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Nach der Kälte kommt die Hitze

Die Trail Days in Hot Springs haben bereits mit hohen Temperaturen aufgewartet und der Wetterbericht verspricht im Moment keine Änderung. So starten wir bereits im Morgengrauen, um die kühlere Zeit zu nutzen. Bald heizt die Sonne aber richtig ein und das Thermometer zeigt 30° Celsius an. Es ist kaum zu glauben, vor einer Woche kämpften wir uns noch durch einen Eissturm und heute quälen wir uns bei drückender Hitze den Berg hinauf. Baltimore Jack, der alte Fuchs, hat uns aber vorgewarnt: «Nehmt genug Wasser mit oder die Hitze bricht euch das Genick!»

Bei unserer ersten Rast treffen wir einen unbekannten Hiker. Er nennt sich Two legged gaited mule, also zweibeiniges Maultier. Der Name passt, denn sein Rucksack übertrifft alles an Grösse und Gewicht, was wir bisher gesehen haben. 75 Pfund wiegt das Teil, also 34 Kilogramm. Er leistet sich sogar den Luxus, eine Dose Bier mitzuführen, die erst auf dem Mount Katahdin getrunken werden soll.

Abgesehen vom Thema «ultraleicht» gibt es gewisse Richtwerte, wie schwer ein beladener Rucksack in etwa sein darf. 20 Prozent des eigenen Körpergewichts ist gut, 25 Prozent geht noch knapp aber wie steht es mit 33 Prozent? Ursula und ich gehören leider zur bedauernswerten letzten Kategorie wie auch das zweibeinige Maultier.

Wie es Two legged gaited mule jeweils schafft, sein Gepäckstück ohne fremde Hilfe wieder zu schultern, bleibt uns ein Rätsel. Wir haben ja schon Mühe mit unseren eigenen Lasten. Man braucht den nötigen Schwung, um den Rucksack auf den Rücken zu bringen. Dabei muss man achtgeben, dass einen das Gewicht nicht gleich von den Beinen reisst. Wir haben es uns deshalb angewöhnt, uns gegenseitig zu helfen. Ich hebe Ursulas Rucksack auf die richtige Höhe an, so dass sie ganz bequem in die Träger schlüpfen kann. Umgekehrt handhaben wir es ebenso.

«Achtung! Stopp!» schreit Ursula von hinten. Ich bleibe wie angewurzelt stehen und frage: «Achtung was?» «Mach doch deine Augen auf! Da, gleich vor deinen Füssen, eine Schlange!» Tatsächlich, es ist eine Black Rat Snake oder auch Erd- oder Bergnatter genannt. Sie ist für uns völlig harmlos und nicht giftig. Ihre Beute bringt sie durch Erwürgen um. Dieses schöne Exemplar ist wohl gegen zwei Meter lang. Sie liegt mitten auf dem Weg und sonnt sich. Bei diesen Temperaturen müssen wir in Zukunft bestimmt öfters mit solchen Begegnungen rechnen, auch mit Arten, die gefährlicher sind.

Die Hitze macht uns zu schaffen. Uns scheinen die Berge dadurch steiler zu sein, als sie in Wirklichkeit sind. Manche Aufstiege klassiere ich als «beinahe überhängend». Eigentlich sind wir topfit, aber wir haben irgendwie das Gefühl, wieder bei null anzufangen.

Wir müssen jetzt auch grössere Mengen Wasser mitschleppen. Zweimal haben wir die Erfahrung machen müssen, dass eine erwartete Quelle wegen der Trockenheit bereits versiegt war. Vor allem gegen Feierabend füllen wir sämtliche Behältnisse, nehmen also insgesamt acht Liter mit, so dass wir an unseren Übernachtungsplätzen nicht unbedingt auf Frischwasser angewiesen sind.

Wir haben zwei Systeme zur Wasserdesinfektion dabei. Für klares Wasser benützen wir Micropur-Tabletten, die, mittels Silberionen, Bakterien abtöten. Allerdings muss man die Ionen zwei Stunden einwirken lassen. Soll es schneller gehen oder bei verschmutztem Wasser, benutzen wir unseren Katadyn-Keramikfilter. Mit diesem haben wir den Vorteil, dass wir uns auch stark verschmutzte Rinnsale noch nutzbar machen können.

Für die 68 Meilen von Hot Springs nach Erwin benötigen wir fünf Tage, fünf Tage schweisstreibendes Auf und Ab. Wenn wir vorher Regen und Kälte verflucht haben, so freuen wir uns jetzt an jeder Bewölkung und an jedem Tropfen, der vom Himmel fällt. Oft regnet es aber in der Nacht und hört bei Tagesanbruch auf. Immerhin kühlt es soweit ab, dass wir herrlich schlafen können. Trail Magic wird seltener. Nur bei Sam’s Gap schlägt das Glück wieder einmal zu. Wir finden zwei Packungen gefriergetrocknete Lasagne und vier Dosen Thunfisch am Strassenrand. Das gibt heute Abend ein Festessen!

Die letzten elf Meilen nach Erwin sind die einfachsten, denn es geht mehrheitlich bergab. Das Einfache verursacht leider ein Nachlassen meiner Konzentration. Ich stolpere und will einen Sturz vermeiden. Ich zerre mir dabei die Muskulatur oder die Sehnen am rechten Schienbein. Die letzten Meilen sind ein einziges Gehumpel den Berg hinunter bis zu Uncle Johnny’s Nolichucky Hostel.

Gefahren auf dem Trail

• Bären

Die Bärenpopulation ist stark zunehmend, vor allem im Shenandoah Nationalpark und in den Staaten New Jersey und New York. Übergriffe auf den Menschen sind nur sehr selten dokumentiert und sind in der Regel auf falsches Verhalten zurückzuführen.

• Schlangen

Die giftigen Arten sind Rattlesnake (Klapperschlange) und Copperhead (Nordamerikanischer Kupferkopf oder Mokassinschlange), wobei wir letztere nie zu Gesicht bekommen haben. Die Copperheads sollen in Gruppen jagen und sehr agressiv sein. Allerdings sind sie nur in der Dämmerung und in der Nacht aktiv.

Unfälle mit Schlangen kommen nicht oft vor. Meist sind es Bisse in die Hand, beim Versuch eine Schlange zu fangen.

• Wilde Bienen

Bienenangriffe können vorkommen. Wenn sie ihr Nest sehr nahe am Trail gebaut haben, so verteidigen sie ihr Revier. Ein kurzer Spurt reicht aus und sie geben die Verfolgung auf.

• Spinnen

Die wohl giftigste Spinne ist die Brown Recluse Spider (Braune Einsiedlerspinne). Ihr Biss ist mit einem Wespen- oder Bienenstich zu vergleichen und in der Regel harmlos.

• Zecken

… sind wohl die grösste Gefahr auf dem Trail. Vor allem die Staaten New Jersey und New York sind geradezu zeckenverseucht. Die Zecken, auch Holzbock genannt, gehören zur Gattung der Spinnentiere und können verschiedene Krankheiten übertragen. Die Frühsommer-Meningoenzephalitis (Hirnhautentzündung) ist eine Virusinfektion, die aber nur selten vorkommt. Viel häufiger ist die Lyme Borreliose (engl. Lyme Desease), eine Bakterieninfektion, die Haut, Gelenke, Bänder, Nervensystem und Herz befallen kann. Gegen diese Krankheit kann man mit Antibiotika vorgehen. Bei zu später Behandlung muss man mit bleibenden Schäden rechnen.

Uns sind mindestens ein halbes Dutzend Hiker bekannt, welche sich zeitweilig wegen Zeckenbissen in ärztliche Obhut begeben oder den Trail komplett abbrechen mussten.

Gegenüber einer weitverbreiteten Meinung sitzen Zecken nicht auf Bäumen! Sie halten sich in Bodennähe auf, auf Gräsern und niederem Gestrüpp. Geschlossenes Schuhwerk und das Stülpen der Hosen in die Socken bieten den zuverlässigsten Schutz.

• Stachelschwein, Waschbär & Co.

… sind vor allem auf Lebensmittel aus, lieben aber auch salzige, durchgeschwitzte Kleidungsstücke und Schuhe. Ich habe einmal beobachtet, wie ein Weisswedelhirsch ein paar Socken von der Wäscheleine aufgefressen hat. Unangenehmer ist es aber, am Morgen ohne Schuhe dazustehen!

• Gewitter und Blitzschlag

Umfallende Bäume und Blitze sind Gefahren, durch die jedes Jahr Hiker zu Schaden kommen. Vor diesen Naturgewalten habe ich persönlich am meisten Respekt. Sogar im dichten Wald hat zweimal ein Blitz in unserer unmittelbaren Nähe eingeschlagen.

• Poison Ivy – Kletternder Gift-Sumach

… ist ein giftiger Strauch, der bei Hautkontakt allergische Reaktionen hervorrufen kann. Urushiol, sein Milchsaft, ist eines der stärksten pflanzlichen Allergene, das die Natur zu bieten hat. Je nach Sensibilität kann der Ausschlag von einer juckenden Rötung bis hin zu dicken hässlichen Blasen gehen. Die Wunden sehen dann aus wie bei einer schweren Verbrennung. Dafür kann bereits eine leichte Berührung der Pflanze reichen.

• Stürze

… sind vor allem bei nassen Bedingungen an der Tagesordnung. Gefährlich wirds ab Pennsylvania. Das Gelände wird immer felsiger und erfordert zum Teil haarsträubende Klettereien. Kommt das Gewicht am Rücken erst einmal in Bewegung, helfen auch die Wanderstöcke nicht mehr viel.

Für Roberta von den Recycled Teenagers war der Trail kurz vor der New Jersey – New York State Line zu Ende: Einen 10-Meter Absturz überlebte sie nur dank ihres Rucksackes. Sie brach sich das Schlüsselbein und einige Rippen und zog sich einen Schädelbruch zu, unter dem sie noch lange litt.

Dies ist sicher ein sehr unglückliches und extremes Beispiel, doch sollte man sich stets bewusst sein, dass bei Unfällen eine Rettung sehr schwierig ist und lange dauern kann

• Dehydration

Die Wasserbeschaffung kann in heissen Sommern zum Problem werden. Wenn sämtliche Quellen ausgetrocknet sind, muss man unter Umständen ganz ins Tal absteigen, um Wasser zu besorgen. Thru-Hiker sind in der Regel gut informiert und wissen genau, wieviel sie brauchen und wo sie es herkriegen.

• Unterkühlung

Thru-Hiker haben normalerweise alles Nötige dabei, um einer Unterkühlung zu entgehen. Bei Tages- und Wochenendtouristen sieht es anders aus. Auf dem Mount Washington in New Hampshire hängt eine lange Liste mit den Namen der Toten und den Umständen, wie sie umgekommen sind!

• Selbstüberschätzung

Intelligenz auf dem Trail bedeutet, auf die Zeichen seines Körpers zu achten und wenn nötig eine längere Erholungspause einzulegen oder sich auch eingestehen zu können, dass man es nicht schafft. Es gibt immer Leute, die dazu nicht in der Lage sind, die den Trail um jeden Preis beenden wollen. Jeder Preis bedeutet, bewusst oder unbewusst bleibende Schäden in Kauf zu nehmen. In guter Erinnerung sind mir Diskussionen darüber, welchen Medikamentencocktail (vor allem Schmerzmittel) es in welcher Dosierung erträgt, um keinen Schaden zu nehmen.

Bei Sherpa Light war es zu viel des Guten. Mit schwersten Magenblutungen wurde er ins Spital eingeliefert und er hat nur knapp überlebt. Kaum wieder auf den Beinen wanderte er in ähnlicher Art und Weise weiter.

Ein Hiker mit dem makaber klingenden Namen Crash blieb mit Kreislaufkollaps auf dem Trail liegen. Jede Hilfe kam zu spät.

Ein uns unbekannter Hiker starb an einem Hirnschlag. Ob dieser Todesfall unglückliches Schicksal war oder auch eine Folge von Überanstrengung, entzieht sich unserer Kenntnis.

Wacky Jackie hat ihrer todkranken Freundin versprochen, den Trail an ihrer Stelle zu gehen. Sie hat es geschafft, war aber nur noch ein Schatten ihrer selbst und war danach gesundheitlich nicht mehr in der Lage, ihre neue Arbeitsstelle anzutreten.

• Menschen

Der AT ist ein sehr sicherer Weg. Auf unserer gesamten Wanderung ist uns überhaupt nichts über Diebstähle zu Ohren gekommen, auch nichts über sexuelle Belästigungen. Ich wette, Baltimore Jack hätte uns alle darüber informiert.

Unangenehme Zwischenfälle kann es allenfalls an Wochenenden geben, wenn Hütten in Strassennähe von Jugendlichen zum Partymachen genutzt werden.

In grösseren Ortschaften gilt es, die übliche Vorsicht walten zu lassen, wie bei jeder anderen Reise auch.

Keine Regel ohne Ausnahme: Im Mai 2019 griff ein psychisch kranker Mann eine 4-köpfige Gruppe Hiker mit einer Machete an. Traurige Bilanz: Ein Toter und eine Schwerverletzte.

Der Appalachian Trail

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