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Kollektivsingular

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Ganz egal, ob man aus dem Fenster blickt, vor die Tür tritt oder regelmäßig Nachrichten über das nähere und fernere Weltgeschehen konsumiert: Es kann sich einem die Frage aufdrängen, wie aus diesen vielen unterschiedlichen Zeiten und Geschichten die eine große Geschichte wird. Hängt das alles zusammen? Oder wird das erst durch diejenigen zusammengehängt, die das Geschehen betrachten? Es mag einem so ähnlich gehen wie dem Kind, das ebenfalls auf die Straße tritt, zuvor aber noch den Hinweis zu hören bekommen hat, es solle auf den Verkehr achten. Kaum vor dem Haus stehend, sieht es Straßen, Schilder, Fahrräder, Autos, Zebrastreifen, LKWs, Ampeln – aber wo ist der Verkehr?

Innerhalb westlicher Kulturen sind wir darauf geeicht, von ›der Geschichte‹ als einem sogenannten ›Kollektivsingular‹ zu sprechen. Wir verstehen ›Geschichte‹ als einen sich selbst genügenden und einheitlichen Gesamtprozess. Darin finden sich nicht nur alle einzelnen Geschichten in einem großen Ganzen vereint und aufgehoben (deswegen: Kollektivsingular), sondern in diesem Verständnis sind auch Subjekt und Objekt der Geschichte miteinander vereint: Es ist die Geschichte selbst und nichts weiter.[1]

Wir praktizieren diese Rede von ›der Geschichte selbst‹ aber noch nicht allzu lange. Auch wenn uns eine solche Rede und eine damit zusammenhängende Denke selbstverständlich vorkommen mag, so ist sie es doch nicht. Man müsste spätestens dann ins Grübeln geraten, wenn man feststellt, dass diese Idee von ›der Geschichte‹ selbst eine Geschichte hat. Denn wie kann etwas als Gesamtrahmung für alles Geschehen und alle Veränderungen dienen, das es gerade einmal seit etwas mehr als drei Jahrhunderten gibt? Wie kann etwas als alles erklärende Totalität herhalten, das, soweit wir bisher informiert sind, als Wort und als Konzept erstmals im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts nachzuweisen ist,[2] sich dann im Verlauf des 18. Jahrhunderts in europäischen intellektuellen Debatten durchzusetzen begann, bevor es im 19. Jahrhundert zum Allgemeingut wurde?[3] Vielleicht ist es an der Zeit, diese Idee im 21. Jahrhundert wieder loszuwerden.

Wenn man aber schon die Historizität von ›der Geschichte‹ nicht sonderlich beunruhigend findet, dann sollte einem doch spätestens der Widerspruch zu denken geben, dass zwar die Idee von ›der Geschichte‹ die Wandelbarkeit von allem und jedem verkündet, dabei allerdings eine bedeutende Ausnahme macht – nämlich bei der Idee von der einen, großen Geschichte selbst. Ausgerechnet sie soll der historischen Veränderbarkeit nicht unterworfen sein.[4] Durch diesen Entzug ist ›die Geschichte‹ überhaupt erst in der Lage, die Aufgabe zu übernehmen, die ihr wesentlich zugedacht ist, nämlich an die Stelle der göttlichen Allmacht zu treten. Während das Vertrauen in eine göttliche Vaterfigur und deren Vorsehung über den Weltenlauf allmählich, sehr allmählich zu schwinden begann, bastelten europäische Intellektuelle an einem Ersatzgott namens ›Geschichte‹.[5] Wollte man fortan (und bis zum heutigen Tag) wissen, warum die Dinge sind, wie sie nun einmal sind, schaute man nicht mehr nach oben, sondern nach hinten.[6] Über den Geschichten, so hat es der Historiker Johann Gustav Droysen einmal formuliert, ist ›die Geschichte‹.[7]

Das führt uns wieder zurück zu dem Kind auf der Straße, das den gesuchten Verkehr nicht findet. Sicherlich wird es mit ein wenig mehr Erfahrung feststellen können, dass da Dinge zusammenhängen, oder besser: zusammengehängt werden, die sich als Verkehr bezeichnen lassen. Man kann vielleicht diesen ›Verkehr‹ ebenso wenig sehen wie ›den Staat‹, ›die Gesellschaft‹, ›die Wirtschaft‹ oder eben ›die Geschichte‹. Aber es lässt sich feststellen, dass da etwas ist. Die Frage ist nur, wie wir dieses Etwas benennen und beschreiben wollen, welche Funktionen und welche Verantwortlichkeiten wir diesem Etwas zuschieben wollen und welche Bedeutsamkeit wir ihm aufzubürden gedenken. Im frühen 21. Jahrhundert lässt sich unschwer ausmachen, dass mit dem Gesamtphänomen namens ›Verkehr‹ nicht mehr alles im Lot ist. Und dem Kollektivsingular Geschichte scheint es nicht sehr viel besser zu gehen.

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