Читать книгу Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven - Barbara Gründler - Страница 20
5.1 Die Schwäche des Bruchstück-Menschen – das ADHD, die Borderline-Persönlichkeitsstörung und die Paranoide Psychose
ОглавлениеBei der Schwäche des Schlechtweggekommenen, die als Ausgangspunkt und Grundlage für die Ressentimententwicklung betrachtet werden kann, handelt es sich nach Nietzsche um eine ungeheure, in einer ganzheitlichen Leibverfassung begründete, „Erkrankung des Willens“.1 Um diese Willenserkrankung beschreiben zu können, sollen in einem ersten Schritt Nietzsches philosophische Überlegungen zum Willen in gebotener Kürze dargestellt werden.
Da alles Wollen gemäß Nietzsche „Etwas-Wollen“2 bedeutet, und somit auf eine Machterweiterung gerichtet ist, verwirft er die Idee eines Willens „an sich“ als „bloße Abstraktion“.3 Stattdessen verwendet er in allen Belangen des Wollens stets den dynamischen Begriff des „Willens zur Macht“, den er zu einer Grundkategorie seiner Philosophie erhebt.
Der Wille zur Macht ist bei Nietzsche der „energetische[ ] Impuls allen Geschehens“,4 ohne den sich alles Seiende in Ruhe befinden würde. Als Grundprinzip jeglichen Lebens betrachtet er den Willen zur Macht als expansive Kraft und großen Beweger aller Lebensprozesse. So lässt er Zarathustra sagen: „Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht“5 und „wo der Wille zur Macht fehlt, giebt es Niedergang“.6
Der Wille zur Macht strebt nicht, wie man zunächst annehmen könnte, nach einer letztgültigen Verwirklichung und „Zielsetzung der Macht“,7 die der sich ständig im Fluss befindlichen Vielheit des Lebens ein Ende bereiten könnte. Jegliches Ziel menschlichen Handelns betrachtet Nietzsche nur als beschönigenden Vorwand, ein „Streichholz“8 im Vergleich zur Ursache des Handelns, ein mit einer „Pulvertonne“9 verglichenes „Quantum von aufgestauter Kraft, welches darauf wartet, irgend wie, irgend wozu verbraucht zu werden“.10 Die Entladung benötigt einen Impuls, um wirksam zu werden. „Lust und Unlust“11 betrachtet Nietzsche als Hauptimpulse.
Das expansive und explosive Element im Willen zur Macht bewirkt fortwährende Prozesse von Kraftfeststellungen zwischen den Lebewesen, und führt nach Nietzsche zu der Annahme einer „agonalen, dynamischen Pluralität am Grunde des Seins“.12 In den ungeheuren und grausamen Machtkämpfen in der Natur erkennt er „Willens-Punktationen, die beständig ihre Macht mehren oder verlieren“,13 und die er mit einem „Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, (…) mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten“14 vergleicht. In den Auseinandersetzungen müssen die jeweils schwächeren Kontrahenten unterliegen. Ein „Mehr oder Weniger an Macht“15 entscheidet darüber, ob die Antagonisten „dem Typus des aufsteigenden oder dem des niedergehenden Lebens zugeordnet“16 werden. Die Typen werden dabei unter Berücksichtigung des Gesamtkontextes bestimmt und stellen nur relative Begriffe dar.
Da das Quantum an Gesamtkraft nach Nietzsche begrenzt ist, kann eine bestimmte Kraft „niemals unendlich wachsen“17 und desorganisiert sich auf dem Höhepunkt ihrer Macht, so dass Nietzsche feststellt: „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung: so will es das Gesetz des Lebens.“18
Bei einer Untersuchung der Willenserkrankungen soll vor allem ein Teilaspekt Nietzsches ontologischer Gesamtdeutung aller Lebensprozesse unter dem Gesichtspunkt des Willens zur Macht beleuchtet werden. Dabei handelt es sich um den Willen zur Macht als „psychologische Formel für die Selbstüberwindung und -steigerung“.19 Ausgelöst durch die Hauptimpulse Lust und Unlust, nimmt dieser in einem Willensakt Gestalt an:
„Bei Lust und Unlust wird zuerst die Thatsache abtelegraphirt an die nervösen Centren, dort der Werth der Thatsache (der Verletzung) bestimmt, (…) und sofern Gegenhandlungen dadurch veranlaßt werden“,20 ein Willensakt inauguriert. Die Einleitung des Willensaktes entsteht durch den inneren Kampf „einer Vielheit von Willens- oder Kraftquanten, die jeweils ihre Perspektive durchzusetzen suchen“.21 Gedanken, Werturteile und „eine Mehrheit von Gefühlen“22 treten dabei in Wettstreit. Jede dieser Kräfte versucht, „sich selbst absolut zu setzen“23 und Herr über alle anderen Kräfte zu werden. Bei einer Unlust hervorrufenden Kränkung zum Beispiel „drängt“ der Angstaffekt meist zu Handlungsverzicht und Rückzug, der Affekt des Zorns hingegen auf eine Gegenreaktion, etc.
Im Aufeinanderstoßen der unterschiedlichen Kräfte wird eine Einigung notwendig, bei der verwandte Teilkräfte konspirieren, sich „zu einem Ganzen“24 ordnen und „zur Macht“25 streben. Indem „einzelne Kraftzentren unter Aufgabe ihres Absolutheitsanspruches in gegenseitiger Verschränkung ein komplexes Ganzes bilden“,26 wird der konkrete Wille sichtbar.
Der Wille ist als „Resultante“27 zu beschreiben, die „nothwendig auf eine Menge theils widersprechender, theils zusammenstimmender Reize folgt“,28 und in einer Handlung sichtbar wird. Das „alte Wort ‚Wille‘“,29 für welches „das Volk Ein Wort hat“,30 wird von Nietzsche somit für einen „complicirten“31 und komplexen Vorgang verwendet.
Den Willen bezeichnet Nietzsche auch als „Affect des Commandos“,32 der in Hinsicht auf die Kräfte, die gehorchen müssen, ein „Überlegenheits-Gefühl“33 zum Ausdruck bringt. Da der Wille sich selber befiehlt, bilden „Befehlen und Gehorchen“34 eine innerpsychische Einheit. Unmittelbar nach dem Akt des Willens stellen sich Nietzsches Beobachtungen zufolge bei den gehorchenden Kräften „Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens“35 und „Bewegens“36 ein.
Durch die Elemente Befehl und Gehorsam zeigt der Wille zur Macht die „Struktur eines Herrschaftsverhältnisses“.37 Das jeweils entstandene Herrschaftsgebilde stellt jedoch „keine starre, der Zeit enthobene Einheit dar“,38 da durch „Gunst und Ungunst der Umstände“39 neue Machtverteilungen entstehen können.
In jedem Willensakt kommt zum Ausdruck, dass das Leben „[s]teigen (…) und steigend sich überwinden“40 will. Schließlich besteht die Macht, nach der der Wille strebt, vor allem im „Herr-sein über sich“41 bzw. in der „Selbstüberwindung“.42 Da der Wille nur „hinsichtlich seiner selbst“43 und nicht „inbezug auf konkrete Inhaltlichkeit“44 betrachtet wird, kann der Wille zur Macht zunächst einmal als „Wille zur Macht über sich selbst“45 definiert werden. Je besser dieses Vermögen bei einem Menschen ausgeprägt ist, desto stärker wird seine Willenskraft.
Das Schaffen „des Einzelnen inbezug auf sich selber und auf andere“46 ist der „reinste[ ] Ausdruck“47 des Willens zur Macht. Als dionysisches Phänomen, das den Willen zum Leben zum Ausdruck bringt und in einer aktiven und schöpferischen Lebensgestaltung besteht, soll das Schaffen in Kapitel 7.3.2.7 näher erläutert werden. Es ist auf „Fortschreiten“48 und „Steigerung seiner Macht“49 ausgerichtet. Durch das Element der Bewegung im Schaffensprozess betont Nietzsche immer wieder den „Wirk- und Werdecharakter des Lebens“.50 Im Schaffen liegt für Nietzsche „des Lebens Leichtwerden“51 und das „einzige Glück“.52
Die dem Schaffen zugrunde liegende Überwindung des aktuell herrschenden Willens, der auf den „konkreten Bestand eines Geschaffenen“53 gerichtet ist, erzeugt Schmerz. Somit ist der Prozess der Selbstüberwindung nicht ohne Kampf, Unlust und Leiden zu verwirklichen. Um dies zu verdeutlichen, lässt Nietzsche Zarathustra sagen:
„Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. ‚Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss. (…) Dass ich Kampf sein muss und Werden und Zweck und der Zwecke Widerspruch: ach, wer meinen Willen erräth, erräth wohl auch, auf welchen krummen Wegen er gehen muss! ‚Was ich auch schaffe und wie ich’s auch liebe, – bald muss ich Gegner ihm sein und meiner Liebe: so will es mein Wille.“54
Die Überwindung stellt immer eine Tätigkeit dar, die „gegen etwas gerichtet“55 ist, und erzeugt primär Unlust. In jeder Aktion liegt nach Nietzsche notwendig „eine Ingredienz von Unlust“.56 Da nach der Überwindung des Widerstandes allerdings ein „Lustgefühl“57 entsteht, wirkt die ursprüngliche Unlust „als Reiz des Lebens: und stärkt den Willen zur Macht“.58 Lust entsteht nach Nietzsche somit nicht durch „die Befriedigung des Willens“,59 sondern dadurch, „daß der Wille vorwärts will und immer wieder Herr über das wird, was ihm im Wege steht: das Lustgefühl liegt gerade in der Unbefriedigung des Willens, darin, daß er ohne die Grenzen und Widerstände noch nicht satt genug ist“.60
Der Wille zur Macht „strebt also nach Widerständen, nach Unlust. Es giebt einen Willen zum Leiden im Grunde alles organischen Lebens (gegen ‚Glück‘ als ‚Ziel‘)“.61 Nietzsche schätzt die „Macht eines Willens darnach, wie viel von Widerstand, Schmerz, Tortur er aushält und sich zum Vortheil umzuwandeln weiß“.62 Aufgrund der Bedeutung des Schmerzes als „Moment des sich selbst überwindenden Lebens“,63 liegt es Nietzsche fern, „dem Dasein seinen bösen und schmerzhaften Charakter zum Vorwurf anzurechnen“.64
Die auf eine Willenserkrankung zurückgehende Schwäche als Grundverfasstheit des Ressentimentmenschen soll nun im Spannungsfeld zwischen Stärke und Schwäche näher untersucht werden.
In der bisherigen Untersuchung wurde deutlich, dass den Begriffen Stärke und Schwäche in Nietzsches Philosophie eine herausragende Bedeutung zukommen. Entscheidend für die Zuordnung der Erscheinungen des Lebens zum aufsteigenden oder absteigenden Typus ist das „Quantum Kraft“.65
Da Nietzsche das Leben als „unaufhörliches Aufeinanderwirken einer Pluralität von miteinander streitenden“66 Willen zur Macht deutet, müssen in den Konfrontationen immer wieder Kräfte unterliegen. Bei einer Kräftefeststellung zwischen zwei starken Gegnern ist der Verlierer zwar der „Schwächere“, muss dennoch aber nicht „schwach“ sein. Daher unterstreicht Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft, „dass ‚stark‘ und ‚schwach‘ relative Begriffe sind“67 und immer im jeweiligen Kontext betrachtet werden müssen. Beide sind notwendige Momente der „nie zur Ruhe“68 kommenden Strebung des Willens zur Macht, „die aus einem Gegenwärtigen hinaus will“.69
Nietzsche verwirft auch die Vorstellung „eines determiniert starken oder schwachen Menschen und einer dadurch bestimmten Empfindlichkeit fürs Ressentiment“.70 Für ihn sind Stärke und Schwäche „keinesfalls für immer gegebene Merkmale des Menschen (…) als eine Art charakteristisches Kennzeichen“.71 Als „willensphysiologische Angelegenheit“,72 die in einem „aktiven oder reaktiven Umgang mit Affekten“73 sichtbar wird, müssen Stärke und Schwäche handelnd immer wieder neu unter Beweis gestellt werden. Nietzsche verweist allerdings darauf, dass unsere Handlungen im Laufe des Lebens Spuren hinterlassen:
„Unsre Handlungen formen uns um: in jeder Handlung werden gewisse Kräfte geübt, andre nicht geübt, zeitweilig also vernachlässigt: ein Affekt bejaht sich immer auf Unkosten der anderen Affekte, denen er Kraft wegnimmt. Die Handlungen, die wir am meisten thun, sind schließlich wie ein festes Gehäuse um uns: sie nehmen ohne Weiteres die Kraft in Anspruch, es würde anderen Absichten schwer werden, sich durchzusetzen. – Eben so formt ein regelmäßiges Unterlassen den Menschen um: man wird es endlich Jedem ansehn, ob er sich jedes Tags ein paarmal überwunden hat oder immer hat gehn lassen. – Dies ist die erste Folge jeder Handlung, sie baut an uns fort – natürlich auch leiblich“74. H
Die Stärke als Merkmal des Vornehmen resultiert aus einer „innere[n] Kraft“75 und äußert sich in einer „Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit sich“,76 die Nietzsche als „starke[n] Wille[n]“,77 „Selbst-Beherrschung“78 oder „Selbstüberwindung“ bezeichnet. Die „Macht über sich selbst“79 führt dabei zu einer „Weite des Willens“.80
Charakteristisch für die Stärke ist ein Herrschaftsgebilde, das eine „Ganzheit im Vielen“81 darstellt. Eine Vielheit gegensätzlicher Kräfte und Antriebe wird durch den Willen als Resultante ins Gleichgewicht gebracht, gebändigt und zusammengespannt:
Abb. 1: Das Herrschaftsgebilde des starken Willens
Die „Coordination“82 der unterschiedlichen Antriebe unter der Vorherrschaft eines einzelnen, des „Affekt[es] des Befehls“,83 verleiht dem Handeln einen „Schwerpunkt“84 und eine klare präzise Ausrichtung.
Durch die Konzentration auf eine Richtung kann der Starke „viel und vielerlei (…) tragen und auf sich nehmen“,85 seine Verantwortlichkeit weit spannen und besitzt die „Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen“.86 Als Mensch des „eignen unabhängigen langen Willens“87 hat er „gerade die Kraft, das Thun auszuhängen, nicht zu reagiren“,88 um sich nicht von seinen Vorhaben abbringen zu lassen. Diese Fähigkeit bezeichnet der koreanische Philosoph Byung-Chul Han als negative Potenz, „die Potenz, nicht zu tun, (…) Nein zu sagen“.89 Die Stärke der Natur des Vornehmen zeigt sich sowohl „im Abwarten und Aufschieben der Reaktion“,90 als auch im „Gehorchen“91 eigener Befehle. Seine Lust liegt in der „Selbstbezwingung“.92 Durch die Kraft seines Willens hat der Starke „sich selbst im Zaume“93 und besitzt die Fähigkeit zur „Impassibilität“94 und Selbstbeherrschung.
Das Vermögen, nicht unmittelbar reagieren zu müssen, Abstand zu wahren und jenen „mit der Suche nach Gleichgewicht und Mass zu verbinden“,95 bezeichnet Nietzsche als „Pathos der Distanz“.96 In Jenseits von Gut und Böse schreibt er:
„[J]enes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus ‚Mensch‘, die fortgesetzte ‚Selbst-Überwindung des Menschen‘“,97
führt den Starken zur Suche nach Widerständen. Er flieht weder „Mühsal, Härte, Entbehrung“,98 noch das „Leiden“99 und den Schmerz in der Auseinandersetzung mit anderen. Somit „bejaht“100 der Starke die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit.
Hinsichtlich seiner Vergangenheit besitzt der „Überreiche des Willens“101 die „plastische Kraft (…) aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen“102 und was er nicht zu bezwingen vermag „zu vergessen“.103 Das Vermögen, seine „Feinde, seine Unfälle, seine Unthaten selbst nicht lange ernst nehmen“104 zu können, und auf diese Weise eine „Erlösung vom leidvoll Gewesenen“105 zu bewirken, ist durch die Stärke bedingt.
Durch den „Triumph der Überlegenheit über Widerstände“,106 seine „Spontaneität“107 und „Aktivität“,108 weiß sich der Starke „in der Höhe“109 und hat „Ehrfurcht vor sich“.110 Sein „positives Selbstwertgefühl“111 lässt ihn mit „einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit“112 leben und sein Glück darin suchen, „worin Andre ihren Untergang finden würden: im Labyrinth, in der Härte gegen sich und Andre, im Versuch“.113 Da der Starke in dem „Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte“,114 lebt, bezeichnet Nietzsche ihn als „heiterste“115 und „liebenswürdigste“116 Art Mensch.
Wenn Nietzsche harte Kritik an den Schwachen übt, dann meint er nicht die Menschen, die in einer Auseinandersetzung unterliegen. Auch diejenigen, die trotz eines geringen Kraftquantums Widerstände suchen und sich den Herausforderungen des Lebens stellen, schätzt Nietzsche, denn „gut“ ist für ihn alles, was „den Willen zur Macht (…) im Menschen erhöht“.117
„Schlecht“ ist für ihn hingegen, „was aus der Schwäche stammt“,118 d.h. die Haltung schwacher, „ihrer selbst nicht mächtige[r] Charaktere“,119 welche aufgrund einer „Unfähigkeit zum Widerstand“120 die Auseinandersetzung mit der Welt meiden und dem „Prinzip der Selbstüberwindung des Lebens“121 ein Ende bereiten wollen.
Diese Schwäche, die Nietzsche auch als Willenserkrankung definiert, kennzeichnet den Ressentiment-Menschen, dessen gründlichstes Verlangen danach geht, „dass der Krieg, der er ist, einmal ein Ende habe“.122 Sie resultiert aus einer „Disgregation der Antriebe“,123 die zu einem „Mangel[ ] an Selbst-Beherrschung“124 und einem „schwachen Willen“125 führt.I
Die Schwäche wird in einem Herrschaftsgebilde von chaotischer Struktur verkörpert, dem ein „Zentrierungs- oder Einheitspunkt“126 fehlt, um die miteinander kämpfenden gegensätzlichen Kräfte und Triebe zu bündeln und zu ordnen.
Abb. 2: Das Herrschaftsgebilde des schwachen Willens
In Ermangelung einer zentrierenden Instanz, die als Resultante und „Schwergewicht“127 dem anarchischen „Mangel an System“128 entgegenwirken könnte, wird der Schwache von „Einzeltrieben beherrscht“,129 und muss dem jeweils stärksten Antrieb folgen. Im Gegensatz zum Starken, der Herr über seine Affekte ist, wird er von seinen Trieben beherrscht. Durch die geringe Ausprägung oder das Fehlen eines Affekts des Kommandos leidet der Schlechtweggekommene an einer „Disgregation“130 des Wollens und ist empfänglich „für die verschiedensten Reize, die von innen oder von außen an ihn herankommen“.131 Seine „Aktion ist von Grund aus Reaktion“132 und die „Zerstreuung in vielfache Richtung“133 ermüdet ihn. Weil ihm Wollen „eine Mühsal“134 ist, „erdrücken“135 ihn schwere Aufgaben und Lasten, und aufgrund seiner Verfasstheit fehlt ihm der „lange Atem“,136 der für das Erreichen langfristiger Ziele notwendig ist.
Da sein Handeln einem „momentanen Impuls entspringt“,137 gelingt es dem Willenskranken nicht, „zu warten, Reaktionen aufzuschieben“138 und „sich zu mässigen“.139 Er reagiert daher „nie schneller, nie blinder“140 als dann, wenn er gar nicht reagieren sollte, und ist aufgrund der fehlenden inneren Ordnung unfähig zur Selbstbeherrschung. Durch die fehlende negative Potenz schadet „der Schwache (…) sich selber“141 und schwächt seinen „Instinkt der Erhaltung“.142
Da er sich durch dieses „Oscilliren“143 nicht als „einheitliches Ganzes“,144 sondern als eine „Ansammlung von Teilen“145 fühlt, bezeichnet Nietzsche ihn als „Bruchstück[ ]“146 eines Menschen. So lässt er Zarathustra sagen: „Wahrlich, meine Freunde, ich wandle unter den Menschen wie unter den Bruchstücken und Gliedmaassen von Menschen!“147 In „Zerfallenheit mit sich“148 lebend und daher nicht „zur Identität mit sich selber“149 findend, leidet der „Bruchstück-Mensch“150 unter seinem gebrochenen Selbstverhältnis. Die Selbstentfremdung lässt ihn „sich selbst gegenüber eine verneinende Haltung“151 einnehmen, und so wird er zu einem Nihilisten, der „über sich selbst, wie er ist, urteilt, er sollte nicht sein, und über sich, wie er sein sollte, urteilt, er existiert nicht“.152
Nach Gilles Deleuze, der sich immer wieder auf die „Jahrhunderte übergreifende[ ] Einheit Nietzsche-Spinoza“153 beruft, kommen Existenzweisen der Schwäche Enteignungen gleich, die auch die Verbindungen des Einzelnen zur Welt kappen und das Hospital zur Folge haben, „das Hospital schlechthin, d.h. den Ort, wo der Bruder den Bruder nicht kennt und wo sterbende Teile, Fragmente von verstümmelten Menschen völlig abgesondert und beziehungslos nebeneinander existieren“.154 Die daraus resultierende Weltfremdheit führt zu einer Verneinung des Lebens und macht den Schwachen zu einem Menschen, der auch „von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht“.155
Darüber hinaus bedingt die fehlende innere Ordnung eine „Unfähigkeit, Unglücksfälle und Verletzungen zu verarbeiten“.156 Wird ein Teil seines bruchstückhaften und „zerteilten Ich“157 verletzt, so kann der Schwache keinen „Ausgleich durch das Ganze“158 schaffen und läuft Gefahr, „an einem einzigen Erlebniss, an einem einzigen Schmerz, oft zumal an einem einzigen zarten Unrecht, wie an einem ganz kleinen blutigen Risse“159 unheilbar zu verbluten. Da die Schädigung „das ganze Ich in Frage“160 stellt, prägt sie sich ein und vergiftet. Aufgrund seiner Verfasstheit zieht sich der Schwache furchtsam vor der handelnden Auseinandersetzung mit der Welt zurück. Bei seinem Rückzug empfindet er „einen quälenden, heimlichen, unerträglich-werdenden Schmerz“.161 Sein mangelndes Selbstwertgefühl kommt in einem vorläufigen „Sich-verkleinern, Sich-demüthigen“162 zum Ausdruck, bei dem alles Versteckte ihm „als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal“163 erscheint. Er sehnt sich nach einem „passivisch[en]“164 Glück „des Ausruhens, der Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als ‚Sabbat der Sabbate‘“,165 in dem das Lebensprinzip der Selbstüberwindung aufgehoben ist.
Auch wenn der Schwache des Willens zur Macht überdrüssig ist, kann er sich als Lebewesen nicht vom Grundprinzip des Seins befreien. Unfähig, Herr über sich selbst zu werden, versucht er daher entweder, als „Knecht[ ]“166 den fehlenden Affekt des Kommandos in der Außenwelt zu finden, oder als „General“167 Macht über seine nähere Umgebung zu erlangen. Dieses „Klammern an die Macht“168 stellt „den niedrigsten Vermögensgrad“169 des Willens zur Macht dar.
Zum Knecht wird er aus der Ahnung heraus, dass er durch eine „Trennung vom eigenen Vermögen“,170 der „potentia“171 und Selbstüberwindung, äusserer Reize bedarf, „um überhaupt zu agiren“.172 Da er sich nicht „zu befehlen weiss, (…) begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, (…) Arzt, Beichtvater“,173 und so wird er passiv, „fremdbestimmt und abhängig“.174 Um zu vermeiden, stets seinem stärksten Antrieb folgen zu müssen, unterdrückt er die Gesamtheit der eigenen Gefühle und unterwirft sich dem „Du sollst“175 einer Autorität. Schließlich vermag er noch am besten „zu gehorchen, da er im Gehorchen nachgeben kann“.176 Nach Nietzsche wirken sowohl der „absolute Gehorsam“177 als auch die „machinale Thätigkeit“178 als „Erleichterungsmittel“,179 die den Passiven des selbstverantwortlichen Handelns entheben, im Gegenzug jedoch zu einer „Depersonalisierung“180 und Aufgabe der Individualität führen.
Durch die Unterwerfung erlangt auch der Dienende Macht über seinen Herrn, da dieser unter Umständen von den Diensten abhängig wird, und seine Autonomie verliert. So schreibt Nietzsche in Also sprach Zarathustra:
„[N]och im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. (…) Und wo Opferung und Dienste und Liebesblicke sind: auch da ist Wille, Herr zu sein. Auf Schleichwegen schleicht sich da der Schwächere in die Burg und bis in’s Herz dem Mächtigeren – und stiehlt da Macht.“181
Auch der französische Philosoph Alexandre Kojève, der sich mit Hegels Dialektik von Herrn und Knecht auseinandergesetzt hat, verweist auf die heimliche Überlegenheit des Knechtes, der sich und die Welt durch Arbeit „verwandelt“,182 während der untätige Herr in der Lust „verdummt“183 und in seiner existentiellen Sackgasse niemals durch das befriedigt wird, „was ist und was er ist“.184
Ein weiterer Versuch des Sklaven, sich an die Macht zu klammern, besteht darin, in sich einen „General (…) aufkommen“185 zu lassen. Sich anderen Menschen gegenüber zur „zentralen Befehlsinstanz“186 aufzuschwingen, bedeutet nach Gilles Deleuze „Seelendiebstahl, es bedeutet, diese Seelen ins Leiden zu stoßen“.187 Da es beim Befehligen eines anderen nicht notwendig ist, die eigenen Triebe und Affekte unter ein Joch zu spannen, wird das eigene „[N]ichts-thun“188 als Erleichterung empfunden.
„Kommando und Unterwerfung“189 müssen somit als Fehlleitungen des Willens zur Macht und Verhaltensweisen der Schwachen betrachtet werden. Den hohen Preis, der dafür zu entrichten ist, beschreibt Nietzsche mit den folgenden Worten: „Und wie das Kleinere sich dem Grösseren hingiebt, dass es Lust und Macht am Kleinsten habe: also giebt sich auch das Grösste noch hin und setzt um der Macht willen – das Leben dran.“190 In Anlehnung an Nietzsche sieht auch Gilles Deleuze in der Mesalliance von Tyrann und Knecht „den Verrat am Universum und am Menschen, (…) um das Leben (…) auf kleiner oder großer Flamme langsam zu Tode zu martern“.191 Neben der Union von General und Untertan ist auch der „Wille[ ] zur Moral“192 und die damit einhergehende rächerische Umwertung der Werte Ausdruck eines fehlgeleiteten Willens zur Macht.
Durch die Wirklichkeit und das Leben gekränkt, sich jedoch seinem Rachebedürfnis ohnmächtig ausgeliefert und handlungsunfähig fühlend, herrscht im Leben des Schwachen
„ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen“.193
Um Macht über das Leben zu erlangen und seine eigene Existenzweise der Schwäche und Passivität zu rechtfertigen, sucht der Sklave „unwillkürlich“194 und „instinktiv“195 nach einer neuen, ihm dienlichen, Interpretation der Wirklichkeit. Diese beruht auf einem „Nützlichkeits-Calcul“196 und erfordert „berechnende Klugheit“,197 „List“198 und „Verstellung“.199 Mit Hilfe dieser Deutung sollen das Leben und dessen Günstlinge, die Starken und Lebensgeliebten, diffamiert und die eigene moralische Überlegenheit vorgetäuscht werden. Auf diese Weise versucht der Schwache, den „Konflikt mit der Wirklichkeit“200 zu bewältigen und die eigene Situation des Schlechtweggekommenen erträglicher zu machen.
Bei diesem „unterhalb“201 des Bewusstseins ablaufenden und somit nicht dem Willen des Schwachen unterworfenen Vorgang, der noch ausführlich in Kapitel 5.5 analysiert werden soll, wird der unerträgliche Schmerz über die eigene Verfasstheit „durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art“202 anästhesiert und mit Hilfe einer „Affekt-Entladung“203 aus dem Bewusstsein verbannt. Für diesen „Erleichterungs- nämlich Betäubungs-Versuch“204 benötigt der Schwache „zu seinem Leid eine Ursache; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen schuldigen Thäter“,205 sowie „den ersten besten Vorwand“206 für die Artikulation seiner Anschuldigungen und Vorwürfe. Die Wahl des Schuldigen fällt dabei meist auf den Vornehmen.
Nietzsches Vermutung nach liegt in diesem Betäubungsversuch „die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten“.207
Im Rahmen der neuen Sichtweise werden die vom Starken geschaffenen Werte gut und schlecht umgedeutet. Indem der Schwache den Vornehmen als „bösen Feind“208 konzipiert und sich als „Gegenstück nun auch noch einen ‚Guten‘ ausdenkt – sich selbst“,209 wird die Macht des Starken als Zeichen moralischer Verwerflichkeit interpretiert. In diesem Licht erscheinen die aristokratischen Handlungen plötzlich „als ungerecht und zeugen von egoistischer Kurzsichtigkeit, sofern in ihnen die vornehmlich negativen Konsequenzen, die sie für andere haben, nicht gesehen bzw. billigend in Kauf genommen werden“.210 Die als Tugend und Ausdruck moralischer Güte gedeutete Passivität des Schwachen jedoch erfährt eine Aufwertung. Im gleichen Zuge wird auch der Hass des Ohnmächtigen dem Starken gegenüber nicht mehr als negatives und feindliches Gefühl, sondern als „positiv, als eine noble Regung, nämlich als Empören seines Gerechtigkeitsempfindens ausgelegt“.211
Durch die Negation der Werte des Vornehmen wird auch das Prinzip der Selbstüberwindung als Merkmal des Lebens abgewertet. Die Umwertung ist Ausdruck der Empörung der „Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden“212 über die Gesamtheit des Wirklichen und „die ganze Lage des Menschen“,213 die so nicht sein „sollte“.214 Aus Protest werden meist „Zwei-Welten-Lehren“215 entwickelt, um sich in Wunschvorstellungen vom Jenseits oder in ideale, für erduldende und passive Wesen geeignete „Hinterwelten“216 flüchten zu können. Durch die Erhebung der neuen Interpretation zur allgemeinen Wahrheit gibt sich das Ressentiment als hinterlistiger Wille zur Macht zu erkennen. Dieser Vorgang kann als geistige „Notwehr“217 des Schwachen zur „Wiederherstellung“218 seines zerteilten Ichs betrachtet werden.
Nach Nietzsche können die Ursachen der Schwäche „physiologisch[ ]“219 und „psychisch“220 bedingt sein. Auch gesellschaftliche Konditionen, „die ihrerseits schon durch Generationen vermittelt als ‚natürlich‘ erscheinen können“,221 kommen als äthiologische Faktoren in Frage. Gerade die zweitausendjährige Zähmung des Menschen durch das Christentum ließ den Menschen gemäß Nietzsches Analyse zum bequemen Tier werden, das nichts mehr wagen wollte und „seine Werthungsweise durch Vererbung“222 züchtete und weiterpflanzte.
Auch „[u]nsre Meinung über uns“223 baut „an der Gesammtschätzung, die wir von uns haben, ob schwach, stark usw.“:224
„Vielleicht gewöhnt man sich, sich selber zu belügen: die Folge davon, die absichtlich fehlerhafte Taxation und die Verrenkung des Auges, das Falschsehen, muß sich natürlich zuletzt wieder in den Handlungen zeigen. (…) – alle die Affekte der ohnmächtigen Naturen verändern fortwährend auch den Leib.“225
Die Schwäche als Grundverfasstheit des Bruchstück-Menschen soll in den folgenden Kapiteln anhand von zwei Fallbeispielen illustriert werden. Als empirische Studien werden diese durch kursiven Druck gekennzeichnet. In die Analyse fließen auch Hypothesen der aktuellen psychiatrischen Fachliteratur mit ein.