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2.3 Das Ressentiment nach Max Scheler
ОглавлениеIn Anlehnung an Nietzsche hat sich auch Max Scheler mit dem Phänomen des Ressentiments auseinandergesetzt, das er in seinem Buch Das Ressentiment im Aufbau der Moralen als „seelische Selbstvergiftung“1 definiert. Als „dauernde psychische Einstellung“2 entsteht diese „durch systematisch geübte Zurückdrängung von Entladungen gewisser Gemütsbewegungen und Affekte“,3 wie zum Beispiel Rache, Haß oder Neid. Insbesondere die „Furcht und Angst vor jenen, auf welche die Affekte bezogen sind“,4 hat Scheler als Ausgangspunkt der Ressentimentgenese hervorgehoben, und so wird die Rache immer wieder verzagt auf einen späteren Zeitpunkt verlegt, ohne je ausgeführt zu werden.
Während sich der einfache Racheimpuls noch auf ein bestimmtes Objekt bezieht, geht es bei der zur Einstellung gewordenen Rachsucht um ein triebartiges Aufsuchen von Vorfällen, die Anlass zur Empörung geben können, und ein darauffolgendes „Herabziehen und Vom-Sockel-Reißen“5 ermöglichen. Da die gesamte Persönlichkeit des Schwachen vom Gift des Ressentiments durchflossen ist, sehnt dieser sich gemäß Scheler geradezu nach Anlässen zum Schimpfen, Schelten und Klagen und lehnt im Grunde seines Herzens „jede Abhilfe der als mißlich empfundenen Zustände“6 ab. Um seine Verbissenheit und „Verbitterung“7 stets aufs Neue zu rechtfertigen, verleumdet er Dasein und Welt durch eine dauernde „Fälschung des Weltbildes“.8 Beim Kontakt mit Ressentimenterfüllten warnt Scheler stets vor der Gefahr einer Übertragung und Ansteckung durch „das ungemein kontagiöse seelische Gift des Ressentiment“.9
Im Gegensatz zu Nietzsches Hypothese, insbesondere die christliche Moral sei aus dem Ressentiment erwachsen, verortet Scheler den Geist der Rache vor allem im „Kern der bürgerlichen Moral“.10 Auch wenn er die Scheinliebe vieler „Ressentimentchristen“11 und das „Apostatenressentiment[ ]“12 des sich an den inständig erhofften Qualen der Sünder im Höllenfeuer ergötzenden Tertullian einräumt, erscheint ihm „die Wurzel der christlichen Liebe von Ressentiment völlig frei“.13
Die bürgerlichen Gesellschaften hingegen, in denen sich aufgrund einer politisch-verfassungsmäßigen Gleichberechtigung jeder mit jedem vergleichen kann, ohne jedoch die gleiche faktische Macht erlangen zu können, sind seiner Ansicht nach geeignete Strukturen für die Erzeugung großer Mengen seelischen Dynamits. Im Gegensatz zum indischen Kastensystem, das jedem seinen festen Platz in der Gesellschaft zuweist, führen die durch moderne Rechtsstellung beim Einzelnen geschürten hohen inneren „Ansprüche (…) bei nicht angemessener äußerer sozialer Stellung“14 zwangsläufig zum Entstehen von Rachegefühlen. Da auch die bürgerlichen Gesellschaften der Gegenwart auf modernen Verfassungen mit vielfältigen Grundrechten aufbauen, sind Schelers Ressentimentanalysen für die vorliegende Untersuchung von Relevanz. Von dem „Sprengsatz“,15 der in der paradoxen Struktur moderner Ideologien begründet liegt, handelt auch Peter Sloterdijks letztes Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, das im Rahmen der Arbeit Erwähnung finden wird.
Besonders interessant für die folgende Untersuchung erscheint Schelers Beobachtung, dass die Werte der modernen bürgerlichen Moral tief im Ressentiment wurzeln. Im hohen Stellenwert der Arbeit in bürgerlichen Gesellschaften bekundet sich seiner Ansicht nach ein „spezifisch moderner Asketismus“,16 den er als Zeichen einer Umwertung der Werte im Rahmen der Sklavenmoral betrachtet. Während in der Antike und auch im Mittelalter das Nützliche in den Dienst des Angenehmen gestellt wurde, und die Arbeit lediglich der Steigerung des Genusses diente, erfolgte in der Moderne eine Werteverschiebung, bei der das Tätigsein zum Selbstzweck avancierte und dem Genießen übergeordnet wurde. Ursache dieser Umwertung war der Hass des genussunfähigen Schlechtweggekommenen auf die „höhere Genußfähigkeit“17 des Lebensreichen, welche den ursprünglichen Vorzugswert darstellte.
Auch den Wert des „Selbsterarbeiteten und -erworbenen“,18 der das Denken und Handeln der Bürger moderner Gesellschaften leitet, führt Scheler auf den geheimen Rachedurst der Schwachen an dem „Träger der besseren Natur“19 zurück. Die Genuss- und Konsumgüter, die von den Ressentimentmenschen durch unermüdliche Arbeit angehäuft werden, können sie letzten Endes jedoch nicht genießen, und so kommt es zum generalisierten Phänomen von „sehr traurigen Menschen“20 in modernen Spaßgesellschaften.
Auch in der „Erhebung des Nützlichkeitswertes über den Lebenswert überhaupt“21 erkennt Scheler die Wertungsweise der Sklavenmoral. Galt im Naturrecht der alten Moral allein das Dasein eines Menschen als Rechtfertigung seiner Existenz, so entstand in den bürgerlichen Gesellschaften die Vorstellung, jeder müsse sich sein Recht zum Dasein erst durch Arbeit verdienen. Ausschlaggebend war von nun an der Nutzen, den der Einzelne für die Gesellschaft darstellte. Diese die Vielgestaltigkeit des Lebens verleugnende Umwertung bildete eine der Grundlagen für das Entstehen der modernen Leistungsgesellschaften.
Die Idee der „modernen allgemeinen Menschenliebe“,22 deren Verbreitung in bürgerlichen Gesellschaften zum Ausbau von Einrichtungen der allgemeinen Wohlfahrt im großen Stil geführt hat, führt Scheler als weiteres Beispiel für im Ressentiment wurzelnde Wertschätzungen an. Im Gegensatz zu der, auf die Entfaltungsmöglichkeiten des anderen Menschen gerichteten, echten Liebe, orientiert sich die humanitaristische Schein- und Nächstenliebe seiner Ansicht nach am Niedrigen des Menschen, „was ‚verstanden‘ und ‚entschuldigt‘ werden muß“.23 In der verständnisvollen Feststellung, der andere sei „eben auch ein Mensch“,24 erkennt Scheler den „geheimen glimmenden Haß gegen die positiven höheren Werte“,25 welche nur von den wenigen „Glücksfälle[n]“26 der Menschheit verkörpert werden. Zudem betrachtet er die allgemeine Menschenliebe als verdrängte Ablehnung Gottes und der von ihm geschaffenen Welt voll „Schmerz, (…) Übel und Leid“.27 Für eine Untersuchung des Sprachspiels der Psychiatrie, das einen Teilbereich des Gesundheitssystems konstituiert und sich in unterschiedlichen Einrichtungen der modernen Wohlfahrt entfaltet, erscheinen Schelers Ressentimentanalysen von eminenter Bedeutung.