Читать книгу Völkerrecht - Andreas von Arnauld - Страница 118

2. Erklärung und Annahme

Оглавление

217

Verfahren und Rechtswirkungen von Vorbehalten sind in den Art. 19 ff WVK geregelt; diese Regeln sind unvollständig und führen z. T. zu unbefriedigenden Ergebnissen. Die ILC hat daher 2011 einen Praxisleitfaden vorgelegt, in dem sie versucht, die Art. 19 ff WVK zu konkretisieren und zu vervollständigen.[21]

218

Vor Abschluss der WVK standen sich drei Grundpositionen gegenüber: Nach der v. a. im Westen vertretenen absoluten Theorie war für die Wirksamkeit eines Vorbehalts die Annahme durch sämtliche Vertragsparteien notwendig. Widersprach nur eine Vertragspartei dem Vorbehalt, wurde der den Vorbehalt erklärende Staat nicht Partei des Vertrages. Dieses strikte Konsensprinzip dient größtmöglicher Vertragsintegrität und -parität, setzt aber eine Übereinstimmung der Interessen und Rechtskulturen der beteiligten Staaten voraus. Demgegenüber ging die v. a. in Lateinamerika verbreitete relative Theorie davon aus, dass der Vertrag nur zwischen dem erklärenden und dem widersprechenden Staat nicht in Kraft trete, im Verhältnis zu den Staaten, die keinen Widerspruch einlegten, der den Vorbehalt einlegende Staat aber Vertragspartei werde. Die überwiegend von sozialistischen Staaten vertretene erweiterte relative Theorie ging noch einen Schritt weiter, indem sie lediglich diejenigen Bestimmungen, auf die sich der Widerspruch bezog, von der Geltung zwischen den Parteien ausnehmen wollte.

219

Die WVK folgt einem modifizierten Konsensprinzip: Vorbehalte bedürfen der Annahme durch die anderen Parteien (Art. 20 f WVK), die Ablehnung durch einzelne andere Vertragsstaaten beeinträchtigt aber nicht die Vertragsmitgliedschaft des Staates, der den Vorbehalt erklärt, insgesamt. Das zweite Prinzip, dem die Regelung in der WVK folgt, ist der Grundsatz der Reziprozität: Im bilateralen Verhältnis sollen die wechselseitigen Rechte und Pflichten sich decken. Im Einzelnen gilt:

bei Annahme des Vorbehalts durch eine andere Vertragspartei: Im Verhältnis zu dieser Partei gilt die Vertragsbindung beiderseitig nur in dem durch den Vorbehalt eingeschränkten Umfang, d. h. der Vorbehalt kommt auch der anderen Seite zugute, Art. 21 Abs. 1 WVK. Dies gilt nicht für die Rechtsbeziehungen zwischen dem annehmenden Staat und anderen Staaten, Art. 21 Abs. 2 WVK.
bei Ablehnung des Vorbehalts durch eine andere Vertragspartei: Im Verhältnis zu dieser Partei tritt der Vertrag in Kraft; er bleibt aber außer Anwendung, soweit der Vorbehalt reicht, weil insoweit kein Konsens zwischen den Parteien besteht, Art. 21 Abs. 3 WVK. Das Ergebnis ist letztlich dasselbe wie bei Annahme des Vorbehalts: der den Vorbehalt anbringende Staat setzt sich durch.
bei qualifizierter Ablehnung des Vorbehalts durch eine andere Vertragspartei: Lehnt ein anderer Vertragsstaat den Vorbehalt ab und widerspricht zugleich einem Inkrafttreten des Vertrags zwischen sich und dem Staat, der den Vorbehalt erklärt, so tritt der Vertrag zwischen diesen Parteien überhaupt nicht in Kraft, Art. 20 Abs. 4 lit. b WVK.

220

Fall: Schilderstreit

In einem (fiktiven) Minderheitenschutzabkommen vereinbaren die Vertragsparteien, in Gebieten, die überwiegend von ethnischen Minderheiten bewohnt sind, zweisprachige Orts- und Straßenschilder aufzustellen. Deutschland kann sich in den Verhandlungen nicht mit dem Antrag durchsetzen, diese Regelung auf sog. autochthone (d. h. alteingesessene) Minderheiten zu beschränken und erklärt daher bei Ratifikation einen Vorbehalt, wonach sich die Verpflichtung für Deutschland nicht auf sog. neue Minderheiten bezieht. Einige Zeit später tritt auch die Türkei dem Abkommen bei. Einen eigenen Vorbehalt erklärt sie nicht. Der türkische Ministerpräsident fordert Deutschland auf, in Gebieten und Stadtteilen mit überwiegend türkischer Bevölkerung zweisprachige Schilder anzubringen und droht, diese Verpflichtung vor dem IGH einzuklagen (das Abkommen sieht ein solches Klagerecht zum IGH ausdrücklich vor). Im Gegenzug drohen deutsche Politiker eine Gegenklage an und verlangen von der Türkei die Aufstellung von zweisprachigen Ortsschildern in überwiegend kurdisch besiedelten Gebieten sowie in Ortschaften, die mehrheitlich von deutschen Rentnern bewohnt sind. Sind diese Forderungen berechtigt, wenn (1) die Türkei dem deutschen Vorbehalt bei Beitritt nicht widersprochen hat, (2) die Türkei dem Vorbehalt widersprochen hat oder (3) dem Vorbehalt und zugleich dem Inkrafttreten des Vertrages zwischen der Türkei und Deutschland widersprochen hat?

Lösungshinweise:

(1) Die Türkei hat den deutschen Vorbehalt implizit angenommen. Beide sind wechselseitig nur an den Vertrag gebunden, soweit der deutsche Vorbehalt nicht greift. Die Türken sind in Deutschland keine autochthone Minderheit und fallen somit ebenso unter die Ausschlusswirkung des Vorbehalts wie die deutschen Rentner in der Türkei. Die Türkei darf insoweit nicht die Anbringung von Schildern auch in türkischer Sprache verlangen, ebenso wenig wie Deutschland von der Türkei die Aufstellung auch-deutscher Schilder fordern darf (vgl. Art. 21 Abs. 1 lit. a und b WVK). Hinsichtlich autochthoner Minderheiten wie den Kurden in der Türkei (oder den Friesen und Sorben in Deutschland) bestehen hingegen wechselseitige Verpflichtungen der beiden Staaten. Die Forderung nach zweisprachigen Schildern in den Kurdengebieten ist daher berechtigt. Insoweit könnte die Erfüllung der Verpflichtung auch gerichtlich eingeklagt werden.

(2) Zwischen der Türkei und Deutschland besteht ein Dissens über die Einbeziehung neuer Minderheiten in die Schilderregelung. Da die Begründung einer Vertragspflicht Konsens voraussetzt, findet die Regelung, soweit sie sich auf neue Minderheiten bezieht, keine Anwendung zwischen den beiden Staaten (vgl. Art. 21 Abs. 3 WVK). Die Rechtslage entspricht der in Variante (1).

(3) Zwischen Deutschland und der Türkei bestehen durch den qualifizierten Widerspruch der Türkei keine Rechtspflichten aus dem Abkommen. Damit fehlt es allen Forderungen an einer Rechtsgrundlage.

221

Im Ergebnis führt dies zu einer Bilateralisierung multilateraler Verträge.


[Bild vergrößern]

Völkerrecht

Подняться наверх