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Wir sind immer schon modern gewesen

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Spätestens hier wäre nun der Moment gekommen, an dem diese system- und differenztheoretische Argumentation, die für das theoretische Verständnis von Zeit von großer Bedeutung ist, machttheoretisch angereichert werden müsste. Der systemtheoretische Blick öffnet die Augen für die Konstitution von Zeit als Form sozialer Sinngebung, lässt jedoch nähere Erkenntnisse über die Instrumentalisierung von Zeit im gesellschaftlichen Mit- und Gegeneinander ebenso vermissen wie über den Einsatz von Zeit im Rahmen politischen Handelns, ganz zu schweigen von der historischen Spezifizierung konkreter Umgangsweisen mit Zeit.

Da all diesen Spuren an dieser Stelle nicht nachgegangen werden kann,[61] möchte ich die Gelegenheit ergreifen, die Spuren aufzunehmen, die Virginia Woolf mit den zahlreichen Behandlungen zum Thema ›Zeit‹ in ihrem Werk gelegt hat. Zeit im Roman ist hier alles andere als eine chronikalische Rahmung der ablaufenden Handlung. Zeit ist vielmehr ein sehr variantenreicher Akteur im Geschehen selbst, der beständig andere Formen annehmen kann und von den geschilderten Personen auch jeweils sehr unterschiedlich wahrgenommen wird. Zeit ist bei Virginia Woolf ein Problem und eine Selbstverständlichkeit, Zeit dehnt und beschleunigt sich, sie taucht als Rätsel und als Übermacht auf, sie zeigt sich als Strahl und als Zyklus, sie lebt von Wiederholungen und momentanen Überraschungen, sie lässt die Glocken von Big Ben schlagen und wird auf die Theaterbühne gebracht, sie kann eine Freundin und eine Feindin sein – vor allem aber lässt sie sich nicht fixieren, sondern sorgt für ein sehr variantenreiches Spiel und auch schon einmal (insbesondere in »Orlando«) für ein kunterbuntes Durcheinander.[62] Virginia Woolf wollte wohl kaum eine Systematik der Zeit(en) vorlegen, aber mit Hilfe ihrer Texte ist es möglich, das Problem der Zeit systematischer zu fassen. Gerade weil die Zeit hier in einem fiktiven Zusammenhang auftritt, wird offenbar, wie nah diese Beschreibungen an unseren Umgangsweisen mit und Vorstellungen von Zeit sind – und wie fiktiv dementsprechend ›die Zeit‹ sein muss, die wir zuweilen als gegeben, autark und unerbittlich anzunehmen gewillt sind.

Man muss also nicht auf die Hilfe von Virginia Woolf zurückgreifen. Ist man jedoch bereit, diese anzunehmen, dann kann sich nicht zuletzt erweisen, wie komplex und vielschichtig die Bezugnahmen von anwesenden und abwesenden Zeiten sind – und wie auch und gerade die Geschichtswissenschaften in ihrem täglichen Tun zu dieser Vielzeitigkeit beitragen.

Es ist in der Tat überaus schade und sehr zu bedauern, daß wir in dieser Phase von Orlandos Karriere, in der er eine höchst bedeutende Rolle im öffentlichen Leben seines Landes spielte, die wenigsten Informationen haben, an die wir uns halten können. Wir wissen, daß er seinen Verpflichtungen auf bewundernswerte Weise nachkam – zum Beweis seien sein Bath-Orden und seine Herzogswürde genannt. Wir wissen, daß er bei einigen der delikatesten Verhandlungen zwischen König Charles und den Türken die Hand im Spiel hatte – davon legen Verträge im Gewölbe des Record Office Zeugnis ab. Aber die Revolution, die während seiner Amtszeit ausbrach, und das Feuer, das darauf folgte, haben all jene Papiere, aus denen eine verläßliche Aussage hätte gezogen werden können, so beschädigt oder vernichtet, daß alles, was wir bieten können, kläglich unvollständig ist. Oft war das Papier in der Mitte des allerwichtigsten Satzes dunkelbraun versengt. Gerade als wir dachten, ein Geheimnis aufklären zu können, das den Historikern hundert Jahre lang Rätsel aufgegeben hat, war im Manuskript ein so großes Loch, daß man den Finger hätte hindurchstecken können. Wir haben unser Bestes getan, aus den angekohlten Fragmenten, die verblieben sind, eine magere Zusammenfassung zusammenzustückeln; aber oft war es notwendig, zu spekulieren, zu mutmaßen und sogar die Einbildungskraft zu benutzen.

(Virginia Woolf: Orlando)[63]

Die Konsequenzen aus einem solchen Verständnis von gegenwärtigen, vergangenen und zukünftigen Zeiten könnten durchaus weitreichend sein. Sie würden nicht nur darin bestehen, sich auf die ernsthafte Suche nach einer echten Alternative zum Modernisierungsparadigma zu machen (und zwar nicht nur eine Alternative, die diese Modernisierung anders erzählt – zum Beispiel als Nicht-Moderne –, sondern die gänzlich andere Beschreibungskategorien zu entwerfen hätte); sie müsste nicht nur dazu führen, etablierte historische Entwicklungsmodelle über Bord zu werfen, wie sie sich nicht zuletzt in den etablierten Epochenbezeichnungen immer noch manifestiert finden; sie würden vor allem dazu führen, dass sich die Geschichtswissenschaften ein anderes Selbstverständnis zulegen müssten – nicht mehr nur in ihrer Expertise für die Vergangenheit, sondern als dasjenige Forum, in dem das Verhältnis der Zeiten zu behandeln ist.

Dazu müsste noch nicht einmal der Begriff der Moderne aufgegeben werden. Allerdings müsste man ihm eine Konnotation wieder zugestehen, die etymologisch schon immer mit ihm verbunden war. Denn das etwa im 6. Jahrhundert auftauchende Wort modernus bedeutet bekanntermaßen eigentlich nicht ›neu‹, ›zukünftig‹, ›fortschrittlich‹ oder ähnliches, sondern zunächst einmal ›gegenwärtig‹ und bezeichnete die (Erlebnis-)Zeit der jetzt Lebenden.[64] Und wenn es zutrifft, was ich zuvor anzudeuten versucht habe, dass nämlich alle Zeiten jeweils nur gegenwärtig zur Verfügung stehen, dann könnte der Modernebegriff als temporales Modell auch im Sinne derjenigen Zeiträume verstanden werden, die sich durch das Bewusstsein der Gegenwärtigkeit der Zeiten auszeichnen.

Auch wenn ich mir durchaus der faktischen Unmöglichkeit bewusst bin, ernsthaft den Modernebegriff in dieser Weise umpolen zu können, so möchte ich doch nicht auf die gedankliche Spielerei verzichten, Moderne als gegenwärtiges Jetzt der Zeiten zu begreifen, um damit die Behauptung aufstellen zu können, dass wir schon immer modern gewesen sind.[65] Bei näherem Hinsehen nimmt diese Moderne als Jetzt der Zeiten geradezu die Ausmaße eines Universums an, da sie nicht einfach nur als Kreuzungspunkt verstanden werden kann, in dem sich alle vorhandenen Zeiten überschneiden, sondern als ungemein komplexes Konglomerat der Temporalitäten, die keineswegs miteinander in Kontakt kommen müssen, sondern gänzlich unabhängig voneinander existieren können, parallel zueinander bestehen können, ohne sich gegenseitig wahrnehmen zu müssen, die aber auch in offener Konkurrenz zueinander stehen oder sich in einer konfliktgeladenen Situation begegnen können, und zwar deswegen, weil jedes Ding, jeder Mensch und jedes Kollektiv dazu in der Lage ist, jeweils eigene Formen der Temporalität auszubilden, und somit ein Stuhl ebenso mit dem möglicherweise jahrhundertealten Baum in Verbindung zu bringen ist wie mit dem Abfallentsorgungs- und Umweltbelastungsproblem, das er hervorrufen kann, sobald er zu Müll geworden ist, ebenso wie ein Mensch oder ein Kollektiv sich auf vielfältige Art und Weise mit jüngeren oder entfernteren Vergangenheiten verknüpfen und nähere oder weitere Zukünfte entwerfen kann. Jedes Element in diesem Universum der Zeiten namens ›Moderne‹ ist potentiell dazu in der Lage, solche gegenwärtigen Vergangenheiten und Zukünfte zu ermöglichen. Und dieses Universum der Zeiten (das möglicherweise passender als Multiversum zu bezeichnen wäre) verändert zudem seine Form in jedem Moment, weil es immer wieder neu ›gegenwärtig‹ wird, neue gegenwärtige Vergangenheiten und Zukünfte erzeugt und zugleich andere verschwinden lässt, weil Dinge, Menschen und Kollektive und damit auch deren Verzeitungen verschwinden.

Dieses Jetzt der Zeiten erweist sich mithin als ein schwarzes und ein weißes Loch zugleich. Einerseits verschlingt es beständig bestehende Modalisierungen der Zeit, vernichtet modellierte Vergangenheiten und Zukünfte, andererseits bringt es ebenso beständig immer neue Vergangenheiten und Zukünfte hervor. Verwunderlich in diesem Zusammenhang muss vor allem der Umstand anmuten, dass es möglich war, über einen verhältnismäßig langen Zeitraum hinweg koordinierende und synchronisierende Modelle zu entwickeln, die sich gewissermaßen über diese vielfältigen Verzeitungen gelegt haben. In einem europäisch-westlichen Zusammenhang (der von hier ausgehend seinen kolonisierenden Siegeszug über den Rest der Welt antrat) konnten sowohl Uhren- und Kalenderzeit als auch die Idee einer linearen Geschichte durchgesetzt werden.[66] Und es konnte sich ein konsensuales Verständnis von ›Moderne‹ herausbilden (von dem sich meine Verwendung, wie gesagt, absetzt), das die Erklärung für die Geschehnisse auf dieser Welt aus der Vertikalen in die Horizontale kippte, so dass nicht mehr Gott für alles verantwortlich war, was geschah, sondern die Zeit selbst.[67] Dieses Vergehen der Zeit wurde zu einem Kollektivsingular Geschichte mit einer klaren Zielausrichtung geformt. Diese temporalen Rahmenmodelle waren – und sind immer noch – so erfolgreich, dass sie nicht selten mit ›der Zeit‹ schlechthin verwechselt werden. Und sie scheinen so selbstverständlich zu sein, dass sich kaum die Notwendigkeit ergibt, sie zu thematisieren oder gar zu problematisieren. Und in der Tat stellt sich ja die Frage, weshalb man eine solche Arbeit auf sich nehmen sollte. Warum sollte man zum Beispiel im geschichtswissenschaftlichen Zusammenhang in einem grundsätzlichen Sinn die Modalisierungen von Zeit zu einem Problem machen, wenn das bestehende Zeitmodell doch kein offensichtliches Problem darstellt? Nun, vielleicht genau deswegen: Weil nicht problematisierte Phänomene immer die Gefahr in sich bergen, zur ›Natur‹ zu werden und damit als So-Seiendes nicht mehr befragt werden zu können. Vor allem aber wären solche Formen des Zeitwissens zu problematisieren, weil sie für unsere gegenwärtigen Formen, mit Welt und Wirklichkeit umzugehen, von fundamentaler Bedeutung sind – unabhängig davon, ob dies in der Politik, in der Wirtschaft, im Recht, in der Kultur, im Alltag oder in zahlreichen anderen Zusammenhängen geschieht. Die jeweils vorherrschenden oder zugrunde gelegten Zeitmodelle ermöglichen beziehungsweise verunmöglichen bestimmte Formen, um Wirklichkeit zu organisieren. Deutlich wird dies anhand aktueller Diskussionen um die Fortschrittsidee, den westlichen Wachstumsfetisch oder den Klimawandel. All diese und zahlreiche weitere Diskussionen müssen unverständlich bleiben, wenn man nicht das Zeitmodell bedenkt, das jeweils als Basis dient. Und im Umkehrschluss muss das heißen, dass man auch die Welt verändern kann, wenn man das zugrunde liegende Zeitmodell verändert. Von diesem Bemühen sollten sich gerade die Geschichtswissenschaften nicht ausnehmen.

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