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Die eine Zeit und die vielen Zeiten

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Mit der Etablierung der Weltzeit und der globalen Ausbreitung des Gregorianischen Kalenders scheinen wir einen Punkt erreicht zu haben, an dem Zeitrechnung sich nur noch als technisches und administratives Problem darstellt. Man kann möglicherweise ältere oder kulturell-alternative Modelle der Zeiterfassung in einem quasi musealen Sinn zur Kenntnis nehmen – aber spielen sie nach der Fixierung der einen globalen Zeit überhaupt noch eine Rolle? Die Grundlagen der Zeitrechnung, die ihre Wurzeln in Europa hat, sind inzwischen vielfach abgesichert. Die Dauer einer Sekunde ist exakt festgelegt auf die 9.192.631.770 Schwingungen eines Cäsiumatoms und wird in Deutschland überwacht von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Die Genauigkeit von Atomuhren übertrifft sogar die Regelmäßigkeit der Planetenumlaufbahnen, so dass künstlich erzeugte und gemessene Uhr- und Kalenderzeit genauer ist als Erdumdrehung: Atomuhren sind inzwischen so genau, dass sie eine Gangabweichung von weniger als einer Sekunde in 300.000 Jahren aufweisen. Weil sie damit zuverlässiger als das Weltall sind, muss der Lauf von Atomuhren daher immer wieder nach einigen Jahren durch Einfügen einer Schaltsekunde nachjustiert werden.[37]

Auch juristisch lassen die Zeitregelungen keine Fragen mehr offen: Seit 1893 gab es im deutschen Kaiserreich das »Gesetz betreffend die Einführung einer einheitlichen Zeitbestimmung«, mit dem die Weltzeit in Deutschland eingeführt wurde, von 1978 bis 2008 regelte ein bundesrepublikanisches »Gesetz über die Zeitbestimmung« die Festlegungen für die gesetzliche Zeit und mit dem 12. Juli 2008 wurden die Bestimmungen in das neue »Gesetz über die Einheiten im Messwesen und die Zeitbestimmung« übertragen. Europaweit bestimmt aktuell die Richtlinie 2000/84/ EG des Europäischen Parlaments vom 19. Januar 2001, wie der Wechsel von Sommer- und Winterzeit innerhalb der Europäischen Union zu handhaben ist.[38]

Der kulturhistorische Blick sollte jedoch gezeigt haben, dass Zeitrechnung keineswegs in diesen technisch-administrativen Fragen aufgeht – weder in der Vergangenheit, noch in Gegenwart oder Zukunft. Natürlich lässt sich im Zuge der europäischen Geschichte seit dem Mittelalter ein deutlicher Drang zur Synchronisierung unterschiedlicher sozialer Verzeitungen mittels Medien der Zeitrechnung erkennen. Uhren und Kalender führten und führen mit ihren Normierungen langfristig zu einer Einebnung und Übermächtigung anderer Formen der Zeiterfassung. Diese Vereinheitlichung hat sich schließlich auch global ausgebreitet. Zugleich darf jedoch nicht übersehen werden, dass dieser Zug zur Synchronisierung aufgrund einer weitgehend vereinheitlichten Zeitrechnung andere Formen der Verzeitung keineswegs unterbindet, im Gegenteil, vielleicht sogar fördert. Gerade weil man der Uhren- und Kalenderzeit (vermeintlich) nicht entkommen kann, ist es reizvoll, in andere Zeitmodelle zu wechseln.

Das lässt sich bereits auf einer eher oberflächlichen Ebene feststellen. Denn bedenkenlos den Siegeszug der europäischen Uhren- und Kalenderzeit zu feiern, führt ein wenig in die Irre. Will man dem Phänomen der Zeitrechnung gerecht werden, muss man zumindest einen kursorischen Blick nach links und rechts wagen.

Wenn ich also die Ausbreitung des Gregorianischen Kalenders anführe, dann darf ich auch nicht unterlassen, die Varianten und Anpassungen zu benennen. Zwar gilt in Japan seit 1873 der Gregorianische Kalender, gleichzeitig wird jedoch die Jahreszählung seit Antritt des jeweils regierenden Kaisers beibehalten. Auch diejenigen Länder Ost- und Südosteuropas, in denen die orthodoxe Kirche eine tragende Rolle spielt, übernahmen im frühen 20. Jahrhundert den Gregorianischen Kalender, das Kirchenjahr orientiert sich jedoch immer noch am Julianischen Kalender. Und auch wenn der Gregorianische Kalender in den meisten islamischen Ländern Beachtung findet, so findet der islamische Kalender insbesondere bei religiösen Festen und Feiertagen weiterhin Verwendung.[39]

Doch das ist noch nicht wirklich gemeint, wenn ich hier entgegen der Auffassung von der Herrschaft der ›einen Zeit‹ die soziokulturelle Wirklichkeit der vielen Zeiten anzuführen versuche. Gerade im Zuge der sogenannten Globalisierung wäre es beispielsweise verkürzend, einzig den Blick darauf zu richten, wie es durch die Vernetzung der Wirtschafts- und Kommunikationsströme zu einer Vereinheitlichung der Zeit kommt. Neben den Glaspalästen der Banken liegen die Slums der Ärmsten, die noch nicht einmal eine Uhr besitzen, geschweige denn an globalen Zeitmustern teilhaben.

Diese erzwungenermaßen erlittenen oder freiwillig gesuchten alternativen Möglichkeiten der Verzeitung durchsetzen unser tägliches Leben. Unabhängig davon, ob es sich um die Rede von der ›Auszeit‹ handelt oder um die Flucht vor ›Hektik‹ und ›Termindruck‹, ob man mit der alten Dampflokomotive oder dem Segelboot einen Ausflug macht, um der Rationalität von Uhr und Kalender zu entkommen, oder ob man zwischen Arbeitszeiten und Freizeiten wechselt – ständig sind wir damit beschäftigt, in unterschiedlichen Zeitmodellen zu leben, die nicht alle dem standardisierten Zeitrechnungsmodell unterworfen sein müssen. Vielmehr leben wir in einer Gleichzeitigkeit von Zeiten.

Vielleicht kann man mit Blick auf die europäische Uhren- und Kalenderzeit nicht nur lernen, aus welchen Gründen und mit welchen Mitteln sich diese Form der Zeitrechnung zu einer global dominierenden entwickelt hat; und vielleicht lässt sich nicht nur das ›Genie‹ der zahlreichen ›Zeitkonstrukteure‹ bewundern, die sich so vielfach Gedanken zum ›Wesen‹ der Zeit und ihrer adäquaten Erfassung gemacht haben; und vielleicht lässt sich nicht nur mit Staunen betrachten, wie eng Zeitrechnung und politische Interessen in vielfacher Form miteinander verknüpft sind; vielleicht lädt der Streifzug durch die europäische Uhren- und Kalenderzeit mitsamt den in ihr eingelagerten Erinnerungselementen dazu ein, unseren Umgang mit Zeit generell zu überdenken. Dann sollte man vielleicht die Zeit nicht mehr nur als ein festgefügtes und unveränderliches Flussbett betrachten, in dem sich der Strom der Geschichte mit all seinen Strömungen, Verwirbelungen, hohen und niedrigen Wasserständen und anderen Aufgeregtheiten bewegt, sondern dann lässt sich dieses Flussbett als veränderlich betrachten. Es wäre also nicht nur anzuerkennen, dass sich die Zeiten mit der Zeit ändern, sondern dass diese Veränderungen auch historisch reflektiert werden. Es sind nicht nur Ereignisse, die ›in der Zeit‹ stattfinden, sondern es sind auch die Zeiten, die sich jeweils anders ereignen.

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