meiner Partnerin getrennt habe ... sowas, ne?“

„Aber heute nutzt du den Service nicht mehr?“, frage ich. Das interessiert mich besonders, weil sich nur wenige gemeldet haben, die aufgehört haben, Kunden von REMEMBER zu sein.

„Das stimmt“, sagt Tim gedehnt. „Ich fand es nicht mehr gut. Ich meine, also, das war nicht der Grund. Wir haben uns gestritten.“

„Gestritten?“

„Na ja, weißt du, der Algorithmus will natürlich, dass wir uns wohlfühlen, ja? Er ist so programmiert, dass man seichte Unterhaltungen führt und dass Allgemeinplätze kommen, wenn man so richtig schwere Lebensfragen stellt. Das ... das ist mir eskaliert. Als ich mich vor vier Monaten von meiner Freundin getrennt habe, hab ich einfach vergessen, dass ... also ich meine, natürlich weiß man immer, dass man mit einer Maschine schreibt, die sich ausdrückt wie der eigene Vater. Aber da hab ich es vergessen.“

„Was geschah dann?“, frage ich. Er ist nicht der erste, der immer wieder betont, dass man ja immer wisse, dass man mit einer Maschine rede. Ich bezweifle das, so häufig, wie mir das versichert wurde, inzwischen erheblich. Diese Versicherungen wirken auf mich meist eher wie an den Sprecher gerichtet, nicht an mich adressiert.

„Na ja, ich weiß nicht mehr, was er gesagt hat, aber das war ... so banal. Das war nicht er. Er hat sich nie gedrückt, wenn ich mit ‘ner schweren Frage zu ihm gegangen bin. So ein ‚Papa, ich hab ein Problem‘, wo man nicht will, dass er es löst, sondern einfach die Meinung will von jemandem, der älter und erfahrener ist, zu dem man aufsieht. Dann kamen so ... banale Antworten. Ich wurde wütend, habe aufgelegt und bin ziemlich ins Nachdenken gekommen.“

Er sieht eine Weile nachdenklich aus dem kleinen Küchenfenster hinaus in den strahlend blauen Himmel, der so gar nicht zu dem für ihn dramatischen Thema passen will.

„Und so habe ich viel nachgedacht und dann eine Weile REMEMBER nicht mehr genutzt. Es war schwer ... ich meine ... ich hab erst dann gemerkt, dass ich mich lange nicht so recht mit dem Gedanken auseinandergesetzt habe, dass er ... dass er weg ist – wirklich weg. Ich glaube, darum war ich so sauer, weil mir diese banalen Antworten die Illusion geraubt haben, dass er noch da ist.“

Ich mache mir Notizen. Das Gespräch geht weiter und schließlich sind wir fertig. Ich verabschiede mich und fahre nach Hause.

Dort setze ich mich wieder ans Schreiben.

Eines der Opfer des Amoklaufs von Anders Breivik in Norwegen 2011 schreibt noch Jahre später SMS an die Nummer ihrer Freundin, die dort getötet wurde. Wie ihrer eigenen Großmutter es vielleicht half, am Grab im Stillen mit dem Verstorbenen zu sprechen, bedient diese Handlung ebenfalls dasselbe Bedürfnis aber auf eine andere Weise. Beide, der stumm Betende und die SMS-Schreibende, wissen, dass ihnen nicht geantwortet wird. Doch die Ambivalenz der eigenen Handlung kann einem klar sein, ohne dass sie einen von der Handlung abhält.

Andererseits wird die Jenseitsvorstellung einer Person vielleicht auch nicht systematisch in einer Studie miterfasst, weil es so schwer fassbar für das positivistische Wissenschaftsverständnis ist. Grabmäler, Handlungen am Sarg und am Unfallkreuz können erfasst und interpretiert werden. Die Vorstellung, was nach dem Tod ist, ist einerseits etwas, auf dem ein gewisses Tabu liegt. Andererseits ist es möglicherweise auch unüblich, sich heutzutage als Anhänger einer metaphysischen Jenseitsvorstellung zu offenbaren. So wie man in Deutschland nicht „bedingungslos“ von seinem Glauben (an irgendeine Religion) spricht, spricht man möglicherweise auch in den Interviews nicht frei von solchen Hoffnungen.

Eine Weile arbeite ich so weiter, aber schlussendlich merke ich, wie meine Gedanken sich im Kreis drehen, und ich setze mich auf mein Bett. Ich komme nicht weiter. Ich brauche eine Pause. Manchmal muss man sich Zeit geben, Dinge zu verarbeiten, sie einsinken lassen in den Verstand und sie dann in Ruhe neu ordnen. Ich schließe meine Playstation an den Fernseher auf meiner Kommode an, was ich einige Monate nicht getan habe, und starte ein Spiel. Es ist ein Rennspiel, das ich vor vielen Jahren gern gespielt habe. Ich mache, was ich immer mache, wenn ich nachdenken muss. Ich spiele ein Geisterrennen. Wenn jemand eine sehr gute Streckenzeit hinlegt, kann er diese hinterlegen und so kann jemand anderes gegen eine „durchscheinende“, also geisterhafte Version dieses Fahrers antreten, in einer neuen Runde. Natürlich kann man auch gegen seinen eigenen Geist fahren, um besser zu werden.

Ich fahre Rennen um Rennen gegen den Geist, wie ich es immer mache, um nachzudenken.

Ich frage mich, ob es gut ist, dass die Toten uns nun so umgeben. Eigentlich gibt es in jeder Gesellschaft Rituale, die ein Neugeborenes in die Gemeinschaft aufnehmen, wie die Taufe oder Feierlichkeiten zur Geburt. Genauso gibt es auch Feierlichkeiten wie Beerdigungen, um den Verstorbenen aus der Gemeinschaft der Lebenden in die Gemeinschaft der Toten zu bringen, um ein Ende zu markieren. Er ist nun nicht mehr bei uns, heißt es oft, und das wird durchaus wörtlich gemeint: Der Tote ist nun aus dem sozialen Netz herausgeschnitten, weil niemand im sozialen Netz sein kann, der nicht mehr reagiert.

Doch unsere Toten sind im sozialen Netz, haben uns Dinge hinterlassen und handeln geradezu ... ist das gut für uns, denke ich und schaffe es, den Geist des Spielerprofils zu besiegen, gegen den ich immer spiele, wenn ich traurig werde.

Ich habe dieses Rennspiel als Kind immer gerne gegen meinen Vater gespielt und konnte ihn nie besiegen, als er noch lebte.

Nun habe ich gewonnen, gegen den Geist vom Spielerprofil DarthVater71 ...

Manchmal vermisse ich ihn ziemlich und würde gerne mit ihm reden.

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