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5. Angewandte Philosophie: Die „Verstimmten“ und das Ressentiment

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Beim Blick auf die Verstimmten durch eine Ressentimentphänomene erfassende Linse des Sprachspielmikroskops, scheinen diese tatsächlich in besonderer Weise Merkmale der von Nietzsche beschriebenen „Schlechtweggekommenen“ oder „Schwachen“ zu tragen. Auf die gleichen Menschen blickend, wie die Benutzer traditioneller Linsen des psychiatrischen Sprachspiels, wählen die philosophischen Versucher jedoch eine andere Interpretation für die Befindlichkeit der „Angestrengten und um sich selbst Besorgten“.1 Statt pathologische „Entitäten“ zu erkennen, entdecken sie hinter vielen Verhaltensweisen die facettenreichen Manifestationen des allgemeinmenschlichen Ressentiments.

Die Genese des Ressentiments, die in der Entwicklung der Sklavenmoral gipfelt, verläuft stets in mehreren Schritten. Der Philosoph Amandus Altmann hat versucht, „die deutlichsten Strukturmomente der Moral“2 in der zeitlichen Reihenfolge ihres Erscheinens herauszuarbeiten, dabei aber auch darauf hingewiesen, dass „mehrere Momente gleichzeitig in Erscheinung treten“3 können. In der Schwäche ihren Ausgang nehmend, folgen gemäß Altmann unter anderem die Zeitumkehrung, die Müdigkeit, die Reaktivität und schließlich die Suche nach einem schuldigen Täter.

Bei der Beschäftigung mit Altmanns Strukturmomenten wurde deutlich, dass zwischen den, die jeweiligen Phasen der Ressentimententwicklung bestimmenden, Merkmalen des Sklaven und der Kardinalsymptomatik der im herrschenden Diskurs verwendeten psychiatrischen Krankheitsbilder eindeutige Parallelen gezogen werden können. So wird beispielsweise das „ADHS-Syndrom“ vor allem durch das Strukturmoment der Schwäche, die „Posttraumatische Belastungsstörung“ durch Phänomene der Zeitumkehrung charakterisiert. Ergänzt man die Strukturmomente um zwei von Altmann unberücksichtigte Aspekte, nämlich das von Scheler hervorgehobene Phänomen der Furchtsamkeit, sowie den von Nietzsche und Sloterdijk beschriebenen depressiven Affekt, so scheint das Gesamtspektrum der im ICD-10 zusammengefassten „psychischen Störungen“ abgedeckt zu sein.

Auf der Grundlage dieser Beobachtungen entstand die erste Hauptthese der vorliegenden Untersuchung, die einen Zusammenhang zwischen dem Ressentiment und den sogenannten „psychischen Krankheiten“ annimmt. Sie besteht in einer Betrachtung der klassischen psychiatrischen Krankheitsbilder als Ausprägungen und Zuspitzungen unterschiedlicher Phasen der Ressentimentwicklung.

Wie im Folgenden anhand mehrerer Fallbeispiele aus meiner beruflichen Praxis gezeigt werden soll, lässt sich diese Hypothese nicht nur durch empirische Beobachtungen, sondern auch mit Hilfe aktueller psychiatrischer Fachliteratur, wie z.B. den Schriften Marsha Linehans, Manfred Spitzers, Stavros Mentzos oder Alain Ehrenbergs stützen. Die von Psychiatern und Psychologen verwendeten diagnostischen Begriffe werden im Rahmen der vorliegenden Studie vor dem Hintergrund der Wittgensteinschen Sprachspieltheorie jedoch nicht als Hinweis auf Wesenheiten, sondern lediglich als Arbeitshypothesen verwendet.

In jedem der folgenden Praxisbeispiele, in denen die Personen und ihre Lebensgeschichte aus Gründen der Schweigepflicht verfremdet und unkenntlich gemacht worden sind, soll der Schwerpunkt auf einem besonderen Strukturmoment liegen. Um die komplexe Lebenssituation der Verstimmten verständlich darstellen zu können, müssen jedoch mitunter auch andere Strukturmomente Erwähnung finden. So verweist auch Altmann darauf, dass jedes Strukturmoment Teil eines Gesamtzusammenhangs ist, und keine „allgemeinste, einfache Einheit, sondern bereits ein komplexes Gefüge“4 darstellt.

Da mit dem Ressentiment Hass, Rachsucht und Giftigkeit ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken, lösen Untersuchungen dieser Art beim Leser nolens volens Widerwillen aus. Auch Nietzsches scharfzüngige Darstellung des Ressentimentmenschen kann wahrlich nicht als wohlwollende Charakterstudie bezeichnet werden. Aufgrund mancher schillernder Zitate mag der Eindruck entstehen, dass die dargestellten Sorgen-Kinder in schlechtem Licht dargestellt werden sollen. Dies ist, und darauf soll an dieser Stelle ausdrücklich hingewiesen werden, keineswegs der Fall. Schließlich bezieht sich Nietzsches Ressentimenttheorie auf die modernen Durchschnittsmenschen, die das „menschheitliche[ ] Hauptfeld[ ]“5 konstituieren. Sie alle sind Menschen des Ressentiments, und so liegt es den mit der Lehre des Ressentiments vertrauten Beratern fern, sich über ihre Mitmenschen zu erheben.

Gerade die Solidarität mit anderen Verstimmten begründet den Unterschied zum herrschenden psychiatrischen Sprachspiel, in dem die Professionellen sich als „Gesunde“ ausgeben und dadurch Hierarchien herstellen.

Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven

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