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Immanenz des Historischen
Zur Einleitung Zeiten allerorten

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Zuweilen mag es genügen, aus dem Fenster zu sehen; besser vielleicht noch, vor die Tür zu treten und einen kleinen Spaziergang zu unternehmen. Ähnlich wie die Lebensmittelindustrie Haltbarkeitsdaten auf ihre Produkte pappt, ließe sich beim zwanglosen Schlendern die eigene Umgebung mit Datierungen versehen. Das Haus auf der anderen Straßenseite ist vor bald 100 Jahren erbaut worden. Geht man zwei Straßen weiter, wartet dort bereits das 19. Jahrhundert, und Richtung Stadtmitte finden sich Behausungen, die noch einmal ein paar Jahrhunderte älter sind. In der entgegengesetzten Richtung kündet eine riesige unbebaute Fläche, auf der kreuz und quer fahrende Bagger und Lastwagen ihr ganz eigenes Ballett aufführen, von Häusern, die es noch gar nicht gibt, deren zukünftige Bewohner aber bereits jetzt auf einer riesigen Werbetafel Hand in Hand und glücklich lächelnd durch sonnenbeschienene Grünanlagen flanieren. Dahinter wiederum lässt sich unschwer ein Waldgebiet erkennen, in dem einige bizarr geformte Eichen stehen, von denen man höchstens erahnen kann, aus welchen Zeiten sie zu berichten wüssten, wenn wir ihre Botschaften nur verstünden. Um die Ecke steigt gerade ein Mann mittleren Alters in sein Auto, einen Oldtimer, der auch schon seit einigen Jahrzehnten auf den Straßen unterwegs ist und seinen geschichtsträchtigen Zustand gut sichtbar durch ein H (für ›Historisches Fahrzeug‹) auf dem Nummernschild zu erkennen gibt. Nicht die einzige Gelegenheit, bei der das deutsche Steuerrecht Vergünstigungen bereithält, sobald es um die Fähigkeit (oder das Glück) von Objekten geht, eine bestimmte Zeitspanne überstanden zu haben. Dieser Mann fährt einem Tag entgegen, den er zwar nach den Möglichkeiten einer rationalen Planung bereits im Vorhinein organisiert hat, von dem er aber trotzdem noch nicht (genau) weiß, was er ihm bringen wird. Im Wegfahren hat er noch eine Hand frei, um eine Frau zu grüßen, unübersehbar schwanger, die noch ganz andere Gedanken über künftige Unwägbarkeiten näherer und fernerer Art hin und her wägt. A day in the life.

Ich bin kaum einen Schritt die Straße entlanggegangen, schon purzeln innerhalb weniger Augenblicke die Zeiten durcheinander. Zu fragen, wie viel Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft jeweils in diese Dingen, Menschen und Situationen steckt, erscheint befremdlich. Muss denn nicht alles, was einem begegnet, sei es vor der eigenen Haustür oder an einem anderen denkbaren Ort, Anteil haben an allen Zeitformen? All das muss gegenwärtig sein, um überhaupt wahrgenommen werden zu können; es muss eine Vergangenheit haben, in der es entstanden ist; und wenn nicht in diesem Moment ein katastrophales Unglück geschieht, wird alldem wohl auch noch eine mehr oder weniger lange Zukunft beschieden sein. Was ist daran das Besondere? Wir sind nun einmal zeitliche und verzeitlichte Wesen, da ist der beständige Umgang mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht außergewöhnlich. Und genau genommen sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ja auch nur drei von den vielen möglichen Zeitformen, mit denen wir Umgang pflegen. Nicht vergessen werden sollte in einer notgedrungen unvollständigen Auflistung die Zeitlosigkeit, der Zeitvertreib, der Zeitpunkt, die Ewigkeit, der Zeitsprung, die Zeitbombe, die Zeitvergeudung, die Saure-Gurken-Zeit, der Zeitverlust, die Unzeit, die Kernzeit, die Langzeitwirkung, die Zeitverschiebung, die Zeitraffer, die Freizeit oder die Endzeit.

In der Tat, eine solche Augenblickswahrnehmung unterschiedlicher Zeiten ist nichts Besonderes. Gerade deshalb stellt sich die Frage, weshalb sie für unser Nachdenken über Zeit und unsere Beschreibungen von Zeit so selten eine Rolle spielt. Sobald das Temporale in gewisse Verallgemeinerungen transponiert wird, erweisen sich unsere Beschreibungen von der Zeit als seltsam einfallslos. Dann reduzieren sich die vielen unterschiedlichen Zeiten recht schnell auf einen linearen Strahl, auf dem alles fein säuberlich angeordnet werden kann. Zwar lassen sich die Zeitverwirbelungen vor der eigenen Haustür chronologisch eindeutig zuweisen, kann man ihnen ein unverwechselbares Datum und eine eindeutige Uhrzeit geben – aber was ist damit erreicht? Jede Gegenwart hat die Eigenschaft, ungleichzeitig mit sich selbst zu sein, weil in ihr immer schon so viele andere Zeiten vorkommen. In ein und demselben Augenblick träumen sich manche schon in die Zukunft eines nicht gebauten Hauses, imaginieren das Leben nach ihrem eigenen Tod, sehnen sich andere in die 1950er Jahre zurück oder hoffen auf die ewige Auszeit unter Palmen. Sie sind zwar alle gleichzeitig hier – aber sind sie auch alle jetzt?

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