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3.3.1 Sprachspiele zum Begriff „psychische Krankheit“

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Im Mittelalter galten einige der Menschen, die heute als „psychisch Kranke“ bezeichnet werden, als vom Teufel besessen. Da die Besessenheit häufig als Strafe Gottes angesehen wurde, nahm das Objektiv des Sprachspielmikroskops eine religiöse Färbung an. Die Praxiszusammenhänge, mit denen dieses Sprachspiel verwoben war, gipfelten in Hexenverbrennungen, Exorzismen und Verfolgungen im Namen der Inquisition.

Andere als „wahnsinnig“ Geltende wurden im Mittelalter aus ihren Städten vertrieben. In seinem ersten Kapitel des Buches Wahnsinn und Gesellschaft beschreibt Michel Foucault, wie Schiffern der Auftrag erteilt wurde, die verhaltensauffälligen und von der Norm abweichenden Menschen mitzunehmen, und in einer fremden Stadt wieder von Bord gehen zu lassen. Abbildungen sogenannter Narrenschiffe findet man in zeitgenössischen Gemälden und Holzschnitten. Dieses Sprachspiel zielte darauf ab, Menschen aus der Gesellschaft auszuschließen. Ein weiteres Sprachspiel des Ausschlusses war die Internierung der Irren in „Tollkoben“,1 „Narrentürmen“,2 Asylen oder Hospizen, in denen meist sehr schlechte hygienische Verhältnisse herrschten, und die Insassen angekettet waren. Bei ihrer Internierung wurden die „Irren“ als homogene Kategorie mit „Libertins, Verschwendern, Müßiggängern, Epileptikern, Bettlern, Verbrechern, Armen und Geschlechtskranken“3 betrachtet. Die Linse des Sprachspielmikroskops war eine normative, da sie auf die Aussonderung von Elementen, „die Chaos verursachten“,4 ausgerichtet war.

Gegen Ende des Mittelalters wurde der „Wahnsinn“ nicht mehr als Strafe Gottes, sondern als charakterlicher Defekt des Betroffenen betrachtet. Den Narren und anderen verhaltensauffälligen Menschen, die nun eine moralische Beurteilung erfuhren, wurden Lasterhaftigkeit, Unvernunft und Unmoral zur Last gelegt. In den Internierungsanstalten wurden daher Sanktionen durchgeführt, „die darauf abzielten, Verhalten und Benehmen des Kranken zu korrigieren“.5

Im Zuge der Aufklärung begann man, die sogenannten Wahnsinnigen als „psychisch Kranke“ zu betrachten.6 Die Perspektive, aus der man sich diesen Menschen näherte, war nun eine medizinische. Von diesem Zeitpunkt an verbesserten sich die Lebensumstände der Betroffenen deutlich. Heute gibt es in modernen deutschen Psychiatrien eine gute Grundversorgung und ein breit gefächertes Therapieangebot. Diverse pharmakologische und psychologische Therapierichtungen eröffnen in diesem medizinischen Rahmen eigene therapeutische Sprachspiele. Praxiszusammenhänge, die zum aktuellen Zeitpunkt mit dem Begriff „psychisch krank“ verwoben sein können, bestehen in der Vergabe einer Diagnose aus dem ICD-10, der Verschreibung von Psychopharmaka und der Überweisung in ambulante therapeutische Praxen. Bei „chronisch psychisch Kranken“ erfolgt häufig die Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung, die Beantragung einer Maßnahme des Ambulanten Betreuten Wohnens oder die Aufnahme in eine Tagesstätte, in der tagesstrukturierende Angebote, wie Spiel-, Koch- oder Gesprächsgruppen stattfinden. Die meisten „chronisch psychisch Kranken“ werden als erwerbsunfähig eingestuft. Durch die Bezeichnung „psychisch krank“ finden die Patienten einen gesellschaftlich anerkannten Schonraum und übernehmen eine bestimmte soziale Rolle. Nur so kann gemäß Andreas Heinz der „Schutz des Krankenstatus“7 gewährleistet werden.

Trotz einer deutlichen Verbesserung der Behandlungsbedingungen „psychisch kranker“ Menschen gelten psychiatrische Einrichtungen immer noch traditionell als Institutionen des, wenn auch subtilen, Ausschlusses. Ein Psychiatrieaufenthalt bringt daher immer eine Stigmatisierung der Betroffenen mit sich.D Aus diesem Grund versuchen viele Psychiatriepatienten, ihren ehemaligen Klinikaufenthalt vor ihren Mitmenschen zu verbergen. Da Begriffe wie „Meisenburg“, „Ballerburg“, „Klapsmühle“, „Psycho“, „Alki“ oder „Schizo“ im Wortfeld der „psychischen Krankheit“ kursieren, befürchten die Psychiatriepatienten leider zu Recht, gemieden zu werden. Müssen die Betroffenen einmal einen offiziellen Lebenslauf verfassen, so bemühen sie sich, die Zeiten des Klinikaufenthalts durch falsche Angaben zu dissimulieren.

Einen Beitrag zur Stigmatisierung leisten auch mediale Sprachspiele. So werden in der sonntäglichen Krimiserie „Tatort“ in unregelmäßigen Abständen „psychisch Kranke“ als Täter entlarvt. Häufig sind diese Folgen besonders spannend, da die grausamen Morde schillernd inszeniert werden und die Denk- und Verhaltensmuster der Mörder stark von der Norm abweichen. Die Linse des Sprachspielmikroskops ist dabei eine selektiv-reißerische, da Randphänomene des Feldes „psychischer Krankheit“ cinematographisch aufbereitet und inszeniert werden. Durch diese Form der Mediatisierung werden bereits bestehende Vorurteile der „normalen“ Bevölkerung vermutlich verstärkt.

Genetisch-deterministische Sprachspiele, in denen behauptet wird, dass „psychische Krankheit“ nicht heilbar sei, können in letzter Konsequenz zu Forderungen nach einer lebenslangen Sicherheitsverwahrung „psychisch kranker“ Straftäter führen.E

Exemplarisch für ein nichtstigmatisierendes philosophisches Sprachspiel, das durch seine Luzidität und Praxisrelevanz besticht, steht der Ansatz Peter Sloterdijks. In seinem Aufsatz Wozu Drogen? Zur Dialektik von Weltflucht und Weltsucht schlägt er einen „religionsphilosophischen Begriff der Sucht“8 vor, eine psychiatrische Diagnose, die bis Ende der sechziger Jahre in Deutschland noch nicht als „Krankheit“9 galt.F

Sloterdijk beschreibt, wie in früheren Zeitaltern der ritualisierte Gebrauch sakraler Drogen Menschen das Gefühl gab, ein Klangkörper für göttliche Mächte zu sein. Gestärkt durch rituelle Halterungen konnten sie in rauschhaften Zuständen an der „Integrität der Welt“10 teilhaben.

In der entgötterten Welt der Neuzeit entfielen die rituellen Strukturen, und einige Menschen traten durch den Gebrauch von Drogen in eine direkte Beziehung zu einer Substanz, die stärker war, als sie selbst. Da sie schnell ihren Willen an die berauschenden Agentien verloren, spricht Sloterdijk von einer „Sogumkehrung“11. In dem „Hunger nach Überwältigung“12 sieht er ein Verlangen nach der Befreiung vom Existenzzwang, ein Nein zur Welt und den Wunsch nach Erlösung. Nach Sloterdijk fehlt den Süchtigen häufig ein Zugang zur Sphäre der Inexistentialität, in der es nicht um Weltflucht, sondern um „Negation von ichhaften Spannungen“13 geht. Die buddhistische Lehre ist seines Erachtens eine Möglichkeit des Zugangs zum Nicht-Sein, und kann zur Regeneration der menschlichen Kräfte beitragen. Die Droge hingegen bietet nur ein vorübergehendes Gefühl der chemischen Weltlosigkeit.

Nach Sloterdijk ist ein Entzug möglich, wenn die Betroffenen die Seinsweise des Inexistentialismus kennenlernen, Ja zur Realität sagen, die Nachteile des Lebens auf sich nehmen und eine Weltfreundschaft entwickeln, die sich „am Faden der Sympathien vorantastet“.14 Als Philosophen und Therapeuten können sich diejenigen bewähren, die „aus der Tiefe des Mitwissens“15 um das Dasein und sein Gegenteil Fäden der Sympathien zu knüpfen wissen.

Philosophische Therapeutik ist somit nach Sloterdijk eine „Schule des Seinsund-Nicht-Seins“.16 Dogmatische Existentialisten, die ihre Klienten emotionslos zurück an die Fronten des Realen schicken, können seines Erachtens therapeutisch nur scheitern.

Eine weitere überzeugende philosophische Herangehensweise an das Phänomen der „psychischen Krankheit“ Sucht illustriert der Philosoph Dietmar Kamper in seinem Aufsatz Rauschfähigkeit – Die Balance des Glücks.

In diesem definiert er Nüchternheit als „Form des ‚Nichtglücks‘, aber als solches Grundlage für Normalität, Kontinuität, Identität“17 und somit als wichtigen Bezugspunkt des Menschen. Ähnlich wie Sloterdijk charakterisiert er jedoch den Zustand der permanenten Nüchternheit als „Gegenwart ohne Abwesenheit“18, der dem Menschen eine solche Anstrengung abverlangt, dass er sich „dauernd am Rande des Absturzes“19 befindet. Kehrseite und Gegenpol der Nüchternheit stellen nach Kamper die Sucht und der Rausch als Formen des Glücks dar.20 Während die Sucht jedoch zu einem „Greuel der Verwüstung“21 und zur „Abwesenheit ohne Gegenwart“22 führt, bedingt die Rauschfähigkeit als rhythmischer „Wechsel von Dasein und Wegsein, von Gegenwart und Abwesenheit“23 das „Glück der Sterblichkeit“.24

Kamper postuliert, dass der Verlust von Rauschfähigkeit und die Verurteilung zu ständiger Nüchternheit Menschen süchtig mache. Am „Perfektionswahn[ ]“,25 den er sowohl in verordneter Nüchternheit als auch in Sucht und Suchttherapie verortet, übt er praktische Kritik, indem er die Rauschfähigkeit der dionysischen Imperfektion als Lebensmaxime und Therapieziel empfiehlt.

Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven

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