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2.2 Das Ressentiment nach Friedrich Nietzsche

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Als Bewunderer Montaignes hat Nietzsche den Begriff des Ressentiments in seinem Werk Zur Genealogie der Moral aufgegriffen und durch seine Ausführungen in einen „Terminus technicus“1 verwandelt. Seitdem geht der „philosophische[ ] und allgemeine[ ] Wortgebrauch“2 im Deutschen auf Nietzsche zurück.

In Anlehnung an die französische Wortbedeutung nimmt nach Nietzsches Auslegung die Genese des Ressentiments ihren Ausgang in einem Kränkungserlebnis. Sie betrifft vor allem den schwachen, furchtsamen und passiven Durchschnittsmenschen, der ahnt, bei einer Gegenreaktion zu unterliegen. Da ihm aus diesem Grund der Mut zur unmittelbaren Tat und zur Ausführung seines Rachebedürfnisses fehlt, zieht er sich ohnmächtig, empört und indigniert zurück. Unfähig zur Reaktion, bleibt ihm nur das Re-sentiment als Nach- und Wiederfühlen der Kränkung. Das ständige Kreisen um die Beleidigung in der Vergangenheit und das ungestillte Rachebedürfnis verwandeln sein Herz in eine Mördergrube und führen zu einem chronischen Leiden „an giftigen und feindseligen Gefühlen“,3 das durch unweigerlich hinzukommende weitere Kränkungserlebnisse noch verstärkt wird.

Den Prototypen des Ressentimentmenschen bezeichnet Nietzsche nicht nur als „Schwachen“, sondern auch als „Schlechtweggekommenen“4 oder „Sklaven“,5 ein Begriff, der als Metapher und nicht primär vor einem historischen oder soziologischen Hintergrund zu verstehen ist, auch wenn der geschichtliche Bezug sicherlich bei der Begriffsfindung Pate gestanden hat.

Sein Gegenspieler ist der „volle, mit Kraft überladene, folglich nothwendig aktive“6 Mensch, den Nietzsche auch als „Vornehmen“7, „Wohlgeborenen“8, „Glücklichen“9 oder „Starken“10 bezeichnet. Auch dieser ist vor Kränkungen nicht gefeit und den notwendig Schmerz und Leid mit sich bringenden Wechselfällen des Lebens schutzlos ausgesetzt. Statt sich ohnmächtig und handlungsunfähig zurückzuziehen, versucht der Vornehme jedoch, zu kämpfen und sein Rachebedürfnis durch eine Tat abzureagieren. Dadurch erschöpft sich sein Ressentiment in einer sofortigen Entladung und löst sich auf, „es vergiftet darum nicht“.11 Unterliegt er in einer Auseinandersetzung mit der Welt, so akzeptiert er seine Niederlage, ohne dem Leben zu grollen.

Im Gegensatz zu dem das Leben und dessen Bedingungen bejahenden Starken, fühlt sich der Schwache unfähig, Schmerz und Leid zu ertragen. Den Herausforderungen des Lebens ausweichend, sagt er „Nein zu einem ‚Ausserhalb‘“12 und wünscht sich nichts sehnlicher als „Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, ‚Sabbat‘, Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken“.13 Sein Erholungsbedürfnis bleibt jedoch aufgrund der zermürbenden Rachegedanken und den, sich im schmerzlichen Wunsch, „irgend Jemand Anderes“14 zu sein, äußernden Unzufriedenheit mit sich selbst, ungestillt.

Einen Ausweg aus dem Dilemma, der eine Linderung des unerträglichen seelischen Schmerzes verspricht, stellt die Ausbildung der „Sklaven-Moral“15 dar, ein Vorgang, bei dem „das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“.16 Die dabei erforderliche „Umkehrung des werthesetzenden Blicks“17 erfolgt in Form einer „Täuschung und Selbsttäuschung“,18 die in folgenden Schritten verläuft:

Der Schlechtweggekommene sucht die Ursache des unerträglichen Schmerzes nicht in seiner eigenen Verfasstheit, sondern bei einem „schuldigen Thäter“19 in der Außenwelt. Dabei ist „der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu“.20 Mit Vorliebe beschuldigt er den Starken, den er tief in seinem Herzen beneidet.

Ähnlich wie in Äsops Fabel vom Fuchs und den Trauben, erfolgt daraufhin die rächerische Herabsetzung des vermeintlich Schuldigen durch eine auf einer Täuschung und Selbsttäuschung beruhenden Umkehrung der Werte. Da die Trauben für den Fuchs zu hoch hängen, urteilt der durch diesen Sachverhalt Beleidigte nämlich, dass die Früchte unreif und sauer seien, und dass es weise sei, sie zu verschmähen. Durch diese Wertung werden die schmackhaften Trauben und diejenigen, die in ihren Genuss kommen, schlecht gemacht. Ohnmacht, Passivität und Handlungsunfähigkeit hingegen werden fälschlicherweise als willentliche Entscheidungen und Tugenden dargestellt. Dabei wird die „Schwäche (…) zum Verdienste umgelogen (…), die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ‚Güte‘; die ängstliche Niedrigkeit zur ‚Demuth‘; die Unterwerfung, vor Denen, die man hasst, zum ‚Gehorsam‘“.21 Die Selbsttäuschung ist nach Ludwig Klages, ähnlich wie der Gebrauch von Betäubungsmitteln, dem „Narkosetrieb“22 eng verwandt, der auf „Veränderung der Gegenstände des Bewußtseins abziele und, alles in allem genommen, die Flucht aus der Wirklichkeit der Dinge in die Wirklichkeit der Träume anstrebe“.23

Auf diesem Wege führt der Geist der Rache, bei dem die Werte der Schlechtweggekommenen erhöht und die Werte der „vornehme[n] Moral“24 herabgezogen werden, zur Entstehung der Sklavenmoral. Diese ist als Gegenentwurf zu der ursprünglichen, „am Vorbild des Lebens“25 orientierten, vornehmen Wertungsweise zu verstehen, nach deren Maßstab schmackhafte Trauben als gut gelten.

Bei der Werttäuschung werden die Begriffe gut und schlecht nicht einfach ausgetauscht, sondern der „‚Gute‘ der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment“26 und als „böse[r] Feind“27 konzipiert. Als „Guten“28 stellt sich der Schwache selbst dar. Der Maßstab der Moralbegriffe gut und böse ist dabei nicht die Wirklichkeit, sondern die Idealvorstellung des Schwachen als „absolute Negation des Realen“.29 Dieser Negation liegt der Anspruch zugrunde, dass die Wirklichkeit nicht so sein soll, wie sie tatsächlich ist.

Da bei dieser Umwertung keine sichtbare Handlung vollzogen wird, bezeichnet Nietzsche die Entwicklung der Sklavenmoral als „imaginäre Rache“.30 Als „schöpferische That“31 des Ressentimentmenschen ermöglicht sie eine zeitweilige Betäubung des Schmerzes durch den „wilden Affekt“32 der Rache. Schließlich vermindert sich durch die Detraktion des Objekts der Begierde „die Spannung zwischen der Stärke des Begehrens und der erlebten Ohnmacht; und die an sie geknüpfte Unlust sinkt dem Grade nach“.33 Durch die Diffamierung des Starken als böse will der Schwache „gar nicht mehr so sein wie der Mächtige, weil das entscheidende Kriterium, das im Leben rechnet, nicht mehr die Macht, sondern die moralische Güte ist“.34 Dem Übeltäter gegenüber kann er sich von nun an moralisch überlegen fühlen.

Um ihre volle Wirkung zu entfalten, beansprucht die Sklavenmoral Allgemeingültigkeit und wird nicht als eine Wahrheit, sondern als die Wahrheit dargestellt. Dazu ist ein „Akt des Vergessens“35 erforderlich, bei dem der Schwache aus seinem Gedächtnis streichen muss, „dass auch die Sklavenmoral nur eine Setzung ist“.36 Die erneut auf einer Selbsttäuschung beruhende Beanspruchung absoluter Geltung zielt darauf ab, letztendlich auch die Starken zu unterwerfen, und kann daher auch als „hintersinniger und hinterlistiger Wille zur Macht“37 der Schlechtweggekommenen betrachtet werden. Diese triumphieren erst, sobald auch die Starken die Trauben verschmähen. Glaubt auch der Starke an die Werte des Schwachen, gibt er seine genuine Aktivität freiwillig zugunsten des „Ideal[s] der Passivität“38 auf und distanziert sich von seinen ursprünglichen, „im Takt des Lebens“39 schlagenden, vornehmen Werten.

Das Leiden des Ressentimentmenschen kann durch die imaginäre Rache jedoch nicht beseitigt, sondern nur gemildert werden. So bezeichnet Nietzsche die Schwachen als „Kellerthiere voll Rache und Hass“,40 in deren Inneren das Ressentiment beständig anwächst, und schreibt: „Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm bei einander hocken.“41 Schließlich ist die Sklavenmoral nicht mehr als ein „feinster, geistreichster, lügenreichster Artisten-Griff“,42 mit dem „der Klingklang, der Goldklang der Tugend“43 nur nachgemacht werden kann. Da die Herde der Schlechtweggekommenen zudem immer wieder „Lebensgeliebten“44 und Glücklichen begegnet, die sich der Sklavenmoral noch nicht unterworfen haben, wird ihnen das eigene Unglück, die „Hemmung und Ermüdung“45 stets aufs Neue bewusst. Dadurch entsteht ein Lebensüberdruss, der sich „mit dem Wunsche nach dem ‚Ende‘“46 verbindet.

Bei der Entschärfung des die Herde bedrohenden Ressentiments spielt der selbst vom Gift der Rache durchdrungene asketische Priester eine Schlüsselrolle. Mit dem Typus des Schwachen eng verwandt, unterscheidet er sich von diesem durch sein „seelisches Vorrangsgefühl“47 und seinen ungebrochenen Willen zur Macht. Als Hirt und Heiland der kranken Herde, „in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das Ressentiment, sich beständig häuft und häuft“,48 vollbringt er das lebenserhaltende Kunststück der Auslegung des Leidens im Rahmen einer Theorie, dem sogenannten „asketischen Ideal“. Indem er dem Leben und dem Schmerz einen Sinn verleiht und dadurch die Leidensbereitschaft der Schwachen erhöht, gehört der „asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende, – er gerade gehört zu den ganz grossen conservirenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens“.49 Einen Sinn verleiht er dem Leiden, indem er es unter die Perspektive der Schuld stellt und somit die „Richtung des Ressentiment“50 verändert. Durch diese Richtungsumkehrung, die in Kapitel 5.4 ausführlich erörtert werden soll, kann er die Selbstzerstörung der Herde abwenden.

Im asketischen Ideal, das von den Werten der Sklavenmoral durchdrungen ist, wird die Passivität zum höchsten Wert erhoben. Gleichzeitig entwirft der asketische Priester eine leidfreie metaphysische „Hinterwelt“,51 in welcher diejenigen, die seinen Vorgaben folgen, Erlösung finden. Im Christentum handelt es sich dabei um das „Anderswo“52 des Paradieses, in das der leidende Sünder nach seinem Tode einziehen kann, sofern er ein passives, demütiges und gottgefälliges Leben gelebt hat.

Durch die Jahrhunderte währende Herrschaft des Christentums konsolidiert, hat die Sklavenmoral nach Nietzsche im Abendland ihren Siegeszug angetreten und zur Rechtfertigung der Existenzweise des „letzten Menschen“53 beigetragen, der die Passivität, Bequemlichkeit und das Vergnügen zu den höchsten Werten erhebt. In diesem Menschentypus, dessen „Anblick (…) müde“54 macht, erkennt Nietzsche das „Verhängniss Europa’s“.55

Das Vorliegen von Ressentiment ist am Grad der Unzufriedenheit eines Menschen zu erkennen. Es wird in dem Maße deutlich, wie der Mensch „von der Welt, wie sie ist, urtheilt, sie sollte nicht sein und von der Welt, wie sie sein sollte, urtheilt, sie existirt nicht“.56 Nicht nur das nihilistische Nein zur Welt, sondern auch ein negatives Selbsturteil kann als Ressentimentindikator betrachtet werden, und liegt bei einem Menschen vor, der „über sich selbst, wie er ist, urteilt, er sollte nicht sein, und über sich, wie er sein sollte, urteilt, er existiert nicht“.57 Auch die Suche nach Schuldigen und das Bedürfnis, über andere schlecht zu reden, können als untrügliche Zeichen für eine ressentimentinduzierte Vergiftung betrachtet werden. Neben den immer wieder erkennbaren Herabsetzungsbedürfnissen sind auch Bitterkeit, Klagen, Jammern und Missgunst Hinweise auf das Vorliegen von Ressentiment. Auch übellaunige Unmutverbreiter, die „als leibhafte Vorwürfe“58 unter uns wandeln und immer bereit sind, „Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht“,59 gehören eindeutig zu den Menschen des Ressentiments.

Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven

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