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3. Unzulässige Vorbehalte
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Die Behandlung unzulässiger Vorbehalte ist umstritten. Nach Art. 19 WVK sind Vorbehalte unzulässig,
(a) | wenn der Vertrag sie explizit verbietet, |
(b) | wenn der Vertrag nur bestimmte Vorbehalte zulässt oder |
(c) | wenn sie mit Ziel und Zweck des Vertrages unvereinbar sind. |
Während die Frage der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit eines Vorbehalts in den Fällen (a) und (b) in der Regel ohne Schwierigkeiten zu beantworten ist, eröffnet die Frage, ob ein Vorbehalt mit Ziel und Zweck unvereinbar ist, größere Interpretationsspielräume.
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Umstritten ist, ob (die in der Praxis zahlreichen) Vorbehalte zu Menschenrechtsabkommen generell unzulässig sind, weil sie Sinn und Zweck solcher Abkommen zuwiderlaufen.[22] Während der IGH in einem frühen Gutachten zur Völkermord-Konvention Vorbehalte auch bei menschenrechtlichen Abkommen im Prinzip für möglich gehalten hat,[23] hat der UN-Menschenrechtsausschuss (Human Rights Committee) für den IPBPR die Zulässigkeit von Vorbehalten weitgehend verneint und für sich das Recht reklamiert, über die Frage der Zulässigkeit konkreter Vorbehalte zum Zivilpakt zu entscheiden.[24] Gerade wenn man von der Unteilbarkeit der Menschenrechte ausgeht (Rn. 613–619) und diese letztlich aus der Würde des Menschen fließen (vgl. Präambel und Art. 1 AEMR), passen Vorbehalte nur schlecht zum normbildenden Charakter solcher Abkommen.[25] Gleichwohl wird man zu differenzieren haben: Soweit Menschenrechtsgarantien dem zwingenden Völkerrecht zuzurechnen (ius cogens) sind, sind Vorbehalte von vornherein unzulässig. Ebenso sind Vorbehalte unzulässig, die die Pflicht zur Beachtung der Menschenrechte generell und in unspezifischer Weise relativieren.
Mehrere islamische Staaten haben ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen unter den Vorbehalt der Vereinbarkeit mit der Scharia gestellt. Besonders weitreichend waren bis 2011 die Vorbehalte Pakistans zum IPBPR. Hinsichtlich der Verpflichtungen aus Art. 3 (Gleichberechtigung von Männern und Frauen), Art. 6 (Recht auf Leben), Art. 7 (Folter und unmenschliche Behandlung), Art. 18 (Glaubens- und Gewissensfreiheit) und Art. 19 (Meinungsfreiheit) lautete der Vorbehalt: „The Islamic Republic of Pakistan declares that the provisions of Articles 3, 6, 7, 18 and 19 shall be so applied to the extent that they are not repugnant to the Provisions of the Constitution of Pakistan and the Sharia laws.“ Dieser Vorbehalt war – wie vergleichbare Vorbehalte anderer islamischer Staaten zum IPBPR und anderen menschenrechtlichen Abkommen – insbesondere von europäischen Staaten als unzulässig zurückgewiesen worden.
Wo es um konkrete Ausprägungen geht, die nicht zum Kanon der gewohnheitsrechtlich fundierten Rechte gehören, können Vorbehalte jedoch nicht von vornherein als unzulässig gelten. Das gilt auch, wenn – in diskriminierungsfreier Weise – bestimmte Sachbereiche von der Geltung menschenrechtlicher Bestimmungen ausgenommen werden. In solchen Fällen bleibt aber eine Prüfung nötig, ob der Vorbehalt in concreto gegen Sinn und Zweck des Vertrages verstößt oder unvereinbar mit dem Wesensgehalt eines in dem Vertrag für nicht-derogierbar erklärten Rechts ist.[26]
So haben z. B. mehrere Monarchien Vorbehalte gegen Art. 3 IPBPR eingelegt, um die in ihren Verfassungen vorgesehene männliche Erbfolge vor dem Verdikt der Paktwidrigkeit zu schützen. Mit einem Vorbehalt hat Deutschland versucht sicherzustellen, dass seine Verpflichtungen aus der UN-Kinderrechtekonvention nicht die ausländerrechtliche Ausweisung und Abschiebung von Kindern untersagen. Der politisch umstrittene, aber wohl rechtlich zulässige Vorbehalt wurde 2010 zurückgezogen.
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Die Rechtswirkungen unzulässiger Vorbehalte regelt die WVK nicht. Wer die staatliche Souveränität in den Mittelpunkt stellt, hält auch unzulässige Vorbehalte für annahmefähig. Da Art. 19 WVK keine Antwort gebe, stehe es im souveränen Belieben der Vertragsparteien, auch an sich unzulässige Verträge anzunehmen und wirksam werden zu lassen. Dies jedoch hieße, dass zwischen unzulässigen und zulässigen Vorbehalten kein Unterschied bestünde. Art. 19 WVK wäre überflüssig. Eine solche Interpretation verstößt gegen die Auslegungsmaxime ut res magis valeat quam pereat.[27] Implizit trifft Art. 19 WVK somit eben doch eine Aussage: Unzulässige Vorbehalte sind unwirksam.
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Eine andere Frage ist, wer v. a. bei Art. 19 lit. c WVK die Unvereinbarkeit mit Sinn und Zweck feststellt. Für Abkommen wie den IPBPR, die über ein Vertragsorgan verfügen, das auch für die Interpretation des Abkommens zuständig ist, spricht vor allem das Interesse an Rechtsklarheit dafür, diesem Organ auch dann die primäre Kompetenz zur Beurteilung zuzuordnen, wenn es nicht generell „authentischer Interpret“ des Vertrages ist. Ansonsten wird man den Staaten einen gewissen Einschätzungsspielraum zubilligen müssen, ob ein Vorbehalt gegen Sinn und Zweck verstößt oder nicht.
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Nimmt man Unwirksamkeit an, stellt sich die weitere Frage, ob der Staat, der den unwirksamen Vorbehalt erklärt hat, vorbehaltlos an den Vertrag gebunden ist oder ob die Vertragsbindung insgesamt entfällt. Der vollständige Wegfall der Vertragsbindung entspräche dem Grundanliegen der absoluten Konsenstheorie, wäre aber weder dem Ziel größtmöglicher Beteiligung zuträglich noch stets interessengerecht. Sofern nicht feststeht (durch ausdrückliche Erklärung oder auf andere Weise), dass der betreffende Staat nur unter Geltung des fraglichen Vorbehalts Vertragspartei zu werden beabsichtigte, ist er nach Auffassung der ILC vorbehaltlos an den Vertrag gebunden.[28] Dies erscheint sachgerecht: Das Risiko einer Unwirksamkeit des Vorbehalts hat der Staat selbst gesetzt und sollte es auch tragen. Da Vorbehalte Ausnahmecharakter haben, sollte das Bekenntnis zum Vertrag auch dann überwiegen, wenn ein Vorbehalt sich wegen Unzulässigkeit als unwirksam erweist. Schließlich bleibt dem Staat immer noch die Möglichkeit, sich vom Vertrag wieder zu lösen. Diese Option soll der ILC zufolge eingeschränkt sein, wenn die Unwirksamkeit des Vorbehalts von einem besonderen Vertragsorgan festgestellt worden ist. Zwar dürfte in einem solchen Fall längeres Schweigen tatsächlich zu einer Verwirkung des „Rechts zum Rückzug“ schon nach geltendem Völkerrecht führen; die von der ILC angegebene Frist von 12 Monaten ist allerdings ein Vorschlag de lege ferenda. Eine regelmäßig vorbehaltlose Bindung des betreffenden Staates nehmen insbesondere der EGMR für die EMRK und der UN-Menschenrechtsausschuss für den IPBPR an.[29]
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Fall: Unter Vorbehalt
Kurulien ist ein islamischer Staat in Zentralasien. Neben den kurulischen Volksstämmen lebt im Süden des Landes die ethnische Minderheit der Liktorer, die nach einem eigenen Staat streben. Die kurulische Regierung hält demgegenüber an dem Prinzip der Einheit der Nation fest, wonach alle Staatsbürger dieselben Rechte haben und ethnische Zugehörigkeiten keine Rolle spielen. Anlässlich seines Beitritts zum IPBPR gibt Kurulien folgende „Interpretationserklärung“ ab: „1. Sämtliche Rechte der Konvention werden von Kurulien im Einklang mit der Scharia ausgelegt und angewendet. 2. Aus Art. 27 folgt keine Verpflichtung zur Einräumung von Sonderrechten, die mit dem Prinzip der Einheit der Nation unvereinbar wären. 3. Art. 26 kann nicht als Grundlage eines kollektiven Schutzes ethnischer Minderheiten herangezogen werden.“ Welche Rechtswirkungen hat diese Erklärung?
Lösungshinweise:
Erklärung Nr. 1: Zwar bezieht sich die Erklärung primär auf die Auslegung des IPBPR; Sinn und Zweck internationaler Menschenrechtspakte ist jedoch, dass das nationale Recht im Einklang mit diesen ausgelegt wird – nicht umgekehrt. Die Scharia kann aus Sicht des IPBPR kein höherrangiges Recht sein. Die Erklärung beinhaltet die reale Gefahr der Verkürzung von Paktrechten, namentlich der Gleichberechtigung von Mann und Frau (Art. 3, 26), der Freiheit zur Eheschließung (Art. 23) und der Religionsfreiheit (Art. 18 IPBPR). Sie ist daher als Vorbehalt einzustufen. Indem er die Paktgarantien generell dem Recht der Scharia unterordnet und in seiner Unbestimmtheit die Reichweite der Einschränkungen nicht erkennen lässt, verstößt der Vorbehalt gegen Sinn und Zweck. Soll Art. 19 WVK nicht sinnlos sein, ist der unzulässige Vorbehalt unwirksam. Da Kurulien die Situation selbst verursacht hat und es ihm freisteht, sich vom IPBPR wieder zu lösen, ist von einer insoweit vorbehaltlosen Bindung auszugehen.
Erklärung Nr. 2: Zwar spricht Art. 27 IPBPR nur von einem Recht, das nicht vorenthalten werden darf; ein solches Recht können Minderheiten jedoch nur ausüben, wenn ihnen ein Sonderstatus zugestanden wird. Die Erklärung zielt also auf eine Beschränkung von Art. 27 IPBPR und ist somit ein Vorbehalt. Dieser Vorbehalt bezieht sich nur auf eine einzelne Paktnorm, die nicht im Zentrum des IPBPR steht. Hinzu kommt, dass Kurulien nicht die Gewährung von Sonderrechten generell ausschließt, sondern nur solche Rechte, die das Prinzip der Einheit der Nation bedrohen. Der Vorbehalt ist somit zulässig und wirksam.
Erklärung Nr. 3: Die von Kurulien ausgeschlossene Interpretation ist kein notwendiger, sondern nur ein möglicher Inhalt von Art. 26 IPBPR. Kurulien möchte nur ausschließen, dass sein Vorbehalt zu Art. 27 IPBPR leerläuft, weil die Aussage dieser Norm in Art. 26 IPBPR hineingelesen wird. Dieser systematische Zusammenhang zwischen den beiden Artikeln unterstreicht, dass es sich lediglich um eine Interpretationserklärung handelt, die ohne weiteres zulässig ist.