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IV. Auslegung völkerrechtlicher Verträge
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Die Auslegung nimmt nach Art. 31 WVK ihren Ausgang beim Text des Vertrages, d. h. der Parteiwille spielt nur insoweit eine Rolle, als er in der Vertragsnorm Niederschlag gefunden hat. Es handelt sich also um eine objektivierte Auslegung.[30] Die canones der Auslegung völkerrechtlicher Verträge entsprechen im Grundsatz denen des innerstaatlichen Rechts, weisen aber einige Besonderheiten auf.
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Wörtliche Auslegung: Ausgangspunkt ist der Wortlaut der Vorschrift in seinem gewöhnlichen Verständnis (ordinary meaning rule). Völkerrechtliche Verträge sind meist in mehreren Sprachen abgefasst; welche hiervon verbindlich sind, wird regelmäßig ausdrücklich bestimmt. Wenn zwei oder mehr Sprachfassungen als authentisch festgelegt wurden, gelten alle als gleichermaßen verbindlich. Gemäß Art. 33 Abs. 3 WVK wird vermutet, dass Ausdrücke in jedem authentischen Text dasselbe bedeuten.
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Systematische Auslegung: Auch im Völkerrecht ist der Regelungszusammenhang für die Interpretation einer Vertragsklausel zu berücksichtigen. Dazu zählen auch die bei völkerrechtlichen Verträgen typischen Präambeln sowie Anlagen, Protokolle und andere Urkunden, die sich auf den Vertrag beziehen. Die Einpassung in den Kontext macht aber nicht an den Grenzen des jeweiligen Vertragsdokuments halt. Nach Art. 31 Abs. 3 WVK sind „außer dem Zusammenhang […] in gleicher Weise zu berücksichtigen“:
a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen;
b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht;
c) jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz.
Während Art. 31 Abs. 3 lit. a WVK sich auf spätere Abreden zur Interpretation bezieht (zu Abreden bei Vertragsschluss siehe Abs. 2 lit. b), ermöglicht Abs. 3 lit. b, auch eine spätere Praxis der Vertragsparteien zur Auslegung heranzuziehen. Nicht erforderlich ist, dass die Praxis von allen Vertragsparteien ausgeht, solange sich von den anderen Parteien akzeptiert ist. Im Wege der Vertragspraxis ist zwar auch eine Modifikation des Vertrages möglich (hier kann die Abgrenzung zum derogierenden Gewohnheitsrecht schwierig werden: Rn. 284); dass dies beabsichtigt ist, darf aber der Vertragsintegrität wegen nicht vermutet werden.[31]
Art. 31 Abs. 3 lit. c WVK fordert dazu auf, andere einschlägige Völkerrechtssätze zu berücksichtigen, die zwischen den Vertragsparteien Anwendung finden. Dies bürgt für eine relative Einheit der Völkerrechtsordnung und wirkt der vielfach beschworenen Gefahr einer Fragmentierung entgegen (Rn. 34).[32] Als Beispiel mag die Berücksichtigung menschenrechtlicher Verpflichtungen im Rahmen des GATT dienen (Rn. 981–982). Wichtig ist, dass die „vertragsexternen“ Verpflichtungen allen Vertragsparteien gemeinsam sind. Dies ist nicht der Fall bei Pflichten aus einem anderen Vertrag, den nur einen Teil der Parteien des auszulegenden Vertrages bindet.
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Teleologische Auslegung: Von erheblicher auslegungsleitender Bedeutung ist die Ermittlung von Ziel und Zweck des Vertrages. Angesichts der oftmals schwerfälligen Vertragsänderungsverfahren spielt im Völkerrecht die dynamische Interpretation eine wichtige Rolle. Vertragswerke werden vielfach als „living instruments“[33] behandelt. Besondere Bedeutung haben dabei der Effektivitätsgrundsatz (effet utile), wonach ein Vertrag so auszulegen ist, dass er seinen Zweck bestmöglich erreicht und der Grundsatz der necessary implication, wonach auch nicht ausdrücklich garantierte Rechte im Vertrag enthalten sind, wenn diese zur Erreichung des Regelungsziels notwendig sind. Bei Gründungsverträgen Internationaler Organisationen entspricht dies der Implied-powers-Lehre, wonach Organe von Internationalen Organisationen im Zweifel diejenigen Befugnisse besitzen, die zur Erfüllung ihrer Aufgaben erforderlich sind (Rn. 124–125).
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Historisch-genetische Auslegung: Die vorbereitenden Arbeiten (travaux préparatoires) sind gem. Art. 32 WVK nur hilfsweise heranzuziehen, um Unklarheiten aufzuklären, die nach Anwendung der anderen Auslegungsmethoden noch bestehen.
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San Juan River (IGH 2009)[34]
Costa Rica und Nicaragua stritten über den Umfang der Schiffereirechte Costa Ricas auf dem Grenzfluss San Juan. Im Mittelpunkt stand eine Klausel im Grenzvertrag von 1858, die Costa Rica das Recht zur Schifffahrt „con objetos de comercio“ zubilligte. Während Costa Rica diese Formulierung weit deutete („mit wirtschaftlicher Zielsetzung“) nahm Nicaragua eine enge Interpretation vor („mit Handelsgütern“).
Der IGH folgte im Grundsatz der Auffassung Costa Ricas, wenn auch mit einigen Einschränkungen. Während die Wendung „con objetos de“ im Wortlaut uneindeutig sei, spreche der systematische Zusammenhang für eine weite Auslegung: Das enge Verständnis ließe den Satz bedeutungslos werden; ein anderer Artikel des Vertrages, der auch von „objetos“ spricht, wurde zum Vergleich ebenso herangezogen wie ein anderer Vertrag zwischen den Streitparteien aus dem Jahr 1857. Auch den Begriff „comercio“ legte der IGH weit aus. Es handle sich um einen Gattungsbegriff (generic term), bei dem es wegen der unbestimmten Vertragsdauer dem Willen der Vertragsparteien entspreche, ihn dynamisch auszulegen. Maßgeblich sei daher, was aktuell unter dem Begriff zu verstehen sei, nicht was man 1858 unter „comercio“ verstanden habe. Daher falle auch der kommerzielle Personenverkehr darunter.