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Alte Zeiten, Neue Zeiten
Aussichten auf eine Zeiten-Geschichte Zeit-Probleme

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Zeit kann beunruhigen. Man verabschiede sich gedanklich nur für einen kurzen Moment von der Orientierungsfunktion, die Formen der Zeitmessung in unserem Alltag übernehmen, schon gerät das Denken ins Trudeln und die Turbulenzen der Zeit sorgen für eine erhebliche Desorientierung. Viele literarische und filmische Geschichten zu Zeitreisen und anderen temporalen Abenteuern machen sich diesen Umstand zunutze, stellen unsere gewohnten Auffassungen von Zeit infrage, wenn nicht gar auf den Kopf. Dabei verschwimmen nicht nur die Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern kommen auch Aspekte des Verhältnisses von gemessener und gelebter Zeit ins Spiel, drängt sich das Problem unserer existenziellen Abhängigkeit von Zeit bei ihrer gleichzeitigen Unfassbarkeit in den Vordergrund und werden die temporalen Kulturen deutlich, denen sich Gesellschaften in unterschiedlichen Formen verpflichtet haben.

Ohne das Phänomen der Zeit in ungebührlicher Weise verniedlichen zu wollen, kann man es in gewisser Weise als ein Spiel verstehen, sich auf die Verunsicherungen einzulassen, die das Nachdenken über die Zeit hervorruft – und man wird feststellen, dass aus dem Spiel sehr schnell Ernst wird. Es gilt, sich der Verunsicherung durch die Zeit zu stellen, sie zum Gegenstand zu machen und damit der Zeit auch eine Geschichte, eine historische Dimension zu geben, die nicht immer recht wahrgenommen wird (zumindest, wenn man von den standardisierten Überblicksdarstellungen zur Geschichte der Zeitmessung absieht, bei denen es sich nicht selten um klassische Fortschrittsnarrative handelt). Lässt man sich auf die Verunsicherung ein, dann wird es möglich, die Zeit auf andere Art und Weise zu befragen, sie als selbstverständliches und gleichzeitig rätselhaftes Phänomen in den Mittelpunkt zu rücken.

Aber muss das Schweinwerferlicht denn noch einmal auf die Zeit als Problem gerichtet werden? Ist denn zur Zeit nicht bereits alles gesagt, und zwar vielfach? In der Tat scheint zu diesem Thema jeder Stein bereits mehrfach umgedreht worden zu sein, jedes Phänomen ist bedacht, jeder Aspekt beleuchtet worden. Jede philosophische Schule hat sich mehr oder minder intensiv mit der Zeit beschäftigt, jede theoretische Ausrichtung hat sich diesem Phänomen gewidmet. Wenn man die Bibliotheken nach Publikationen zum Thema ›Zeit‹ durchforstet, kann einem schwindelig werden. Dieser Umstand bringt mich in ein Dilemma, da es ja üblicherweise zu den Begründungsschemata wissenschaftlicher Veröffentlichungen gehört, ihr Zustandekommen durch die nicht ausreichende Beachtung, wenn nicht sogar gänzliche Vernachlässigung einer bestimmten Thematik zu rechtfertigen. Im Falle der Zeit ist das kaum möglich. Zu diesem Gegenstand sind nicht nur die sprichwörtlichen, sondern auch die tatsächlichen Bibliotheken bereits gefüllt worden. Die Literatur ist schon lange nicht mehr zu überschauen, es gibt zahllose Buchreihen, diverse Zeitschriften[1] und ganze Forscherleben, die diesem Gegenstand gewidmet wurden. Wer will da noch mitkommen? Insbesondere im Kontext von Soziologie, Philosophie und Ethnologie – um die weit ausgreifenden naturwissenschaftlichen Diskussionen hier einmal beiseitezulassen – hat die Zeit vielfache Aufmerksamkeit erfahren.[2]

Angesichts dieses Befundes stellt sich die Frage: Warum noch weitere Ausführungen zur Zeit? Könnte man mit seiner Zeit (sic!) nicht Besseres anfangen? Der einzige Rettungsanker scheint ironischer Art zu sein, so dass man mit Karl Valentin zur Rechtfertigung sagen könnte, es sei zwar schon alles gesagt worden, nur noch nicht von jedem.

Aber selbst bei einem solchen augenzwinkernden Blick auf das Thema lässt sich nicht übersehen, dass Zeit als Problem ein dauerhaftes Interesse hervorzurufen vermag. Man kann entsprechende Aufmerksamkeiten an ganz trivialen und oberflächlichen Daten wie der genannten Buchproduktion ablesen, an der Ubiquität von Zeitmessgeräten oder an dem Umstand, dass beständig und andauernd über die Zeit geredet wird (alle Zeit der Welt haben; sich eine Auszeit nehmen; auf Zeit spielen; Zeit totschlagen; Zeit verschwenden; Zeit absitzen; Zeit gewinnen; der Zahn der Zeit; der Zeit hinterherhinken; seiner Zeit voraus sein; die Zeit ist knapp; die Zeit nutzen; die Zeit zurückdrehen; der Wettlauf mit der Zeit etc.).

Insofern ist Zeit auf die eine oder andere Art und Weise immer bedenkenswert. Die (auch historisch) interessante Frage lautet, wie Zeit zu einer bestimmten Zeit behandelt wird. Wenn der Eindruck nicht gänzlich täuscht, werden wir im Moment Zeugen recht heftiger Turbulenzen im Zeitgefüge, die auf unser aller Leben, Denken und Handeln nicht unerhebliche Auswirkungen haben dürften. Denn auch wir sind im frühen 21. Jahrhundert dabei, unsere zeitlichen Modalisierungen erheblich umzugestalten – auch wenn das nicht wirklich als ein intendierter Vorgang angesehen werden kann. Es handelt sich nicht nur um die Wahrnehmung einer beständigen Beschleunigung,[3] der sämtliche Lebensbereiche unterworfen zu sein scheinen und der man teils durch gezielte Versuche einer Entschleunigung entgegenzuwirken versucht, sondern auch um das sehr komplexe Phänomen der Ausbreitung westlicher Zeitmodelle im Zuge dessen, was gemeinhin als Globalisierung[4] bezeichnet wird, und nicht zuletzt um unser eigenes Rearrangement des Zusammenhangs von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im letzteren Fall trifft der beständige Drang, wenn nicht gar Zwang zur Zukunftsgestaltung auf eine nicht zu übersehende und auch gar nicht als lächerlich zu qualifizierende Grundstimmung, die man schon als apokalyptisch bezeichnen darf. Zuweilen macht sich der Eindruck breit, die jüngere Vergangenheit habe die nähere Zukunft bereits aufgebraucht.

Die Aktualität des Themas lässt also nicht nach: Zeit ist immer an der Zeit. Bereits seit den 1970er Jahren, symbolisiert durch die Veröffentlichung »Die Grenzen des Wachstums« des Club of Rome,[5] allerspätestens aber mit den Epochenjahren 1989/90 dürfte einsichtig geworden sein, dass unsere Welt nicht mehr die ist, die man sich lange vorgestellt hat. Gerade in dem Moment, in dem der westliche, auf Fortschritt, Demokratie und Moderne getrimmte Kapitalismus seinen vermeintlich größten Triumph erlebte, wurden ihm in aller Deutlichkeit seine Grenzen aufgezeigt. Wenn es schon nicht die Rückkehr von Nationalismen und religiösen Fundamentalismen (und zwar nicht nur in ihrer islamischen Variante) deutlich gemacht haben sollte, dann lässt spätestens der Klimawandel kaum noch eine Diskussion darüber zu, dass wir uns von lange gepflegten Selbstverständlichkeiten verabschieden müssen – die Frage ist nur, wie ein solcher Abschied aussehen wird.

Fragen nach Zeitlichkeit stehen dabei im Mittelpunkt der Diskussion. Lassen wir einmal die komplexe Frage beiseite, ob Zukunftsszenarien wie Klimawandel, Staatsverschuldungen und demographische Verschiebungen in Richtung einer alternden Gesellschaft tatsächlich in der Form und mit den Auswirkungen eintreffen werden, wie dies momentan diskutiert wird. Eine ganz konkrete Auswirkung haben diese Projektionen auf jeden Fall jetzt schon: Sie konfrontieren uns hier und heute, in unserer eigenen nur noch »erstreckten Gegenwart«[6] mit einem temporalen Entwurf, der wohl seit der Frühen Neuzeit in Europa nicht mehr in dieser Form so dominant war: der Endlichkeit der Welt. Das Mittelalter und die Frühe Neuzeit fassten das Weltende in einem heilsgeschichtlichen Sinn auf, wir betrachten es inzwischen in klimatischer, finanzpolitischer und demographischer Hinsicht.

Wir folgen heute noch einem Zeitmodell, das sich im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts allmählich ausgebildet hat. Wir sind gewohnt, mit Blick auf eine offene Zukunft zu denken, linear und progressiv. Fortschritt und Wachstum sind immer noch Normen, die nicht verhandelbar zu sein scheinen, denn immer noch ist die Meldung eines Unternehmens oder eines Staates, in diesem Jahr kein Wachstum erwirtschaftet zu haben, das Eingeständnis einer Niederlage. Abstieg oder auch nur Stabilität sind in Misskredit geraten, etwas kann nur gut sein, wenn es immer besser wird. Der Zwang zum Höher-Schneller-Weiter ist in unseren Köpfen fest implantiert: »Die mit dem Begriff ›Wachstum‹ verbundene Vorstellungswelt durchzieht jede Faser unserer gesellschaftlichen und privaten Existenz. […] Der Begriff ›Wachstum‹ hat magische und parareligiöse Qualität, weshalb man sogar im Fall einer Rezession vom ›negativen Wachstum‹ spricht, als sei das Schrumpfen der Wirtschaftsleistung […] der Leibhaftige, den ein guter Christ nicht beim Namen nennen darf.«[7]

Endlichkeit war daher für lange Zeit undenkbar geworden – doch inzwischen sind wir dabei, uns mit einem solchen Zeitmodell wieder vertraut zu machen. Ob diese Diagnose tatsächlich zutreffend ist, wird – jawohl! – erst die Zukunft zeigen; wer weiß, vielleicht liegen die Apokalyptiker ja ebenso falsch wie die unverbesserlichen Wachstumsoptimierer. Aber dass diese Form der Selbstbeschreibung sich inzwischen zu einem recht einhelligen Chorgesang verdichtet hat, zu einem basso continuo, der allen politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Diskussionen unterliegt, sagt nicht nur viel über das Bild der Gegenwart des frühen 21. Jahrhunderts aus, sondern wird, wie jedes Selbstbild, ob zutreffend oder nicht, seine eigene diskursive Wirkmächtigkeit entfalten.

Hier kann die historische Betrachtung anschließen. Denn inzwischen kann man auf eine langfristig dominante, moderne Zeitkonzeption zurückblicken, die geschichtlich abgeschlossen zu sein scheint und sich in dieser Form nicht mehr fortführen lässt. Doch darin kann und will sich die historische Beschäftigung nicht erschöpfen. Es geht nicht einfach um die Musealisierung von – in diesem Fall – obsoleten Zeitmodellen, sondern es geht um das Erzählen von exemplarischen Geschichten, die uns zwar kein Patentrezept für gegenwärtige Probleme an die Hand geben können, die aber in der Lage sind, uns in der Beschäftigung mit dem historisch Anderen die Augen für die eigene Situation zu öffnen.

Damit wäre ich in meiner Argumentation dem Punkt recht nahe gekommen, der bei Erörterungen zur Zeit niemals fern zu sein scheint und an dem Zeit zu einem Grenzfall zwischen Theorie und Trivialität wird: Einerseits finden sich auf allen Abstraktionsniveaus Überlegungen zur Zeit an und für sich, andererseits ist eben diese Zeit im Alltagsleben mit so viel Plausibilität belegt, dass jegliches Weiterfragen nahezu von selbst blockiert wird.[8] Der Blick auf die historischen Dimensionen von Zeit, also auf eine Zeiten-Geschichte,[9] kann möglicherweise helfen, diesem Dilemma zu entgehen.

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