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Verunsicherung

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Entgegen eines ersten Eindrucks handelt es sich bei solchen – zugegebenermaßen eher luftigen – Überlegungen keineswegs um eine ausschließlich akademische Angelegenheit. Auch wenn die Frage, ob die Rede vom Kollektivsingular Geschichte denn noch zutreffend sein kann, auffallend nach wissenschaftlicher Gespreiztheit tönen mag, so führt sie doch mitten hinein in die allgemeinen Fragen und Debatten, die sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts nahezu weltweit vernehmen lassen. Diese Diskussionen kreisen – mit einer nahezu sträflichen begrifflichen Unschärfe – um den Eindruck einer allgemeinen Verunsicherung. Das wirklich Verunsichernde an dieser Art der Verunsicherung ist, dass sich schwer sagen lässt, worüber man genau verunsichert sein soll. Entweder macht sie sich nur als diffuses, ungreifbares, eher gefühltes denn konkret benennbares Grundrauschen bemerkbar, das häufig gepaart mit dem Schlagwort ›Krise‹ auftritt, oder sie konkretisiert sich in einer langen Liste substantivierter Phänomene, bei der man immer den Eindruck haben darf, sie sei notorisch unvollständig: Klimawandel, Migration, Fake-News, Finanzkrise, Pandemie, Infragestellung westlicher Werte, Postfaktizität, Anthropozän, alte und neue Weltmächte, Niedergang der Demokratie, Zweifel am wissenschaftlichen Wissen, Macht der Internetkonzerne …

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lebt zumindest der privilegierte Teil der Menschheit (der es mir beispielsweise ermöglicht, diesen Text zu schreiben) in der wohl sichersten und wohlhabendsten Welt, die die Menschheitsgeschichte jemals gekannt hat. Und trotzdem (oder gerade deswegen) ist genau diese Welt voll von Verunsicherungen. Dieser privilegierte Teil der Welt scheint zu existieren in einer Spaltung zwischen Perfektion und Weltuntergang: Auf der einen Seite das bedingungslose Grundeinkommen und die Erlösung von aller Mühsal durch den umfassenden Einsatz hochkomplexer Technik vor Augen – auf der anderen Seite die mehr oder minder unmittelbare Vernichtung dieser Welt erwartend. It’s the end of the world as we know it (and I feel fine).

Sollen solche Phänomene, solche grundlegenden Verunsicherungen über die Wirklichkeit, in der wir leben, beschrieben werden, dann wird nahezu selbstverständlich zu historischen Erzählungen gegriffen. Das ist eben die wesentliche Aufgabe, die der Kollektivsingular Geschichte seit geraumer Zeit und bis zum heutigen Tag zu erledigen hat: einzuordnen, wie es zu dem gekommen ist, mit dem man es gerade zu tun hat. Und wie weitgehend dieser Allerklärungsinstanz namens Geschichte die Aufgabe zugewiesen worden ist, Ordnung in das selbst attestierte Chaos zu bringen, lässt sich anhand der ungemein ausgefeilten und differenzierten Geschichtskultur feststellen, die sich (post-)industrialisierte Gesellschaften leisten. Historisches durchdringt den Alltag auf allen Ebenen. Da wimmelt es nicht nur von Museen unterschiedlicher Couleur, da werden auch geschichtliche Themen in allen medialen Formen angeboten, als Buch, als Film, als Internetpräsenz, da muss sich jede größere Firma oder Institution eine eigene Geschichte geben, da werden Reenactments aufgeführt, da werden Gedenkschilder aufgestellt, da werden Computerspiele in diversen Vergangenheiten angesiedelt undsoweiter undsofort.

Aber es ist nicht nur diese Geschichtskultur, die einordnen soll, es ist noch weit mehr der Versuch, das eigene Hier und Jetzt einzusortieren in einer erweiterten Gegenwart, welche man wahlweise beginnen lassen kann mit dem 11. September 2001, dem Untergang des Ostblocks ab 1989, dem Ende des Nachkriegsbooms, den Berichten des Club of Rome, mit 1968, der Kuba-Krise oder den Prozessen der Dekolonisation. Oder sind die Grundübel nicht vielleicht schon gelegt worden in den großen Kriegen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Haben nicht vielleicht die Relativitätstheorie, die Quantenmechanik, die Kunst der Moderne oder das Fin de siècle eine Welt geschaffen, die uns zunehmend abhanden kommt, weil sie grundsätzlich unverständlich bleibt? Vielleicht lag es auch eher an den imperialistischen Kolonisierungsvorhaben des 19. Jahrhunderts, an deren Nachwirkungen die Welt bis heute leidet? Oder waren es doch die fatalen Rationalitätsversprechen der Aufklärung und der Französischen Revolution, deren dialektische Machbarkeits- und Fortschrittsparadigmen wir nicht verlassen zu können scheinen?

Keine Sorge, ich werde mich nun nicht zu einer Antwort auf diese Fragen aufschwingen. Historische Bemühungen wären hoffnungslos mit Erwartungen überfrachtet, wollte man in ihnen tatsächlich die Lösung diverser Welträtsel erkennen. Einerseits wäre die Erwartung irreführend, historische Beschreibungen würden allein durch die Darstellung einer chronologisch begründeten Kausalität bereits die Antwort auf das zugrunde liegende Problem liefern. Auf eine letztlich oberflächliche, allein dem Deskriptiven verhaftete Aufgabenzuteilung muss sich die Geschichtsschreibung nicht verpflichten lassen. Sie hat nicht nur in einem selbst auferlegten Positivismus die Frage zu beantworten, wie es denn ausgerechnet dazu gekommen ist. Schließlich hält das Historische andererseits so sehr viel mehr Möglichkeiten bereit, nicht zuletzt auch Möglichkeiten theoretischer Art,[8] um die Beschreibung, Bearbeitung und möglicherweise sogar Lösung gegenwärtiger Probleme anzugehen – Möglichkeiten, die ihr üblicherweise nicht zugetraut werden und die unter anderem in einer angemessenen Behandlung komplexer zeitlicher Verhältnisse liegen, für welche die Geschichtsschreibung eine besondere Expertise besitzen könnte und sollte. Aus der Geschichte können wir nichts mehr lernen – und gleichzeitig haben wir nur das Historische, von dem wir lernen können.

Was aber ist hier zu lernen? Der Blick aus dem Fenster, der Gang auf der Straße oder das nachrichtenmäßige Verfolgen aktueller Geschehnisse in der Nähe und Ferne mag einem das bereits angedeutete große Durcheinander nahelegen. Dessen Hintergrund aber sind tiefgreifende Irritationen über Identitäten, Räume und Zeiten: Wer sind wir eigentlich? Wo befinden wir uns überhaupt? Und ganz wichtig: Wann sind wir? In einem Diskussionszusammenhang, der sich nur noch mit Schwierigkeiten als ›Europa‹ oder ›die westliche Welt‹ bezeichnen lässt, sind schon seit längerer Zeit solche und ähnliche Fragen zu vernehmen. Diese Fragen sind wahrlich nicht neu, selbst wenn es denjenigen so vorkommen mag, die sie gerade stellen.

So lässt sich nicht mehr gar so einfach von Europa und westlicher Welt sprechen, weil nicht mehr eindeutig ist, was damit gemeint sein könnte. Die Grenzen dieser diffusen geographischen Einheiten waren schon immer schwer zu bestimmen (Wo sind die Grenzen Europas? Was kann man noch / schon / nicht mehr zum Westen zählen?), aber Entwicklungen und Diskussionen, die wir etwas hilflos als Globalisierung und Postkolonialismus bezeichnen, haben diese Probleme nochmals deutlicher werden lassen. Wie nicht zuletzt Migrations- und Grenzsicherungsdebatten zeigen, versuchen sich erhebliche Teile Europas und der westlichen Welt gegen solche Diffusionen abzuschotten.

Im frühen 21. Jahrhundert scheint aber nicht nur die Bestimmung schwerzufallen, wo und wie wir sind, sondern es ist auch nicht mehr so einfach zu sagen, wann wir sind. Die verwirrenden Verwendungen und Diskussionen der Moderne, Postmoderne, Post-Postmoderne, Hypermoderne, Altermoderne und weiterer Kombinationen können davon Zeugnis ablegen. Die Behauptung geht einem nicht mehr leicht über die Lippen, man lebe in etwas, das sich als Moderne bezeichnen ließe. Und wieso überhaupt in der Moderne? Irgendetwas scheint daran nicht (mehr) zu stimmen. Bruno Latour hat bekanntermaßen formuliert, dass wir noch nie modern waren.[9] Wenn das aber stimmt, was waren wir dann die ganze Zeit? Wähnten wir uns über zwei Jahrhunderte lang in einem Zug durch die Zeit, ohne zu bemerken, dass es nur die Landschaft hinter dem Fenster war, die sich bewegte?

Es existieren aktuell zahlreiche Versuche, um das eigene Hier und Jetzt historisch-epochal einzuordnen: Man kann sprechen vom Zeitalter der Globalisierung, vom digitalen Zeitalter, vom Informationszeitalter, vom Anthropozän. Aber wird es diesen historischen Selbstbestimmungen besser ergehen als anderen epochalen Beschreibungen, die auch noch nicht sonderlich alt sind, aber von niemandem mehr benutzt werden? Oder wer erinnert sich noch an das Atomzeitalter, das Raketenzeitalter, das Maschinenzeitalter?

Die Unsicherheit hinsichtlich einer angemessenen Epochenbezeichnung nimmt sich nahezu harmlos aus angesichts solcher Schlagworte wie alternative Fakten, Fake-News oder post-truth. Reicht die Verunsicherung über unsere Wirklichkeit und ihre angemessene, gar wahre Beschreibung inzwischen schon so weit, dass es immer schwieriger wird, eine einigermaßen verbindliche Geschichte über diese Wirklichkeit zu schreiben? Oder noch schlimmer: Sind Verschwörungstheorien unterschiedlicher Couleur vielleicht nur die extremen Auswüchse einer Welt, in der sich jedes Kollektiv seine eigene Geschichte zusammenbasteln kann, wie es ihr gerade gefällt? Wenn wir keine großen Erzählungen mehr haben, können dann alle ihre eigene fabrizieren?

Auch in Sachen einer historischen Selbstbestimmung scheinen wir uns vor die Wahl zu stellen: Perfektion oder Weltuntergang? Große Ganzheit oder vollständige Zersplitterung? Die Welt entzieht sich uns, verweigert sich jeglicher Erfassung, auch und gerade die Welt in ihrer zeitlichen Verfasstheit. Lockt auf der einen Seite das Gewesene als Hort der Gewissheit, weil sich mit dem Blick ins Gestern doch eindeutig feststellen lassen sollte, was der Fall war (und immer noch ist), zeigt sich die Vergangenheit auf der anderen Seite als ausgesprochen flexibel, wenn es um neue Versionen ihrer selbst geht, ist geradezu aufnahmewillig für Anpassungen und Veränderungen (die von sich selbst aber regelmäßig behaupten, nun die endgültige und wahre Version zu sein). Auch wenn das Geschehene geschehen ist, wenn Schlachten nicht noch einmal geschlagen werden müssen, Revolutionen nicht noch einmal durchzufechten sind, Leben nicht noch einmal gelebt werden können und Tote nicht wieder auferstehen werden, haben wir doch die eigentümliche Eigenschaft, die Vergangenheit nicht ruhen lassen zu können, sondern immer wieder zu bearbeiten und immer wieder mit uns in Beziehung zu setzen. Und seltsamerweise verändert sich im Zuge dieser Bemühungen die Vergangenheit dann doch.

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